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Dieser Beitrag beruht auf einem Vortrag, den Simon Pirani am 26. März in Brüssel auf der Konferenz Solidarität mit der Ukraine bei der Podiumsdiskussion zum Thema „What Peace?“ gehalten hat.
Die Frage „Was für ein Frieden?“ ist bewusst weit gefasst. Um sie konkreter zu machen, können wir fragen: Welche Art von Frieden wird innerhalb der ukrainischen Gesellschaft diskutiert?
Unser Genosse Denys Pilash, Mitglied von Sozialnyj Ruch, hat in einem Interview zu den Gesprächen zwischen Trump und Putin und den Aussichten auf eine Einigung gesagt: „Die Ukrainer:innen haben also zwei Dinge im Sinn, wenn sie über eine Einigung nachdenken: das Schicksal der Menschen in den besetzten Gebieten und die Frage, wie verhindert werden kann, dass Russland den Krieg wieder aufflammen lässt.“
Diese beiden Punkte könnten den Rahmen für künftige Vereinbarungen bilden, so seine Einschätzung. Denys verwies auf die Haltung der ukrainischen Regierung, die die illegalen Annexionen nicht anerkennen, wohl aber einen Waffenstillstand mit anschließenden Verhandlungen akzeptieren wird.
Zu Sicherheitsgarantien argumentierte er, eine NATO-Mitgliedschaft sei nicht nur problematisch, sondern auch wenig wahrscheinlich. Aber „Sicherheitsgarantien unter Einbeziehung zentraler Akteur:innen werden nötig sein, um sicherzustellen, dass Russland nicht erneut einmarschiert.“
Das wirft die grundsätzliche Frage auf: Wer kann Sicherheit garantieren für wen und wie? Um diese Fragen sinnvoll zu beantworten, müssen wir größere Zusammenhänge betrachten. Im Folgenden möchte ich vier thematische Schwerpunkte diskutieren.
1. Autoritarismus versus Demokratie
Für viele Ukrainer:innen hat der Krieg die existenzielle Frage gestellt: entweder unter Putins autoritärer Herrschaft oder in einer demokratischen Gesellschaft, wenn auch mit gravierenden Mängeln, leben. Die Antwort war klar: entschlossener Widerstand der Zivilgesellschaft gegen die Invasion.
Doch ist es zutreffend, diesen Widerstand als Teil eines globalen Kampfes zwischen Autoritarismus und Demokratie zu interpretieren? Ich denke, das wäre eine problematische Rahmung.
Die westeuropäischen Mächte einschließlich dem Vereinigten Königreich, die der Ukraine nach dem politischen Kurswechsel der USA nun Unterstützung zusagen, gehören zu den größten Feind:innen von Demokratie und demokratischen Rechten. Nicht wegen ihrer inneren politischen Systeme, in denen wertvolle demokratische Rechte und Freiheiten fortbestehen, die durch frühere Kämpfe errungen worden sind. Doch wegen ihrer Unterstützung für üble Diktator:innen, die international die Interessen des Kapitals sichern.
Sie haben vor und nach 2014 auf eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit dem Putin-Regime gehofft – trotz Tschetschenien, trotz Syrien – und ihre Auffassungen erst 2022 geändert. Die deutlichste Erinnerung an die wahre Haltung dieser Mächte zu Demokratie und Menschenrechten liefert aktuell Gaza. Trotz 15 Monaten offenkundiger Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit, die von einer rechtsextremen israelischen Regierung und Fast-Faschist:innen tagtäglich begangen werden, unterstützen sie weiter Israels Vorgehen und liefern weiter Waffen.
Unverhältnismäßige Angriffe auf Zivilist:innen, gezielte Blockade von Nahrung und medizinischer Hilfe, Bombardierung ziviler Infrastruktur, offene Aufrufe zu ethnischer Säuberung von israelischen Minister:innen – all das sind Kriegsverbrechen. Westliche Regierungen liefern dennoch Waffen und verfolgen eigene Bürger:innen, die dagegen protestieren.
Heißt das, dass wir uns gegen die Unterstützung stellen sollten, die die Ukrainer:innen, die Widerstand gegen die russische Aggression leisten, von dem Völkermord-Helfershelfer Keir Starmer oder der Fast-Faschistin Giorgia Meloni erhalten? Nein. Aber wir sollten die Augen aufhalten und überlegen, was deren Beweggründe sind.
Ihre Behauptungen, sie würden den Autoritarismus bekämpfen, sind heuchlerische Lügen. Führende ukrainische Politiker:innen sind ebenfalls schuldhaft: Sie haben die Gelegenheit genutzt, die der Krieg bietet, um demokratische und soziale Rechte einzuschränken.
Wir sollten auch die Vorstellungen der führenden europäischen Politiker:innen von „Sicherheit“ in Frage stellen. Ich denke, sie meinen damit Sicherheit für das Kapital und dessen Machtverhältnisse. Dieselbe „Sicherheit“, die ihrer mörderischen und rassistischen Politik gegenüber Migrant:innen zugrunde liegt. Für uns heißt Sicherheit: Sicherheit für Menschen. Dies sind unterschiedliche, ja entgegengesetzte Dinge. Wir müssen dazu unsere eigene kollektiv Position entwickeln.
Die Arbeiter:innenbewegung und soziale Bewegungen brauchen ein unabhängiges Programm, um Solidarität mit der Ukraine zu organisieren.
Unsere Generation ist nicht die erste, die sich mit der Frage von begrenzten Bündnissen mit unseren Klassenfeind:innen konfrontiert sieht. Wir sollten uns gemeinsam mit den Beispielen des Widerstands gegen die Nazi-Besatzungsregimes während des Zweiten Weltkriegs befassen. Vielfach, in Griechenland, auf dem Balkan, Frankreich oder anderswo wurde der Widerstand vorwiegend über die Arbeiter:innenbewegung organisiert. Dieser hat aber neben und in einem ständigen Spannungsverhältnis mit bürgerlichen Exilregierungen, die von Britannien und anderen westlichen Mächten unterstützt wurden, gehandelt.
2. Aufrüstung
Nach der Kehrtwende in der US-amerikanischen Politik haben die europäischen Mächte langfristig angelegte Aufrüstungsprogramme beschlossen, also massive staatliche Investitionen in die Rüstungsindustrie.
Wir dürfen diese Programme nicht bejubeln. Es ist nicht nötig, diese Programme zu billigen, auch wenn wir die Lieferung von Waffen und Munition, die die Ukraine benötigt, durch westeuropäische Staaten politisch unterstützen. Wir können nichtstaatliche Akteur:innen in der Ukraine unterstützen – medizinische Freiwillige, zivilgesellschaftliche Gruppen, die dem Militär zuarbeiten, usf. –, ohne dass wir den Strategien der herrschenden Klassen zustimmen.
Der sozialistische Journalist Owen Jones hat vor kurzem im Guardian geschrieben: Die „Verteidigungsausgaben müssen gründlich geprüft werden“. Dem stimme ich zu.
Owen Jones weist darauf hin, dass „ein erheblicher Anteil“ der Verteidigungsausgaben des UK in Trident-Atomraketen fließt, die für den Ukraine-Krieg irrelevant sind. Zudem seien Milliarden für Flugzeugträger und Ajax-Panzerfahrzeuge ausgegeben worden, die von Militärexpert:innen als nutzlos eingeschätzt werden. Darüber hinaus hat die britische Regierung die Aufrüstung von massiven Kürzungen bei anderen staatlichen Ausgaben abhängig gemacht.
Das ist die übliche neoliberale Scheinwahl: Unterstützung für die Ukraine oder Geld für öffentliche Dienste. Diese Scheinalternative wird von den Mainstream-Politiker:innen aufgemacht, und die pro-Putin-extreme Rechte stimmt ein.
Wir müssen dem entgegentreten. Setzen wir uns für eine breite Unterstützung unserer Forderung nach einem Schuldenerlass für die Ukraine ein; verlangen wir die Konfiszierung eingefrorener russischer Vermögen, die die europäischen Instanzen im Laufe des Jahres wahrscheinlich zurückgeben werden; fordern wir die Beendigung der Waffenlieferungen an Israel; besteuern wir die Reichen, damit öffentliche Dienstleistungen finanziert werden können.
3. Die russische Bedrohung
Um unseren Ansatz zu diesen Fragen zu entwickeln, müssen wir die Art der russischen Bedrohung korrekt einschätzen. Für unsere Freund:innen in der Ukraine und im Baltikum ist sie unmittelbar gegeben. Wir sollten sie ernst nehmen.
Wir müssen auch abschätzen, inwieweit Europa einer größeren Bedrohung durch russische Militäraktionen ausgesetzt ist.
Es gibt einen Teil der Meinungsmacher:innen des Establishments, der die gegenwärtige Situation mit 1938 vergleicht und davor warnt, Appeasement gegenüber Putin werde zu einem umfassenden Krieg führen. Das entspricht zu einem gewissen Grad der Aufrüstungspolitik.
Daran zweifle ich. Nachdem Russland seine Streitkräfte drei Jahre lang in der Ukraine konzentriert hat, ist es nicht nur bei der Einnahme von Kyjiw gescheitert, es hat auch nur ein Fünftel des ukrainischen Territoriums erobert, und das zu einem enormen Preis. Hinzukommt dass es seinen engsten Verbündeten im Nahen Osten, Baschar al-Assad, im Stich ließ.
Gleichzeitig sehen wir in Osteuropa eine Stärkung von sozialen Bewegungen gegen Putin-nahe Regime, etwa in der Slowakei, Serbien und Ungarn.
Wir müssen uns nicht nur fragen, ob der Kreml, getrieben von einem gestörten Nationalismus, Angriffe auf den Westen Russlands durchführen will, sondern auch, inwieweit er dazu fähig ist. Vielleicht ist es wahrscheinlicher, dass er Cyberkriegsführung, Sabotage auf niedriger Ebene und natürlich Unterstützung für rechtsextreme Parteien in Europa einsetzt.
Ich habe keine Antworten auf diese Fragen. Aber wenn wir sie nicht diskutieren, werden wir keine wirksamen Strategien zustande bringen.
4. Was können die Arbeiter:innenbewegung und sozialen Bewegungen konkret tun?
Ich hoffe, auf dieser Konferenz werden wir nicht nur diskutieren, was Regierungen tun können oder werden – unser Einfluss auf sie, der Einfluss der Zivilgesellschaft ist stets begrenzt –, sondern auch, was wir unabhängig von den Regierungen tun können.
Natürlich müssen wir die Unterstützung für den ukrainischen Widerstand mit dem Kampf für soziale Gerechtigkeit, gegen migrant:innenfeindliche Politik und für wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel verbinden. Diese Argumente kennen alle, die hier sind.
Darüber hinaus möchte ich nur einen Punkt ansprechen. Vergleichen wir die Demonstrationen gegen die Unterstützung der Ukraine – an denen im Vereinigten Königreich ein oder zweihundert Campist:innen, Stalinist:innen und Spinner:innen teilnehmen – mit den Demonstrationen gegen den israelischen Völkermord, an denen im Vereinigten Königreich regelmäßig hunderttausende Menschen teilnehmen.
Wenn wir zu diesen Demonstrationen mit einem Transparent gehen, auf dem „From Ukraine to Palestine, Occupation is a Crime“ steht, treffen wir auf große Zustimmung.
Diese Menschenmassen sind überwiegend jung, sie hoffen auf eine bessere Zukunft – ohne Krieg, Unterdrückung und Klimakatastrophe. Mit ihnen gemeinsame Sache zu machen, ist von entscheidender Bedeutung, wenn wir in Westeuropa die Unterstützung für den ukrainischen Widerstand und für einen gerechten Frieden stärken wollen.
Wenn wir ihre Sympathien gewinnen, können wir auch die Unterstützung für die Ukraine in Westeuropa stärken.
Ich danke dem Europäischen Netzwerk für Solidarität mit der Ukraine (ENSU) für die Einladung, auf diesem Podium zu sprechen.
Referenzen
Simon Pirani hat diesen Text am 28. März auf seinem Blog „People and Nature“ veröffentlicht.
Bildquelle: Nicht Schwarz und Weiß. Bild erstellt mit Canva Premium.