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Adam Hanieh erörtert in diesem breit angelegten Interview, das Federico Fuentes für LINKS International Journal of Socialist Renewal [1] geführt hat, die Notwendigkeit, Werttransfers beim Verständnis des Imperialismus, Israels Rolle im globalen fossilen Kapitalismus und den wachsenden Einfluss der Golfstaaten in den Vordergrund zu stellen.
Federico Fuentes: Im Laufe des letzten Jahrhunderts wurde der Begriff Imperialismus verwendet um verschiedene Situationen zu bestimmen und zeitweise durch Konzepte wie Globalisierung und Hegemonie ersetzt. Hat das Konzept des Imperialismus weiterhin Gültigkeit? Wenn ja, wie definierst du ihn?
Adam Hanieh: Er ist sicherlich weiterhin gültig, und es gibt viel zu lernen, sowohl von den klassischen Autor:innen über Imperialismus, wie Wladimir Lenin, Nikolai Bucharin und Rosa Luxemburg, als auch von späteren Beiträgen und Debatten, auch von antikolonialen Marxist:innen der 1960er und 70er Jahre.
Ganz allgemein definiere ich Imperialismus als eine Form des globalen Kapitalismus, in dessen Mittelpunkt die fortgesetzte Extraktion und der Transfer von Wert aus den ärmeren Ländern (oder der Peripherie) in die reichen Länder (oder den Kern) sowie von den Klassen in den ärmeren Ländern in die Klassen in den reichen Ländern stehen. Meiner Meinung nach besteht die Tendenz, den Imperialismus lediglich auf geopolitische Konflikte, Kriege oder militärische Interventionen zu reduzieren. Aber ohne diesen Kerngedanken des Werttransfers können wir den Imperialismus nicht als ein permanentes Merkmal des Weltmarktes verstehen, das auch in vermeintlich „friedlichen“ Zeiten funktioniert.
Die Art und Weise, wie diese Werttransfers stattfinden, ist komplex und erfordert sorgfältige Überlegungen. Die Ausfuhr von Kapital in Form von ausländischen Direktinvestitionen in beherrschte Länder ist ein Mechanismus. Die direkte Kontrolle und Gewinnung von Ressourcen ist ein anderer. Aber wir müssen auch die verschiedenen Finanzmechanismen und -beziehungen betrachten, die seit den 1980er Jahren weit verbreitet sind: zum Beispiel die Schuldendienstzahlungen der Länder des globalen Südens. Es gibt auch Unterschiede im Wert der Arbeitskraft zwischen Kern- und Peripherieländern, die von Imperialismustheoretiker:innen der 1960er und 1970er Jahre, wie Samir Amin und Ernest Mandel, untersucht wurden. Ungleicher Austausch im Handel ist ein weiterer Weg. Und Arbeitsmigrant:innen sind ein weiterer wichtiger Mechanismus, über den Werttransfers stattfinden. Wenn wir über diese vielfältigen Formen nachdenken, öffnet sich unser Verständnis der heutigen Welt – über die Frage des Krieges oder zwischenstaatlicher Konflikte hinaus.
Wenn man sich dem Imperialismus über diese Werttransfers nähert, wird deutlich, wer davon profitiert. Lenin stellte das Finanzkapital in den Vordergrund, welches das Ergebnis der zunehmend integrierten Kontrolle des Bankkapitals und des industriellen bzw. produktiven Kapitals ist. Das ist nach wie vor gültig. Aber heute ist es komplizierter, da einige Schichten der beherrschten Bourgeoisien in der Peripherie teilweise in den Kapitalismus im Kern integriert sind. Sie haben nicht nur oft die Staatsbürgerschaft in diesen Ländern, sondern profitieren auch von diesen imperialen Beziehungen. Es gibt auch viel mehr grenzüberschreitenden Kapitalbesitz und das Aufkommen von Offshore-Finanzzonen, was es sehr viel schwieriger macht, die Kontrolle und den Fluss des Kapitals nachzuvollziehen. Um den Imperialismus von heute zu verstehen, muss besser erfasst werden, wer von dieser Integration in die Kernzentren der Kapitalakkumulation profitiert und wie die verschiedenen Finanzmärkte miteinander verbunden sind.
Ein drittes Merkmal, das sich aus diesen Wertübertragungen ergibt, ist das Konzept der Arbeiter:innenaristokratie. Dieses Konzept, das für die Diskussion über Kolonialismus und Imperialismus so wichtig war und bis zu Karl Marx und Friedrich Engels zurückreicht, wird jedoch im zeitgenössischen marxistischen Denken oft falsch interpretiert oder ausgeklammert. Wenn wir über Lenins Pamphlet Imperialismus, das höchste Stadium des Kapitalismus hinausgehen und seine anderen Schriften über den Imperialismus betrachten, stellen wir fest, dass er der Analyse der politischen Auswirkungen der imperialen Beziehungen bei der Bildung sozialer Schichten in den Kernländern, deren Politik sich an der eigenen Bourgeoisie orientierte und mit ihr verbunden war, große Aufmerksamkeit widmete. Diese Einsicht ist nach wie vor gültig und muss wieder in den Vordergrund gerückt werden. In Großbritannien hilft sie zum Beispiel, den eindeutig pro-imperialistischen Charakter der britischen Labour Party zu erklären.
Ein Merkmal des heutigen Imperialismus, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht gut theoretisiert wurde, ist wie die imperiale Herrschaft notwendigerweise mit bestimmten Arten von rassistischen und sexistischen Ideologien verbunden ist, die dazu beitragen, erstere zu rechtfertigen und zu legitimieren. Wir können dies heute im Zusammenhang mit Palästina sehen. Es ist wirklich wichtig, Antirassismus und Feminismus in unser Denken über Kapitalismus, Antiimperialismus und antiimperialistische Kämpfe zu integrieren. Neville Alexander hat dies im südafrikanischen Kontext getan, ebenso wie Walter Rodney, ein antikolonialer Marxist aus Guyana, und Angela Davis in den Vereinigten Staaten.
Viele würden zustimmen, dass die Weltpolitik nach dem Kalten Krieg vom US-amerikanischen/westlichen Imperialismus dominiert wurde. Doch mit dem wirtschaftlichen Aufstieg Chinas, dem Einmarsch Russlands in die Ukraine und dem Auftreten kleinerer Länder wie der Türkei und Saudi-Arabien, die ihre militärische Macht über ihre Grenzen hinaus ausdehnen, scheint eine relative Verschiebung stattzufinden. Wie können wir ganz allgemein die Dynamik verstehen, die innerhalb des globalen imperialistischen Systems im Spiel ist?
Seit Anfang der 2000er Jahre haben wir den Aufstieg neuer Zentren der Kapitalakkumulation außerhalb der USA erlebt. China steht dabei an vorderster Front. Dies hing zunächst mit dem Zustrom ausländischer Direktinvestitionen nach China und in die weitere ostasiatische Region zusammen, die auf die Ausbeutung billiger Arbeitskräfte als Teil einer Neuordnung der globalen Wertschöpfungsketten abzielten. Seither ist der Aufstieg Chinas jedoch mit einer relativen Schwächung des US-Kapitalismus im Kontext tiefgreifender und sich vertiefender globaler Krisen verbunden.
Diese relative Erosion der US-Macht lässt sich an verschiedenen Kennzahlen ablesen. In den letzten drei Jahrzehnten hat sich die Vorherrschaft der USA bei Schlüsseltechnologien, Industrien und Infrastrukturen abgeschwächt. Ein Anzeichen dafür ist der Rückgang des Anteils der USA am weltweiten BIP von 40 % auf etwa 26 % im Zeitraum 1985-2024. Auch bei den Eigentumsverhältnissen und der Kontrolle der größten kapitalistischen Unternehmen der Welt hat es eine relative Verschiebung gegeben. So überholte die Zahl der chinesischen Unternehmen in der Global Fortune 500-Liste 2018 die USA und blieb bis zum letzten Jahr unverändert, als die USA wieder die Führung übernahmen (139 US-Unternehmen gegenüber 128 chinesischen). Der Anteil Chinas an dieser Liste ist von gerade einmal 10 Unternehmen im Jahr 2000 aufgestiegen. Während der Aufstieg Chinas weitgehend auf Kosten japanischer und europäischer Unternehmen ging, ist auch die Kontrolle der USA über das Großkapital zurückgegangen: In den letzten 25 Jahren ist der Anteil der USA an den Global Fortune 500 von 39 % auf 28 % gesunken.
Wichtig ist, dass diese Anzeichen für den relativen Niedergang der USA sich im Inland widerspiegeln. Der US-Kapitalismus ist von schwerwiegenden sozialen Problemen geplagt: sinkende Lebenserwartung, Masseninhaftierungen, Obdachlosigkeit, psychische Erkrankungen und ein Zusammenbruch der grundlegenden Infrastruktur. Der Neoliberalismus und die extreme Polarisierung des Wohlstands haben die Fähigkeit des US-Staates, auf größere Krisen zu reagieren, ausgehöhlt – wie die COVID-Pandemie und zuletzt die Hurrikansaison 2024 und die Brände in Los Angeles im Januar 2025 gezeigt haben.
Aber wir müssen die relative Schwächung der US-Macht betonen. Ich glaube nicht, dass ein unmittelbarer Zusammenbruch der US-Dominanz bevorsteht. Die USA haben nach wie vor einen enormen militärischen Vorteil gegenüber ihren Rivalen, und die zentrale Stellung des US-Dollars wird nicht in Frage gestellt. Letzterer ist eine wichtige Quelle der US-Macht, da er es den USA ermöglicht, Rivalen von den US-Finanzmärkten und dem Bankensystem auszuschließen (besonders deutlich seit dem 11. September). Ein Großteil der geopolitischen Macht der USA wird durch ihre finanzielle Vorherrschaft zum Ausdruck gebracht – ein weiterer Grund, warum wir den Imperialismus nicht nur in seinen militärischen Formen betrachten müssen.
Es gibt auch ein größeres Bild dieser globalen Rivalitäten, das wir hervorheben sollten: die vielfältigen und miteinander verknüpften Krisen, die den Kapitalismus heute weltweit kennzeichnen. Wir können dies an der Stagnation der Profitraten und den großen Beständen an überschüssigem Geldkapital, das nach Verwertung sucht, dem enormen Anstieg der öffentlichen und privaten Verschuldung, der Überproduktion in vielen Wirtschaftssektoren und der nackten Realität des Klimanotstands erkennen. Wenn wir also über die Dynamik des globalen imperialistischen Systems sprechen, geht es nicht nur um zwischenstaatliche Rivalitäten und die Messung der Stärke der USA gegenüber anderen kapitalistischen Mächten. Wir müssen diese Konflikte in die längerfristige systemische Krise einordnen, die alle Staaten zu bewältigen versuchen.
Wie ist der Aufstieg von US-Präsident Donald Trump in diesem Zusammenhang zu verstehen?
Von einigen liberalen Kommentatoren wird Trump häufig als eine Art verrückter Egoist dargestellt, der eine von milliardenschweren Rechtsextremisten gekaperte (oder insgeheim von Russland gesteuerte) Regierung leite. Ich denke, diese Sichtweise ist falsch. Unabhängig von Trumps persönlichem Narzissmus vertritt er ein klares politisches Projekt, das sich mit den allgemeinen Problemen auseinandersetzt, die ich gerade skizziert habe: Wie kann man den relativen Niedergang der USA im Kontext der größeren systemischen Krisen des globalen Kapitalismus bewältigen?
Wenn man die Diskussionen unter seinen Wirtschaftsberatern verfolgt, gibt es dafür deutliche Hinweise. Ein besonders aufschlussreiches Beispiel ist eine ausführliche Analyse, die Stephen Miran im November 2024 verfasst hat. Miran ist Wirtschaftswissenschaftler und wurde gerade als Vorsitzender von Trumps Wirtschaftsberatungsrat bestätigt. Er argumentiert, dass die US-Wirtschaft im Verhältnis zum globalen BIP in den letzten Jahrzehnten geschrumpft sei, die USA jedoch die Kosten für die Aufrechterhaltung des weltweiten „Verteidigungsschirms“ angesichts wachsender zwischenstaatlicher Rivalitäten zu tragen hätten. Entscheidend sei, dass der US-Dollar aufgrund seiner Rolle als internationale Reservewährung überbewertet sei, was zu einer Aushöhlung der US-amerikanischen Produktionskapazitäten geführt habe.
Er schlägt vor, dieses Problem durch die Verhängung von Zöllen zu lösen, um die Verbündeten der USA zu zwingen, einen größeren Anteil an den Kosten des Imperiums zu übernehmen. Miran sagt, dies werde dazu beitragen, die Produktion in die USA zurückzuholen (ein wichtiger Aspekt im Falle eines Krieges). Er schlägt eine Reihe von Maßnahmen vor, um die inflationären Auswirkungen dieses Plans zu begrenzen und den US-Dollar trotz der erhofften Abwertung als Leitwährung zu erhalten (er verweist ausdrücklich auf die Bedeutung des US-Dollars für die Durchsetzung und Sicherung der US-amerikanischen Macht). Diese Art von Standpunkt wird von der Trump-Administration, einschließlich Finanzminister Scott Bessent, vertreten.
Der springende Punkt ist nicht, ob dieser Plan funktioniert oder ob er wirtschaftlich sinnvoll ist, sondern dass man die Beweggründe dahinter versteht. Er ist ausdrücklich als Mittel zur Bewältigung der Probleme des US-amerikanischen und des globalen Kapitalismus gedacht und soll die globale Vormachtstellung der USA wiederherstellen, indem deren Kosten auf andere Teile der Welt verlagert werden. Die Regierung von Joe Biden schlug andere Lösungen vor, beschäftigte sich aber mit denselben Fragen und sprach offen von einem sich verschärfenden „strategischen Wettbewerb“ und der Notwendigkeit, Wege zu finden, wie die USA „ihre Kernvorteile im geopolitischen Wettbewerb aufrechterhalten können“.
Wir müssen also die Trump-Administration als Akteur mit einem kohärenten Projekt angehen. Natürlich gibt es eine ganze Reihe interner Widersprüche und Spannungen, die durch dieses Projekt hervorgerufen werden, und eindeutige Meinungsverschiedenheiten mit einigen Teilen des US-Kapitals und langjährigen ausländischen Verbündeten. Aber diese Spannungen spiegeln die höchst instabile Natur des globalen Kapitalismus wider.
Die innenpolitische Artikulation des Projekts stützt sich, wie so oft in Krisenzeiten, auf Sündenbockdenken, virulenten Rassismus und migrant:innenfeindliche Haltungen, wissenschaftsfeindlichen Irrationalismus, Klimaleugnung und ultrakonservative Geschlechter- und Sexualpolitik. All diese Arten von ideologischen Mustern dienen der Förderung von Nationalismus, Militarismus und dem Gefühl, dass sich das Land im Belagerungszustand befinde. Sie ermöglichen noch mehr staatliche Repression und Kürzungen bei den Sozialausgaben. Natürlich ist dies nicht auf die USA beschränkt. Das weltweite Wiederaufleben dieser rechtsextremen Ideologien ist ein weiteres Indiz dafür, dass wir es mit einer größeren Systemkrise zu tun haben, mit der alle kapitalistischen Staaten zu kämpfen haben.
Ich möchte noch einmal auf den Klimanotstand hinweisen. Die Art und Weise, wie die Trump-Administration Umweltvorschriften aufhebt und versucht, die heimische Öl- und Gasproduktion zu beschleunigen, ist eine Möglichkeit, die Macht des US-Kapitalismus (durch Senkung der Energiekosten) wieder zu stärken. Aber es ist offensichtlich, dass wir in eine Phase des kaskadenartigen und unvorhersehbaren Klimakollapses eintreten, der in den kommenden Jahrzehnten Milliarden von Menschen erheblich beeinträchtigen wird. Die Rechte mag die Realität des Klimawandels leugnen, aber das liegt letztlich daran, dass der Kapitalismus nicht zulassen kann, dass irgendetwas die Akkumulation beeinträchtigt. Wir müssen die Klimafrage heute in den Mittelpunkt unserer Politik stellen, denn sie wird sich zunehmend durch alle Bereiche ziehen.
Es wurden verschiedene konkurrierende Erklärungen angeboten, um die US-amerikanische/westliche imperialistische Unterstützung für Israels Krieg gegen Gaza zu erklären. Was ist deine Einschätzung? Wie passt der Prozess der Normalisierung zwischen Israel und den arabischen Staaten in diesen Zusammenhang? Und welchen Einfluss haben der 7. Oktober und der Völkermord in Gaza darauf?
Wir sollten die Beziehungen zwischen den USA und Israel im Kontext der gesamten Region betrachten und nicht nur durch die Brille dessen, was sich innerhalb der Grenzen Palästinas abspielt, oder die Beweggründe einzelner israelischer Führer:innen. Dazu sind der US-Imperialismus und die zentrale Bedeutung der Region für den globalen fossilen Kapitalismus in den Vordergrund zu stellen.
Der Aufstieg der USA zur dominierenden kapitalistischen Macht war eng mit dem Übergang zum Öl als führendem fossilen Brennstoff in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts verbunden. Dies verlieh dem Nahen Osten – als Zentrum der weltweiten Ölexporte und als entscheidende Zone der Energieproduktion – eine sehr wichtige Rolle im globalen Projekt der USA. Innerhalb des Nahen Ostens war Israel ein wichtiger Pfeiler des US-Einflusses, insbesondere nach dem [arabisch-israelischen] Krieg von 1967, in dem es seine Fähigkeit demonstrierte, arabische nationalistische Bewegungen und antikoloniale Kämpfe zu besiegen. In diesem Sinne waren die USA immer die treibende Kraft in dieser Beziehung – nicht Israel und schon gar nicht eine Israel-Lobby.
Der andere Pfeiler der US-Macht im Nahen Osten sind die Golfstaaten, insbesondere Saudi-Arabien. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts haben die USA eine privilegierte Beziehung zu den Golfmonarchien aufgebaut, die ihr Überleben sicherte, solange sie in das breitere System der regionalen Bündnisse der USA eingebunden waren. Dies bedeutete, dass der Ölfluss auf dem Weltmarkt garantiert und sichergestellt und dass Öl niemals als „Waffe“ eingesetzt wurde. Es bedeutete auch, dass die Billionen von Dollar, die die Golfstaaten durch den Ölverkauf verdienten, größtenteils in die westlichen Finanzmärkte zurückfließen konnten.
Doch ebenso wie ihr globaler Status hat auch die Dominanz der USA in der Region in den letzten zwei Jahrzehnten nachgelassen. Dies spiegelt sich in der wachsenden Rolle anderer fremder Staaten in der Region (z. B. China und Russland) und im Kampf regionaler Mächte um die Ausweitung ihres Einflusses (z. B. Iran, Türkei, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate) wider. Wichtig ist auch, dass sich die Öl- und Gasexporte des Golfs nach Osten verlagert haben und nun überwiegend nach China und Ostasien, nicht mehr in westliche Länder fließen.
Als Reaktion darauf haben die USA versucht, ihre beiden wichtigsten regionalen Verbündeten zusammenzubringen, indem sie die politischen, wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen zwischen den Golfstaaten und Israel normalisierten. Dieses Projekt reicht mehrere Jahrzehnte zurück, wurde aber im Rahmen der Osloer Abkommen in den 1990er Jahren intensiviert. In jüngerer Zeit hat Israel seine Beziehungen zu den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain im Rahmen des Abraham-Abkommens 2020 normalisiert. Im selben Jahr normalisierte Israel auch die Beziehungen zu Sudan und Marokko. Auf diese wichtigen Schritte folgte 2022 die Unterzeichnung eines Freihandelsabkommens zwischen den VAE und Israel.
Wir müssen die Handlungen Israels und den Völkermord in Gaza aus diesem Blickwinkel betrachten. Selbst jetzt, nach dem 7. Oktober und dem Völkermord, und inmitten des Geredes über die weitere Vertreibung der Palästinenser:innen aus ihrem Land, bleibt das Ziel der USA die Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und den Golfstaaten als Mittel zur Wiederherstellung ihrer Vormachtstellung in der Region.
Doch Trumps Vorschlag, den Gazastreifen ethnisch zu säubern, macht es den Regierungen in der Region sicherlich schwerer, die Beziehungen zu Israel zu normalisieren?
Trumps Vorschläge für eine weitere ethnische Säuberung des Gazastreifens stoßen in weiten Teilen des israelischen politischen Spektrums auf offene Ohren. Dem stehen jedoch viele Hindernisse entgegen, angefangen bei der Tatsache, dass Staaten wie Jordanien und Ägypten nicht wollen, dass eine so große Zahl palästinensischer Flüchtlinge in ihre Gebiete umgesiedelt wird.
Aber Länder wie Saudi-Arabien, Jordanien und Ägypten stellen sich nicht grundsätzlich gegen das Projekt der USA. Die saudische Monarchie hat prinzipiell kein Problem damit, die Beziehungen zu Israel zu normalisieren, und sie hat den Vereinigten Arabischen Emiraten im Rahmen des Abraham-Abkommens sicherlich grünes Licht dafür gegeben, dies zu tun. Zwischen den USA und den Golfstaaten gibt es eine sehr enge Annäherung, die sich unter Trump noch beschleunigt. Das zeigt sich daran, dass Saudi-Arabien Gastgeber der aktuellen Verhandlungen zwischen den USA und Russland ist, und an der jüngsten Ankündigung der VAE, in den nächsten zehn Jahren 1,4 Billionen US-Dollar in den USA investieren zu wollen.
Gleichzeitig ist es natürlich sehr schwierig, dieses Projekt ohne die Niederlage der Palästinenser:innen im Gazastreifen und anderswo und ohne eine Art palästinensischer Duldung voranzutreiben. Der mögliche Ausweg aus diesem Dilemma liegt im Westjordanland in Form der Palästinensischen Behörde (PA). Die Palästinensische Autonomiebehörde ist von entscheidender Bedeutung, da sie eine Schicht palästinensischer Politiker:innen und eine palästinensische kapitalistische Klasse hervorgebracht hat, deren Interessen an ein Entgegenkommen gegenüber Israel gebunden sind und die bereit sind, eine regionale Normalisierung zu erleichtern (das war der Sinn der Osloer Abkommen). Wir sollten also nicht davon ausgehen, dass die arabischen Staaten von Natur aus gegen die ethnische Säuberung und Normalisierung sind, wie Trump sie propagiert.
Nationale Ölmonopole, die von Staaten des Nahen Ostens (und anderen nicht-westlichen Ländern) geführt werden, haben westliche Konzerne auf dem globalen Ölmarkt überholt. Welchen Einfluss hat dies auf die Position des Nahen Ostens im globalen Kapitalismus?
In den letzten zwei Jahrzehnten haben wir den Aufstieg großer nationaler Ölgesellschaften erlebt, was die Dynamik der globalen Ölindustrie verändert. Die Golfstaaten ragen in dieser Hinsicht heraus, insbesondere Saudi Aramco, der größte Ölproduzent und -exporteur der Welt, der die großen westlichen Unternehmen, die die Branche den größten Teil des 20. Jahrhunderts beherrschten, überholt hat.
Diese nationalen Ölgesellschaften sind den westlichen Öl-Supermajors gefolgt und haben sich vertikal integriert. In den 1970er Jahren konzentrierten sich ölproduzierende Staaten wie Saudi-Arabien weitgehend auf die Förderung von Rohöl im vorgelagerten Bereich. Heute jedoch sind die nationalen Ölgesellschaften entlang der gesamten Wertschöpfungskette tätig. Sie sind an der Raffination und der Herstellung von Petrochemikalien und Kunststoffen beteiligt. Sie besitzen Schifffahrtslinien, Pipelines, Tanker und Tankstellen, an denen Kraftstoffe verkauft werden. Sie verfügen über weltweite Vertriebsnetze.
Gleichzeitig hat sich das herausgebildet, was ich im Buch Crude Capitalism „die Ost-Ost-Kohlenwasserstoffachse“ nenne. Mit dem Aufstieg Chinas haben sich die Ölexporte der Golfstaaten von Westeuropa und den USA weg und nach Osten in Richtung China und Ostasien verlagert. Dabei geht es nicht nur um den Export von Rohöl, sondern auch von raffinierten Produkten und Petrochemikalien. Dies hat zu einer zunehmenden Verflechtung zwischen diesen beiden Regionen geführt, die heute die zentrale Achse der globalen Ölindustrie außerhalb der USA bilden.
Das heißt nicht, dass die westlichen Märkte und Ölfirmen nicht wichtig sind. Die großen westlichen Supermajors dominieren nach wie vor innerhalb der USA und des größeren nordamerikanischen Blocks. Aber wir haben es mit einem zersplitterten globalen Ölmarkt zu tun, in dem diese Ost-Ost-Verbindungen den schwindenden Einfluss der USA weiter widerspiegeln – weltweit und im Nahen Osten.
Was sagt uns das über die Vorstellung, dass einige transnationale oder nicht-westliche Staatsunternehmen ohne eine institutionelle Verankerung in einer imperialistischen Macht erfolgreich operieren können?
Es sind keine US-amerikanischen oder westlichen Firmen, aber sie haben dennoch wichtige Verbindungen zu westlichen Ölfirmen (auch durch gemeinsame Projekte) und sind auf westlichen Märkten aktiv. Die größte Ölraffinerie in den USA ist in saudischem Besitz. Wir sollten also nicht unbedingt den einen gegen den anderen ausspielen, als ob es einen grundlegenden Unterschied darin gäbe, wie sie als fossiler Block die Zukunft der Industrie sehen. In Bezug auf den Klimanotstand stehen sie absolut auf der gleichen Seite. Wir können dies an der herausragenden Rolle der Golfstaaten bei der Behinderung und Ablenkung jeglicher wirksamen globalen Reaktion auf diese Notlage erkennen.
Neben der Vertiefung der Beziehungen zu China haben die Golfstaaten zunehmend ihre Bereitschaft gezeigt, autonom zu handeln und sogar um Einfluss in der Region zu konkurrieren. Wie erklärst Du die Rolle dieser Golfstaaten?
Im Zusammenhang mit dieser relativen Schwächung der US-Macht haben andere Akteure, darunter auch die Golfstaaten, versucht, ihre eigenen regionalen Interessen durchzusetzen.
Dabei haben sie sich verschiedener Mechanismen bedient: Sie haben verschiedene bewaffnete Gruppen oder politische Bewegungen gesponsert oder verschiedene politische Kräfte beherbergt (hier sticht der Fall Katar hervor); sie haben Staaten wie Ägypten und Libyen finanziell unterstützt; sie haben in Ländern wie dem Jemen und dem Sudan militärisch interveniert und Häfen und Logistikrouten kontrolliert. Auf diese Weise haben die Golfstaaten versucht, ihren regionalen Fußabdruck zu vergrößern.
Dies hat zum Teil mit den Folgen der arabischen Aufstände von 2011 zu tun, die sich rasch über die gesamte Region ausbreiteten und seit langem bestehende autoritäre Herrscher, wie in Ägypten und Tunesien, destabilisierten. Die Golfstaaten spielten eine wichtige Rolle bei dem Versuch, diese autoritären Staaten im Gefolge der Aufstände wiederherzustellen.
Rivalitäten gibt es auch zwischen den Golfstaaten, insbesondere zwischen Saudi-Arabien und Katar, aber auch zwischen Saudi-Arabien und den VAE. Sie sind nicht unbedingt in allen Fragen einer Meinung und unterstützen mitunter gegnerische Seiten – zum Beispiel im Sudan [wo Saudi-Arabien die sudanesischen Streitkräfte im laufenden Bürgerkrieg unterstützt, während die VAE die Rapid Support Forces fördern].
Trotz ihres relativen Niedergangs bleiben die USA jedoch die wichtigste imperialistische Macht in der Region. Dies zeigt sich an ihrer direkten militärischen Präsenz am Golf, wo die USA in Ländern wie Bahrain, Saudi-Arabien und den VAE über Militäreinrichtungen und Stützpunkte verfügen. Die USA sind immer noch der letzte Rückhalt – militärisch und politisch – für die Regime am Golf.
Der Begriff „subimperialistisch“ wird manchmal verwendet, um Länder wie diese zu beschreiben, die zwar einer imperialistischen Macht untergeordnet sind, aber in ihrem Einflussbereich mit einer gewissen Autonomie agieren. Hältst du das für einen nützlichen Begriff, um die Golfstaaten zu verstehen?
Der Begriff Subimperialismus kann zwar einiges von dem erfassen, was diese Staaten repräsentieren, aber die Golfstaaten sind nicht unbedingt in der Lage, ihre militärische Stärke in der gleichen Weise zu demonstrieren wie die westlichen Mächte. Das heißt nicht, dass sie keine militärischen Kapazitäten aufbauen, aber sie operieren nach wie vor weitgehend über Stellvertreter und sind in hohem Maße auf den militärischen Schutz der USA angewiesen. Wie ich bereits erwähnte, gibt es überall am Golf US-Militärstützpunkte. Der Export von Militärgütern aus westlichen Staaten in die Region fördert die westliche Kontrolle über die Streitkräfte der Golfstaaten, da diese Exporte ständige Ausbildung, Wartung und Unterstützung erfordern.
Dennoch ist der Kapitalexport aus der Golfregion in die weitere Region – und zunehmend auch auf den afrikanischen Kontinent – unübersehbar. Diese Kapitalexporte spiegeln grenzüberschreitende Werttransfers wider. Es ist auch klar, dass die in der Golfregion ansässigen Konzerne die Hauptnutznießer der neoliberalen Welle waren, die den Nahen Osten in den letzten Jahrzehnten überrollte, in der die Volkswirtschaften geöffnet und Land und andere Vermögenswerte privatisiert wurden. Ich spreche hier nicht nur von den staatlichen Golfkonglomeraten, sondern auch von großen privaten Konglomeraten. Wenn man sich in der Region Sektoren wie das Bankwesen, den Einzelhandel oder die Agrarindustrie ansieht, findet man sowohl staatliche als auch private Golfkonglomerate.
Deshalb ist es so wichtig, die Region im Zusammenhang mit kapitalistischen Interessen und Mustern der Kapitalakkumulation und nicht nur mit zwischenstaatlichen Konflikten zu betrachten.
Der Iran wird angesichts seines gleichzeitigen Konflikts mit dem US-Imperialismus und seiner erweiterten Rolle in der Region manchmal als kleine oder subimperialistische Macht betrachtet. Andere sehen ihn als Speerspitze einer antiimperialistischen „Achse des Widerstands“ in der Region. Wie siehst du die Rolle des Irans?
Der Begriff „Achse des Widerstands“ ist irreführend, da er zu viel Einstimmigkeit zwischen einer recht heterogenen Gruppe von Akteur:innen mit unterschiedlichen Interessen, sozialen Grundlagen und Beziehungen zur Politik, sowohl im Inland als auch in der Region, impliziert. Im Grunde versucht er, ein Pluszeichen zu setzen, wo [der ehemalige US-Präsident] George W. Bush mit seiner „Achse des Bösen“ ein Minuszeichen setzte. Das ist eine simplifizierende Art, Politik zu machen.
Wir müssen uns klar und deutlich gegen jede Art von imperialistischer Intervention des Westens im Iran oder in der weiteren Region wenden (sei es direkt oder über Israel) widersetzen. Das bedeutet nicht nur militärische Intervention, sondern auch wirtschaftliche und andere Formen der Intervention. Sanktionen sind im Falle des Iran ein wichtiges Element.
Gleichzeitig sollten wir anerkennen, dass der Iran ein kapitalistischer Staat mit einer eigenen kapitalistischen Klasse ist, die ihre eigenen Ziele in der Region und im weiteren Sinne verfolgt. Ähnlich wie die Golfstaaten versucht der Iran, seine regionale Macht in diesem Kontext der Destabilisierung nach 2011, der relativen Schwächung der US-Macht und allem anderen, worüber wir gesprochen haben, zu demonstrieren.
Es stimmt, dass der Iran dies außerhalb des US-Projekts für die Region tut, wie er es seit Jahrzehnten tut. Aber die Anerkennung des kapitalistischen Charakters des iranischen Staates bedeutet auch, dass wir uns mit fortschrittlichen sozialen und politischen Bewegungen im Iran solidarisieren müssen, seien es Arbeiter:innen- und Gewerkschaftskämpfe (von denen es weiterhin viele gibt), Frauenkämpfe, die Kämpfe des kurdischen Volkes und so weiter. Das sind Bewegungen, denen wir als Sozialist:innen im Rahmen einer antiimperialistischen Politik zur Seite stehen sollten.
Der Ausgangspunkt ist eine konsequent antikapitalistische Denkweise über Staaten und Bewegungen, was bedeutet, dass wir kapitalistische Regierungen – wer auch immer sie sein mögen, wo auch immer sie sein mögen – nicht politisch unterstützen. Wir können uns mit Menschen im Kampf solidarisieren und gleichzeitig imperialistische Einmischungen in all ihren Formen ablehnen und die komplexen Verhältnisse des Kapitalismus im Nahen Osten nicht auf eine Art manichäische Geopolitik reduzieren.
Referenzen
Das Interview erschien zunächst am 31 März 2025 in LINKS International Journal of Socialist Renewal [2]. Wir danken Adam Hanieh und Federico Fuentes dafür, dass wir das Interview auf Deutsch publizieren können. Übersetzung: Christian Zeller.
Bildquelle: erstellt mit Canva Premium
[1] Links International Journal of Socialist Renewal https://links.org.au/
[2] Crude capitalism, new centres of capital accumulation and the Middle East’s place in global imperialism: An interview with Adam Hanieh, 31 March 2025 https://links.org.au/crude-capitalism-new-centres-capital-accumulation-and-middle-easts-place-global-imperialism
Von Adam Hanieh veröffentlichten wir auch:
Palästina in den Kontext stellen: Israel, die Golfstaaten und die USamerikanische Macht im Nahen Osten in emanzipation 8 (2), 2024, S. 303–320.
Generalproben für die Revolution. Gareth Dale, Amanda Armstrong Price, Lucí Cavallero und Adam Hanieh diskutieren über revolutionäre Proben im neoliberalen Zeitalter in emanzipation 6 (1), 2022, S. 39-57.
Die internationale Hilfe und die politische Ökonomie des ägyptischen Aufstands in emanzipation 1 (2), 2011, S. 26–43.