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Ashley Smith von Tempest und Ilya Budraitskis von Posle Media interviewen die georgischen Aktivist:innen und Wissenschaftler:innen Ia Eradze, Luka Nakhutsrishvili und Lela Rekhviashvili über die Wurzeln des Aufstands, seinen Verlauf und Georgiens Platz im globalen Kapitalismus und in der imperialistischen Ordnung.
Georgien, ein kleines Land mit 3,8 Millionen Einwohner:innen im Kaukasus, ist in eine tiefe Krise gestürzt. Die Bevölkerung hat sich gegen die Regierungspartei Georgischer Traum erhoben, weil diese ein „Gesetz über ausländische Einflussnahme“ nach russischem Vorbild und ein homophobes Anti-LGBTQ-Propaganda-Gesetz erlassen hat, die Wahlen manipuliert und die Beitrittsgespräche für die EU-Mitgliedschaft ausgesetzt hat.
Der Milliardär Bidzina Iwanischwili zieht die Fäden hinter der Partei Georgischer Traum. Er ist der reichste Oligarch des Landes und verfügt über ein Vermögen von 6,4 Milliarden Dollar, was fast dem gesamten Staatshaushalt und einem Fünftel des BIP des Landes entspricht. Er und seine Partei arbeiten ungeachtet ihrer Auseinandersetzungen mit dem Westen und ihrer Hinwendung zu Russland mit allen imperialistischen Mächten und multinationalen Konzernen bei der Ausplünderung und Ausbeutung der Bevölkerung, des Reichtums und der Ressourcen des Landes zusammen.
Das georgische Volk hat die Nase voll von diesem Autoritarismus und der Ausbeutung und ist in Massenprotesten gegen seine Regierung und für Demokratie und Gleichheit aufgestanden. Der Georgische Traum hat mit äußerster Brutalität reagiert, Proteste unterdrückt und Demonstrant:innen verhaftet. Doch die Bewegung zeigt keine Anzeichen eines Nachlassens, und während wir diese Zeilen veröffentlichen, gehen die Massenproteste weiter, nun schon den vierundzwanzigsten Tag in Folge. Die Zukunft des Landes steht auf Messers Schneide.
Ilya Budraitskis & Ashley Smith: Die Menschen in Georgien haben sich in einer neuen Massenprotestbewegung gegen die Regierung erhoben. Die Wurzeln dieser Bewegung sind zum Teil eine Reaktion auf die Ergebnisse der jüngsten Wahlen, die den „Georgischen Traum“ zurück an die Macht brachten. Auf welcher Grundlage sind sie angetreten? Wer waren die Oppositionsparteien und was waren ihre Programme? Waren die Menschen mit diesen Optionen zufrieden? Wie lauteten die offiziellen Ergebnisse? Wurden die Wahlen gefälscht?
Luka Nakhutsrishvili: Wir befinden uns mitten in einem demokratischen Massenaufstand gegen die Regierung des „Georgischen Traums“. Hunderttausende protestieren friedlich auf dem Hauptplatz in Tiflis und in Städten und Gemeinden im ganzen Land. In den vergangenen zwei Wochen haben wir in ganz Tiflis zu jeder Zeit Protestmärsche erlebt. Immer mehr Berufsgruppen und Stadtteile haben begonnen, sich selbst zu organisieren. Dies ist ein Novum in unserer jüngeren Geschichte.
Der unmittelbare Grund für die Proteste ist die tiefgreifende Legitimitätskrise der Regierungspartei, die dem Drehbuch folgt, das Viktor Orban in Ungarn verwendet hat, um seine Regierung in ein autoritäres Regime zu verwandeln. Aber der Georgische Traum ist noch weiter gegangen als die illiberale Demokratie im Stil von Orban, indem er die Wahlen manipulierte und gegen die Demonstranten in einer Weise vorging, die eher an Belarus und Russland erinnert. Die Aussetzung der Beitrittsgespräche mit der Europäischen Union war nur der letzte Tropfen.
In den letzten zwei Jahren hat der Georgische Traum einen dramatischen Rechtsruck vollzogen. Als die Partei 2012 an die Macht kam, behauptete sie, sozialdemokratisch zu sein, und war Teil des sozialistischen Blocks im Europäischen Parlament. Obwohl viele befürchteten, dass sie sich Russland annähern könnte, unterstützte sie weiterhin die EU-Integration und den Beitritt zur NATO.
Doch seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine im Jahr 2022 vollzog die Partei eine völlige Kehrtwende: Sie wurde euroskeptisch und macht sich den rechten Nationalismus zu eigen. Sie vertritt eine reaktionäre Geschlechterpolitik, bringt Verschwörungstheorien in den politischen Mainstream ein und bekundet offene Sympathien mit Russland.
Der Georgische Traum warb mit Angstmacherei und dem Slogan „Wählt den Frieden, nicht den Krieg“, gepaart mit Bildern eines blühenden Georgiens auf der einen Seite und einer zerstörten Ukraine auf der anderen. Die Implikation war klar: Wenn ihr für die Opposition stimmt, wird Georgien am Ende von Russland überfallen und besetzt.
Was die Basis des „Georgischen Traums“ betrifft, so hat die Partei zwar viele Wähler:innen verloren, die mit der EU-Integration sympathisieren, dafür aber Unterstützung von rechtsextremen nationalistischen Wähler:innen erhalten, die ihr Anti-LGBT-Gesetz gutheißen, Washingtons angeblichen Plan ablehnen, Georgien in einen globalen Krieg zu ziehen, und EU-Bürokraten ablehnen, die ihrer Meinung nach die georgische Souveränität verletzen. Der Rest der Wähler:innen unterstützte sie aus Angst vor einem Krieg, die der Georgische Traum auf zynische Weise instrumentalisierte.
Die vier wichtigsten Oppositionsparteien schlossen sich zu Koalitionen zusammen, um den Georgischen Traum bei den Wahlen herauszufordern. Es handelt sich um Parteien des technokratischen Establishments, von denen die meisten der vorherigen Regierung angehörten. Sie haben sich als unfähig erwiesen, auf die Bedürfnisse der großen Mehrheit einzugehen. Die meisten Wähler:innen mögen sie nicht und haben aus taktischen Gründen für sie gestimmt, um den Georgischen Traum zu besiegen oder zumindest zu verhindern, dass dieser eine absolute Mehrheit erlangen und allein regieren könnte.
IB & AS: Am Ende hat der Georgische Traum eine Mehrheit gewonnen, obwohl es weit verbreitete Anschuldigungen gab, dass die Ergebnisse manipuliert worden seien. Stimmt das?
LN: Ja. Die Umfragen deuteten darauf hin, dass sie zwar die größte Partei bleiben würde, aber nicht genug Stimmen erhielt, um eigenständig eine Regierung zu bilden (wie Kaczynskis Rechtsaußenpartei nach den Wahlen im letzten Jahr in Polen). Niemand hatte vorhergesagt, dass sie mit 54 Prozent der Stimmen gewinnen würde. Um dieses Ergebnis zu sichern, griff sie zu allen erdenklichen autoritären Tricks, indem sie die prekäre soziale Lage des größten Teils der Bevölkerung, die sie systematisch reproduziert hat, in ein Machtinstrument zu verwandeln.
Die Partei organisierte ein so genanntes Wahlkarussell, um ihren Anhänger:innen zu helfen, an mehreren Orten zu wählen und so ihr Ergebnis zu steigern. Der Georgische Traum hat die Menschen auch mit der Drohung, ihnen den Zugang zu unserem minimalen Sozialsystem, einschließlich der medizinischen Versorgung, zu verwehren, dazu gebracht, für sie zu stimmen. Sie schüchterten Beschäftigte des öffentlichen Sektors wie Lehrer:innen mit der Drohung ein, ihren Arbeitsplatz zu verlieren.
Die Sicherheitskräfte sagten Menschen, die Angehörige im Gefängnis haben, dass sie keine fairen Prozesse bekommen würden, wenn sie nicht für den Georgischen Traum stimmen würden. Sie nahmen Menschen, von denen sie wussten, dass sie die Oppositionsparteien unterstützten, die Ausweise weg, um ihnen das Wählen zu erschweren.
Hunderttausenden von Emigrant:innen wurde die Stimmabgabe sehr erschwert. Und warum? Weil diese Gruppe das Land aus Frustration über die Politiker und die Armut verlassen hat und am ehesten für die Opposition stimmt.
Der Georgische Traum hob dann die Klage auf, die die Präsidentin eingereicht hatte, um die Wahlen wegen massiver Verstöße gegen die Wahlgesetze für verfassungswidrig zu erklären. Sie warteten nicht einmal die Entscheidung des von ihnen kontrollierten Gerichts ab, um das Parlament einzuberufen, was eindeutig gegen die Verfassung verstößt. Der Georgische Traum hat also alles getan, um die Legitimitätskrise weiter zu verschärfen, die durch die offene und schwere Wahlfälschung entstanden ist.
IB & AS: Der Anlass für den Aufstand war die Entscheidung des Georgischen Traums, den Prozess des Beitritts zur Europäischen Union auszusetzen. Warum hat sich die Partei dazu entschlossen, zumal eine Mehrheit der Georgier:innen die Integration unterstützt?
Ia Eradze: Der Georgische Traum hat die Beitrittsgespräche wahrscheinlich ausgesetzt, weil es nach der Wahlfälschung kaum Proteste gab. Außerdem will er die von der EU an demokratische Reformen geknüpften Bedingungen nicht akzeptieren, da dies seine Machtposition gefährden würde. Und schließlich hat Russland zweifellos hinter den Kulissen Druck auf die Partei ausgeübt.
Die Aussetzung der Gespräche hat die Situation verändert und Menschen wie mich, die von den Wahlergebnissen schockiert waren, wachgerüttelt. Ich fühlte mich etwa zwei Wochen lang wie gelähmt. Ich konnte nichts tun. Nach den Wahlen gab es Demonstrationen, die von den Oppositionsparteien organisiert wurden, aber sie waren nicht sehr groß.
Die geringe Wahlbeteiligung war eine Folge der kollektiven Lähmung. Es dauerte Wochen, bis die Menschen das Ausmaß der Manipulationen begriffen, die dem Georgischen Traum einen solchen Sieg beschert hatten. Die Frustration begann sich unter der Oberfläche anzusammeln. Die Ankündigung des Georgische Traums, die Beitrittsgespräche auszusetzen, was gegen unsere Verfassung verstößt, brach den Damm der aufgestauten Wut, die sich im ganzen Land entlud.
In vielerlei Hinsicht war diese Ankündigung ein Glücksfall. Ich hatte wirklich Angst, dass sie so tun könnten, als würden sie die EU-Verhandlungen fortsetzen, indem sie Vereinbarungen vortäuschen, während sie eine autoritäre Herrschaft errichten. Das wäre weitaus schlimmer gewesen. Zum Glück für uns sind sie zu weit gegangen, und jetzt befinden wir uns mitten in einer Massenbewegung gegen die Regierung.
Die meisten Menschen protestieren nicht nur aufgrund des EU-Beitritts. Wir gehen auf die Straße, um eine autoritäre Regierung daran zu hindern, unsere Verfassung, unsere Rechte und unsere Lebensgrundlagen weiterhin mit Füßen zu treten. Wir protestieren, um unsere Demokratie zu verteidigen und uns dagegen zu wehren, dass der Georgische Traum alle staatlichen Institutionen, von den Schulen bis zu den Gerichten, in Werkzeuge verwandelt, die seinen Interessen und denen der Oligarchen, die ihn kontrollieren, dienen.
Die Regierung hat auf unseren Aufstand mit äußerster Brutalität reagiert. Sie hat begonnen, Hausdurchsuchungen durchzuführen, um Leute zu finden, die angeblich eine Revolution planen. Sie haben einige Oppositionsführer verhaftet. Das Regime wird von Tag zu Tag autokratischer. Bis zu 500 Menschen wurden verhaftet, die meisten von ihnen wurden verprügelt, einige wurden gefoltert (selbst der Pflichtverteidiger wertete die Behandlung vieler Inhaftierter als Folter). In den letzten Tagen haben wir gesehen, wie Menschen von der Polizei von der Straße entführt wurden. Unter den Gefangenen befinden sich Professor:innen, Student:innen, Schüler:innen, Künstler:innen und Ärzt:innen.
IB & AS: Wie sehen die Proteste aus? Welche Gruppen und Klassen von Menschen sind daran beteiligt und warum ist der Beitritt zur EU für sie wichtig? Waren es dieselben, die gegen das Sondergesetz protestiert haben? Was sind die Hauptforderungen der Demonstrant:innen?
Ia E: Die Proteste sind enorm. Ein großer Teil der 3,8 Millionen Einwohner des Landes hat sich den Demonstrationen angeschlossen. In Tiflis, einer Stadt mit etwa einer Million Einwohner:innen, protestieren jeden Tag bis in die Nacht hinein mindestens 100.000 Menschen, an manchen Tagen sogar über 150.000.
Sie sind viel größer als die Proteste im Frühjahr gegen das Gesetz über ausländische Agenten, und sie finden nicht nur in Tiflis statt. Sie finden im ganzen Land statt, nicht nur in den großen Bezirken, sondern auch in kleinen Städten auf dem Lande.
Und sie sind weitaus vielfältiger als die Frühjahrsproteste. Menschen aller Altersgruppen haben sich der Bewegung angeschlossen. Junge Menschen sind in großer Zahl unterwegs, aber auch alle anderen. An den Demonstrationen nehmen verschiedene Bevölkerungsschichten teil, von Fachkräften bis zu Arbeiter:innen. Das ist wirklich schön zu sehen.
Alle sind sich der Gefahr bewusst, die uns droht. Ich gehöre zu einer Initiative, die Aktionen zur Verteidigung der Bildung organisiert. Unzählige andere Gruppen in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft tun das Gleiche. Das alles ist nicht sehr koordiniert. Es ist, als würden Ströme von einzeln organisierten Initiativen zu massiven Protesten zusammenlaufen.
Wenn ich morgens aufwache, schaue ich auf den Protestplan, um herauszufinden, an welcher Aktion ich teilnehmen möchte. An einem Tag bin ich bei vier verschiedenen Protesten gelandet. Sie sind so zahlreich, weil sie alle selbstorganisiert sind.
Diese Realität steht im Widerspruch zu den Berichten in den staatlichen Medien, die versuchen, die Proteste als eine Verschwörung, als einen von ausländischen Mächten und ihren lokalen Agenten angezettelten „Maidan“ darzustellen. Das ist nicht der Fall. Er ist spontan und dezentralisiert. Wenn er so zentral geplant wäre, würde man auf den Kundgebungen eine Plattform mit organisierten Redner:innen sehen. Nichts dergleichen ist der Fall. Tatsächlich gibt es auf dem Hauptplatz von Tiflis, wo die Demonstrationen stattfinden, keine Bühne, keine Reden und die Oppositionsparteien führen die Proteste nicht an.
Im Laufe des Tages gibt es nicht einmal organisierte Sprechchöre. Viele der Proteste sind einfach nur stille Auflehnung gegen die Regierung. Die Energie ist jedoch erstaunlich. Aber die Bewegung findet allmählich ihre kollektive Stimme; sie hat bereits zwei grundlegende Forderungen formuliert: Neuwahlen und die sofortige Freilassung aller inhaftierten Demonstrant:innen und Aktivist:innen.
LN: Angesichts des dezentralen Charakters des Protests ist es interessant, seine Sprache zu betrachten. Die Demonstrant:innen schießen Silvesterfeuerwerk und veranstalten Lasershows am Parlamentsgebäude, das zu einem Symbol für alles geworden ist, was in diesem Land falsch läuft. Sie veranstalten Konzerte und schlagen auf die Metallzäune ein, mit denen die Sicherheitskräfte die Demonstrant:innen einsperren und vom Parlament trennen.
Später in der Nacht gehen die Proteste in heftige Partisanenkämpfe auf den Straßen gegen die Spezialeinheiten über. Ein Zeichen für die Angst der Regierung und ihre Hinwendung zur Repression ist das Verbot von Feuerwerkskörpern, Lasern und Gesichtsbedeckungen.
Ia E: Ich möchte betonen, dass inmitten dieser Spontaneität die Menschen beginnen, sich in kleinen Initiativen zu organisieren, die in den Demonstrationen zusammenfinden. In einer dezentralen Weise wird geplant, werden Ziele ausgewählt und wird eine Bewegung organisiert.
So richteten sich die Proteste beispielsweise gegen eine Reihe von öffentlichen Einrichtungen, um deren Verleumdung der Bewegung oder deren Gleichgültigkeit gegenüber der Brutalität des Regimes in die Schranken zu weisen. Zu diesen Einrichtungen gehören der öffentliche Rundfunk, das wichtigste Nationaltheater des Landes, das Bildungsministerium, das Schriftstellerhaus, das Nationale Kinozentrum, der Justizpalast und das Nationale Zentrum für die Verbesserung der Bildungsqualität.
In einigen Fällen schlossen sich Beamte den Demonstrant:innen draußen an, was sehr bewegend zu beobachten war. Auch Beamte haben damit begonnen, Petitionen zu unterzeichnen und Märsche zu organisieren, ungeachtet des Drucks einer Regierung, die die Grenze zwischen Parteiloyalität und staatlichen Institutionen verwischen will.
Die Oppositionsparteien spielen in der Bewegung derzeit so gut wie keine Rolle. Sie wurden ausgegrenzt, ungeachtet dessen, was die westlichen Medien berichten. Die Leute haben gewitzelt, dass diese Parteien wenigstens so etwas tun sollten, wie heißen Tee an den Demonstrationen anzubieten.
LN: Die Medien der Opposition stellen ihre Präsenz jedoch aus offensichtlichen Gründen übermäßig dar. Sie wollen ihr Profil schärfen. Das gilt auch für die Propaganda des Georgischen Traums in den Medien, die den Menschen weismachen will, dass die Proteste von der „radikalen Opposition“ angezettelt werden. Aber wenn man sich die Proteste anschaut, sind sie in Wirklichkeit eine vernachlässigbare Kraft und tun sehr wenig.
Einige dieser Politiker:innen sind sich ihrer unbedeutenden Rolle so sehr bewusst geworden, dass sie sich jetzt weigern, auf den Demonstrationen interviewt zu werden. Diejenigen, die jetzt interviewt werden, sind junge Leute, viele von ihnen mit Gasmasken, und was sie zu sagen haben, macht viel mehr Sinn als alles, was man von den Politiker:innen hören würde.
IB & AS: Diese Proteste scheinen dem Maidan-Aufstand in der Ukraine sehr ähnlich zu sein. Diese begannen unter Student:innen und breiteten sich dann, als sie brutal unterdrückt wurden, schnell auf den Rest der Gesellschaft aus und wurden zu einem militanten Massenaufstand, der die Regierung stürzte. Glaubt Ihr, dass der georgische Aufstand angesichts der Spaltungen in der Regierung, der Rücktritte und der Beteiligung von Oppositionspolitiker:innen an den Protesten eine ähnliche Entwicklung nehmen könnte?
Ia E: Es ist jetzt unvorstellbar, wie diese Krise auf institutionelle, friedliche und legale Weise gelöst werden kann. Unser Land befindet sich in einer umfassenden Konfrontation zwischen dem Volk und der Regierung.
LN: Die Situation eskaliert eindeutig. Die Regierung hat zu Überwachung, Razzien und brutaler Unterdrückung gegriffen. Aber niemand wurde von der Straße verjagt. Die Bewegung fordert jetzt nicht Neuwahlen, sondern dass die Regierung selbst gehen muss, und zwar sofort. Die Massenstimmung lautet: entweder wir oder sie. Jetzt ist der Kipppunkt erreicht, und wir werden sehen, ob die Bewegung eskaliert und die Regierungsfähigkeit des Georgischen Traums herausfordert.
Was die Ähnlichkeiten mit dem ukrainischen Maidan betrifft, so ist es ironischerweise der Georgische Traum, der dem Drehbuch des Maidan folgt – von der Absage der EU-Gespräche wie durch Janukowitsch bis hin zum Verbot von Masken und der Mobilisierung von Straßenschlägern. Sie scheinen nicht in der Lage zu sein, den aktuellen Aufstand als etwas anderes zu verstehen als einen Versuch der inneren und äußeren Feinde, Georgien zu „maidanisieren“. Diese Besessenheit vom Maidan könnte einer der Gründe dafür sein, dass die Regierung kläglich daran gescheitert ist, die Proteste zu verstehen – und sie niederzuschlagen.
Lela Rekhviashvili: Der Georgische Traum hat den Maidan-Aufstand benutzt und missbraucht, um die Menschen vom Protest abzuschrecken. Sie haben gesagt, wenn man den Staat auf diese Weise herausfordert, wird Russland eingreifen und wir werden wie die Ukraine überfallen, besetzt und im Krieg enden. Das haben sie während des gesamten Wahlkampfs getan.
Aber der Georgische Traum hat in seiner Arroganz und vielleicht auch Dummheit genau die Massenopposition provoziert, die er verteufelt hatte. Sein Autoritarismus ist die Hauptursache für diese enorme Welle von Demonstrationen. Jetzt stehen wir auf Messers Schneide, zwischen einer zunehmend autokratischen Regierung und einer Massenbewegung, die keine Anzeichen eines Rückzugs zeigt.
IB & AS: Das ganze Szenario, das ihr da beschreibt, klingt wie viele andere Aufstände in der Welt, in denen die normalen Funktionen der Regierung eine Krise nicht lösen können. In solchen Situationen bilden die Menschen oft Alternativen zur Regierung, beispielsweise Volksversammlungen, die eine Alternative zum Staat darstellen können. Gibt es Anzeichen dafür, dass all diese Selbstorganisation, die ihr beschreibt, zu vermehrter Einheit und besserer demokratischer Entscheidungsfindung zusammenwächst?
LN: Noch nicht. Im Moment mobilisieren sich die Menschen und finden neue Wege, um dem Tränengas zu widerstehen, der Repression zu entgehen und zu verhindern, dass sie von den Behörden durchsucht und verhaftet werden.
Ia E: Die Menschen beginnen, sich zu organisieren. Mehrere Gruppen und Bewegungen haben sich zu gemeinsamen Projekten zusammengeschlossen. Das beste Beispiel dafür ist, wie viele Kräfte sich zusammengeschlossen haben, um gegen die parteiische Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu protestieren und zu fordern, dass dieser die Proteste live überträgt und die Teilnehmer:innen interviewt, wodurch der Sender schließlich zum Einlenken gezwungen wurde. Es gibt Beispiele, aber die Menschen müssen noch Volksversammlungen organisieren, um über den Fortgang der Bewegung zu diskutieren und gemeinsam Initiativen zu planen.
LN: Selbst diejenigen unter uns, die analysieren und schreiben, fangen gerade erst an, die Ereignisse des letzten Monats nachzuvollziehen. Der ganze Prozess hat uns im Sturm erobert. Da die Unzufriedenheit mit den gefälschten Wahlen keinen anhaltenden Protest hervorrufen konnte, hatten wir uns auf einen langsamen, in kleineren Gemeinschaften organisierten Widerstand eingestellt. Doch dann explodierten die Proteste zu einer ausgewachsenen Bewegung, die sich der Regierung entgegenstellt.
IB & AS: Georgien scheint aufgrund seiner Rolle als Transitland für den globalen Handel zwischen verschiedenen imperialen Großmächten – den USA, der EU, Russland und China – festzusitzen. Erklärt die Rolle Georgiens im globalen Kapitalismus. Würde die Aussetzung des EU-Beitritts durch den Georgischen Traum die Position des Landes im globalen Kapitalismus verändern? Würde es stärker in den russischen Kapitalismus integriert werden?
LR: Georgien ist ein typisches Land der Peripherie, in dem imperiale Mächte die Schaffung eines räuberischen Wirtschaftssystems ermöglicht haben, das sich als Entwicklung tarnt. Die EU und die USA haben die politische Wirtschaft des Landes seit Anfang der 1990er Jahre maßgeblich geprägt und damit zur Entstehung unhaltbarer Widersprüche beigetragen. Einerseits wollen sie, dass Georgien demokratisch wird, andererseits wollen sie und die lokalen Kapitalist:innen, insbesondere der mächtigste Oligarch Iwanischwili, das Land für ihre Profite ausplündern.
Ihr Entwicklungsprogramm ist nicht umsetzbar und kann eine Demokratie nicht gewährleisten. Warum? Weil die Ausplünderung und Verarmung eine Opposition hervorbringen, die die Entwicklungsstrategie in Frage stellt. Um diesen Widerstand einzudämmen, ist Repression und damit eine Hinwendung zum Autoritarismus erforderlich.
Der Energiesektor ist ein gutes Beispiel für diesen Widerspruch, zumal es derzeit ein gemeinsames Ziel der EU und der georgischen Regierung ist, Georgien zu einer „Energiedrehscheibe“ und zu einem Teil eines „grünen“ Energiekorridors zu machen. In den 1990er Jahren, vor allem aber seit der Rosenrevolution von 2003, haben westliche Regierungen, Hilfsorganisationen (z. B. USAID) und Entwicklungsbanken (z. B. Weltbank, Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung) eine wichtige Rolle bei der Schaffung staatlicher Institutionen gespielt, die die Privatisierung und Deregulierung des Energiesektors erleichtern sollten.
Bis 2008 hatte Georgien alle bis auf zwei seiner bis zu 50 Wasserkraftwerke aus sowjetischem Besitz privatisiert. Während westliche Institutionen die Privatisierung und die Schaffung einer von ausländischen Direktinvestitionen abhängigen Wirtschaft unterstützten, war es vor allem russisches Kapital, das Kraftwerke und Energieverteilungsanlagen aufkaufte.
Als die Möglichkeiten, ausländische Direktinvestitionen durch Privatisierung anzuziehen, versiegten, begann die Regierung – wiederum in Zusammenarbeit mit westlichen Akteuren – im Rahmen der EU-Agenda für einen umweltverträglichen Übergang, den Neubau von Wasserkraftwerken zu fördern. Bis 2024 unterzeichnete die Regierung Verträge für 214 neue Wasserkraftwerke im ganzen Land, obgleich die vorhandenen Kapazitäten den inländischen Strombedarf fast decken. Um Finanzkapital anzuziehen, bot sie Land und Wasserressourcen zu nominalen Preisen an und versprach, dass der Staat Investoren vor einer Reihe von finanziellen, regulatorischen und politischen Risiken schützen würde.
In Anbetracht des extraktiven Charakters der neuen Wasserkraftprojekte ist es den lokalen Volksbewegungen gelungen, sich gegen diese Projekte zu wehren und sie manchmal zu stoppen oder zu behindern, insbesondere die großen Projekte wie Namakhvani, Nenskra und Khudoni.
Als die EU mit der Schaffung eines „grünen Energiekorridors“ durch Aserbaidschan, Georgien, Rumänien und Ungarn begann und die Finanzierung eines Unterseekabels für Strom durch das Schwarze Meer zusagte, erhielt die Regierung neuen Auftrieb, um alle abgelehnten Wasserkraftwerksprojekte wiederzubeleben und 2022 neue Projekte vorzulegen. Europäische Institutionen, insbesondere die Europäische Energiegemeinschaft (European Energy Community), haben sich an den Planungsaktivitäten beteiligt, mit denen die georgische Regierung den Stromexport zum Schlüsselelement ihrer Entwicklungsagenda erklärt und sich zum Bau aller zuvor umstrittenen großen Wasserkraftwerke verpflichtet hat.
In den 15 Jahren, in denen die neue Wasserkraft als „grüner Übergang“ und entwicklungspolitisches Allheilmittel angepriesen wurde, hat eine Reihe lokaler Kapitalist:innen gelernt, wie sie vom Bau profitieren können, wobei einige von ihnen neue Anlagen mit dem Kryptomining in Verbindung bringen und so eine starke lokale Lobby für den weiteren Ausbau des Sektors schaffen.
Der Georgische Traum erklärt die Oppositionsbewegungen gegen die Wasserkraft zu einem seiner Hauptfeinde. Seine Spitzenleute erklären ganz offen, dass die Konsolidierung der Macht, einschließlich der Verabschiedung des Gesetzes über ausländische Agenten, wichtig ist, um diese Opposition gegen die wirtschaftliche Entwicklung Georgiens zu unterdrücken.
Das ist es, was ich meine, wenn ich sage, dass die Entwicklungsagenda, die die georgische Regierung in Zusammenarbeit mit den westlichen Mächten und auch zum Nutzen anderer, einschließlich des russischen und chinesischen Kapitals (das zwar nicht im Energiebereich, aber bei den Verkehrsinfrastrukturen eine wichtige Rolle spielt), ausgearbeitet hat, schwer, wenn nicht gar unmöglich auf demokratischem Wege umzusetzen ist. So wendet sich der Georgische Traum, ähnlich wie seine politischen Vorgänger, dem Autoritarismus zu, um die Interessen des lokalen und internationalen Kapitals besser bedienen zu können.
Wenn wir darauf bestehen, dass der Zusammenbruch der EU-Integration gefährlich ist, dann nicht, weil wir uns der problematischen Folgen der EU-Integration nicht bewusst sind oder weil wir nicht wissen, wie der Rechtspopulismus sowohl die Kernländer als auch die peripheren Volkswirtschaften Europas erschüttert und wie viele europäische Länder ihre Verpflichtung gegenüber den Menschenrechten, dem Völkerrecht, der UNO, dem Internationalen Strafgerichtshof und dem Internationalen Gerichtshof über Bord werfen, indem sie ihren gemeinsamen Krieg, ihren Völkermord, in Palästina durchführen.
Stattdessen ist für uns glasklar, dass die derzeitige autoritäre Konsolidierung dazu dient, die gleiche problematische wirtschaftliche Entwicklungsagenda mit einem noch brutaleren Gesicht abzuspulen und jede Möglichkeit, auch nur dagegen zu protestieren, zu unterdrücken. Dies bedeutet, an Europas Peripherie zu liegen, ohne durch die grundlegendsten Mechanismen zum Schutz der sozialen und politischen Rechte vor den schlimmsten Auswirkungen dieser Randständigkeit geschützt zu sein.
Was ist nun mit Russland und China? Über Russland können wir nicht viel sagen, da alle Geschäfte hinter den Kulissen und nicht in der Öffentlichkeit gemacht wurden. Hat Russland Druck auf Georgien ausgeübt? Das ist wahrscheinlich, aber wir kennen keine Einzelheiten über die Art des Drucks. Wir können jedoch eindeutig feststellen, dass russische Regierungsvertreter ihre Zufriedenheit über den Abbruch der Beziehungen zwischen der EU und Georgien zum Ausdruck bringen.
China hat sich ebenfalls ruhig verhalten, aber seine wirtschaftlichen Interessen sind klar. Es betrachtet Georgien als Transitland, das ihm Zugang zum europäischen Markt verschafft. Georgien ist besonders wichtig, nachdem Russlands imperialistische Invasion in der Ukraine Chinas nördliche Route nach Europa abgeschnitten hat.
Eine der alternativen Routen, der so genannte mittlere Korridor der BRI (Belt and Road Initiative), der durch Georgien führt, hat nun erheblich an Bedeutung gewonnen. Das Letzte, was China will, ist jede Art von Instabilität, die seinen Handel stören würde. Beitritt oder Autoritarismus sind ihm egal, solange die Route offen bleibt.
LN: Lelas Erklärung des Georgischen Traums ist weitaus besser als die der Campist:innen [Anhänger:innen des geopolitischen Lagerdenkens], die implizieren, dass es sich um eine Art antiimperialistische Partei handele. Die Realität ist jedoch viel banaler: Georgien ist ein oligarchisches Regime, in dem Iwanischwili die Loyalität der Elite sicherstellt, indem er Geschäftsleuten und Politiker:innen mit geringerem Reichtum Vorteile gewährt, während alle relevanten staatlichen Institutionen, vor allem die Justiz, zum Schutz ihrer Interessen missbraucht werden. Es gibt also eine eigenständige, innenpolitische Dynamik, die das oligarchische System in Georgien reproduziert. Sie lässt sich keineswegs auf die bloße Interaktion mit dem globalen oder westlichen Kapital zurückführen.
Die Campist:innen begreifen das nicht und entschuldigen am Ende alles, was der Georgische Traum tut, von der Verabschiedung des Gesetzes über ausländische Einflussnahme bis hin zur Wahlmanipulation und sogar zur Unterdrückung der aktuellen Bewegung. Aber im Gegensatz zur Lesart vieler Campist:innen ist die Art und Weise, wie der Georgische Traum mit der Situation umgeht, keineswegs nur eine Reaktion auf den „westlichen Imperialismus“, was indirekt seine autoritären Maßnahmen als Selbstverteidigung rechtfertigen würde.
Die Campist:innen prangern einfach Europa wegen seiner kolonialen Geschichte, seiner neokolonialen Gegenwart und seiner Mitschuld am Völkermord an, als ob damit alles erledigt wäre. Vieles davon ist wahr, aber oft wird China als Alternative dargestellt, obwohl es autokratisch ist und sich an unserer Ausbeutung und Unterdrückung beteiligt. Das ist keine Alternative.
Ich halte es für verhängnisvoll, wenn die Linke ihr Bekenntnis zur Demokratie aufgibt und im Namen der Souveränität die autoritäre Wende des Georgischen Traums nachplappert. Das ist nicht nur falsch, sondern politisch verhängnisvoll. Diejenigen, die sich einer emanzipatorischen Politik verschrieben haben, sollten das ablehnen.
Wenn die Linke diese Position übernimmt, dann sorgt sie dafür, dass sie in der größten Bewegung seit Generationen, die für Demokratie und Gleichheit kämpft, isoliert und ohne Einfluss bleibt. Damit würde die Linke auf der anderen Seite der Barrikaden der Bewegung stehen.
LR: Diese campistische Linke plappert den Missbrauch von Begriffen wie Souveränität und dekolonialer Diskurs durch die Regierung nach. Damit verbündet sie sich mit einer Regierung, die unseren Oligarchen und dem internationalen Kapital dient und nun ihr eigenes Volk gewaltsam unterdrückt.
Autoritäre Staaten wie Russland, Ungarn und China nutzen zynisch die schreckliche Bilanz des Westens in punkto Imperialismus und Kolonialismus, um ihre eigene räuberische Herrschaft zu rechtfertigen. Die Linken, die das mitmachen, kokettieren gefährlich mit einem rot-braunen Bündnis, wie es Sara Wagenecht in Deutschland tut.
IB & AS: Wie haben all diese Mächte, die aus unterschiedlichen Gründen ein Interesse an Georgien haben, angesichts dieser Transitdrehscheiben-Position, auf den Aufstand und die Krise in Georgien reagiert: China, Russland, die USA, die Europäische Union?
LN: Bislang haben nur die westlichen Mächte die Unterdrückung und Gewalt der Regierung verurteilt. Sie haben auch das Wahlergebnis nicht anerkannt, während China, die Türkei, der Iran und Russland dem Georgischen Traum zu seinem Sieg gratuliert haben. Russland hat außerdem erklärt, dass es bereit wäre, Truppen zu entsenden, falls der Georgische Traum Hilfe benötige.
Ia E: Die EU-Regierungen, nicht aber die westlichen Entwicklungsbanken, haben die Brutalität des Georgischen Traums verurteilt. Warum eigentlich? Weil der Georgische Traum jede Bereitschaft zeigt, seine Kredite weiter zu zahlen und die vertraglich vereinbarten Entwicklungsprojekte aufrechtzuerhalten. Die Banken scheinen ihre wirtschaftlichen Interessen über die Demokratie zu stellen. Gleichzeitig ist klar, dass der Georgische Traum und die ihn unterstützenden Wirtschaftseliten durch die von diesen Banken finanzierten Entwicklungsprojekte enorm profitiert haben. Dies veranlasst mich, noch einmal zu betonen, dass der wirtschaftliche Entwicklungspfad, den Georgien eingeschlagen hat, der Regierung weder vollständig vom Westen aufgezwungen wurde noch unvermeidlich war, sondern vielmehr eine bewusste und ziemlich profitable Entscheidung der Regierung des Georgischen Traums war, die Regeln des weltweit dominierenden Entwicklungsdiskurses zu akzeptieren.
LN: Im schlimmsten Fall wird die EU aufhören, normativen und politischen Druck auf Georgien auszuüben, damit es sich demokratisiert, und auch unter dieser erbärmlichen Regierung weiterhin mit Georgien Geschäfte machen, wie sie es mit Aserbaidschan, Serbien und anderen zentraleuropäischen und zentralasiatischen Ländern tun. Serbien könnte ein besonders hervorstechender Fall sein, da es ein Land ist, das im Beitrittsprozess festzustecken scheint. Während sie Serbiens Autoritarismus anprangert, schreibt die EU unpopuläre Verträge über den Abbau von Lithium in diesem Land vor.
Campist:innen im Ausland oder unsere lokalen Souveränist:innen könnten dies so interpretieren, dass der Westen ein souveränes Land endlich in Ruhe lässt. Doch in Wirklichkeit wird dies ein Problem für uns sein, denn der normative Horizont der Demokratie, der mit dem europäischen Rahmen verbunden ist, ist ein unverzichtbares Instrument, um Druck auf eine Regierung auszuüben, die ansonsten darauf aus ist, die Demokratie vollständig zu zerschlagen. In diesem Sinne ist die EU für die Demonstranten ein Symbol für Rechtsstaatlichkeit, Bürgerrechte und Gleichheit.
Zum jetzigen Zeitpunkt scheint das Streben nach Europa und die Sprache der „Verteidigung von Georgiens heller, europäischer Zukunft“ auf Massenebene die einzige verfügbare Sprache zu sein, um Forderungen nach Demokratie und sozialer Gerechtigkeit zu artikulieren. Die Frage ist also, wie die Menschen diese Forderungen neu artikulieren, wenn der europäische Horizont tatsächlich zusammenbricht. Wie wollen und können wir für politische Demokratie und wirtschaftliche Gleichheit kämpfen, losgelöst von den Demokratie- und Menschenrechtsnormen, die vom „kollektiven Westen“ ausgehen?
IB & AS: Wofür sollten sich die georgische Linke, die sozialen Bewegungen und die Gewerkschaften in dieser dynamischen Situation eurer Meinung nach einsetzen? Gibt es eine Möglichkeit, eine politische Alternative auf der Linken zu schmieden, um den Georgischen Traum und die pro-kapitalistischen Oppositionsparteien herauszufordern?
Ia E: Das ist sehr schwer zu sagen, denn in der Vergangenheit gab es auch schon Versuche, aus denen nichts wirklich herauskam. Nun bin ich sehr hoffnungsvoll, denn die autoritäre Wende des Georgischen Traums hat die Menschen zu einer Art politischem Erwachen gezwungen.
Wir müssen einen Dialog über den Aufbau einer Partei beginnen. Im Moment beginnen die Leute, über die Organisation einer Plattformbewegung zu sprechen, die einige der selbstorganisierten Kräfte zusammenbringt, um gemeinsame Forderungen zu stellen. Das könnte einen Prozess in Gang setzen.
LN: Inzwischen verspüren immer mehr Menschen das Bedürfnis, sich in zumeist neuen Gewerkschaften zu organisieren, die nicht von den Interessen der Partei Georgischer Traum dominiert werden. Dies ist eine unmittelbare Reaktion auf zwei Entwicklungen: Viele haben den Streik als das wirksamste friedliche Mittel des Protests und Widerstands entdeckt, aber da ein Streik in Georgien rein rechtlich gesehen nicht einfach ist, erscheint die gewerkschaftliche Organisation als der praktischste Weg, es zu versuchen. Noch wichtiger ist, dass viele Staatsbedienstete nach Möglichkeiten suchen, sich gewerkschaftlich zu organisieren, und zwar als Reaktion auf die neuen harten Änderungen des Gesetzes über den öffentlichen Dienst, die der Georgische Traum eilig verabschiedet hat und die es den parteitreuen Leitern verschiedener öffentlicher Einrichtungen bald leichter machen werden, regierungskritische Staatsbedienstete zu entlassen oder unter Druck zu setzen. Plötzlich stehen Streiks und Gewerkschaften, die vor einigen Wochen noch als „linke“ oder „sowjetische“ Anachronismen verunglimpft wurden, als eine aus der Mitte der Protestbewegung heraus entstandene organische Notwendigkeit im Vordergrund.
Unsere erste Aufgabe besteht also darin, den Kampf zu organisieren und ihn aufrechtzuerhalten. Die autoritäre Reaktion der Regierung auf unsere Bewegung bringt die Menschen dazu, über Strategien und Taktiken nachzudenken, die die liberale Opposition versucht hat zu diskreditieren, wie zum Beispiel einen Generalstreik, um unsere Demokratie zu bewahren.
IB & AS: Welche Position sollte die internationale Linke in dieser Situation einnehmen? Und was können wir tun, um Georgiens Kampf für Selbstbestimmung, Demokratie und Gleichheit zu unterstützen?
LR: Die internationale Linke steht eigentlich vor der gleichen Frage wie die georgische Linke: Wie kann man den vernebelnden Rahmen eines Konflikts zwischen der EU und Russland überwinden? Der Schlüssel liegt darin, zu verstehen und zu erklären, wie geopolitische Rivalitäten Länder in der Peripherie unter Druck setzen.
Niemand in der Linken sollte erwarten, dass eine der imperialen Mächte – die USA, die EU, Russland und China – unseren Interessen dient. Unabhängig von ihren Rivalitäten teilen sie eine räuberische Agenda und werden ein autoritäres Regime unterstützen, um sicherzustellen, dass sie diese Politik durchsetzen können. Wichtig ist, dass der zwischenimperiale Wettbewerb und der Kampf um die Hegemonie neue Risiken und Schwachstellen für die Staaten an der Peripherie schaffen, die ernst genommen werden müssen.
Es wäre schön, wenn die internationale Linke mit mehr georgischen Linken und Aktivist:innen zusammenarbeiten würde. Gegenwärtig besteht in weiten Teilen der Linken eine starke Tendenz, nach Leuten zu suchen, die ihren abwegigen und irreführenden Rahmen bestätigen, wonach der westliche Imperialismus der alleinige Schuldige ist, eine Massenbewegung des Volkes als seine Handlangerin anklagt und das lokale oligarchische Regime entlastet.
Wenn die internationale Linke der Linie dieser Leute folgt, wird sie am Ende die Regentschaft des Georgischen Traums über den peripheren Kapitalismus unterstützen. Einige in der westlichen Linken würden davon profitieren, wenn sie aufhören würden, so selbstbezogen zu sein und ihre Kritik auf den westlichen Imperialismus zu beschränken. Ich fordere sie nicht auf, den Westen nicht zu kritisieren, aber sie sollten dies ernsthafter tun und auch nicht-westliche Akteure kritisieren. Nur so kann man eine konsequente Position nicht nur gegen den Westen, sondern gegen Kapitalismus und Imperialismus ohne Ausnahme einnehmen.
LN: Meine grundsätzliche Bitte an die internationale Linke ist, unsere lokale Handlungsfähigkeit anzuerkennen, die Handlungsfähigkeit des georgischen Volkes in unserem Kampf für Demokratie gegen dieses autoritäre Regime. Hört auf, Narrative von einem „zweiten Maidan“ und einer „farbigen Revolution“ zu wiederholen. Dadurch fühlt ihr euch vielleicht selbstgerecht, aber es führt dazu, dass ihr uns verratet und das Regime, das uns unterdrückt, entschuldigt.
Ia E: Ich finde es erstaunlich, dass die Linke vergisst, dass die Menschen in der Peripherie eigenständig handeln können. Das ist eine Politik der Hoffnungslosigkeit. Unsere kollektive Handlungsfähigkeit ist die Grundlage der Solidarität in unserem Land und mit anderen in der Welt. Bitte unterstützt unseren Kampf gegen den Georgischen Traum.
Dieses Interview erschien ursprünglich am 21. Dezember 2024 im Magazin Tempest und am 25. Dezember im Magazin Posle.[1] Wir danken Tempest und Posle dafür, dass wir das Interview auf Deutsch publizieren können. Christian Zeller übersetzte es aus dem Englischen.
Referenzen
[1] Der Artikel erschein zuerst auf Englisch als Uprising for democracy in the Caucasus. The Georgian people vs. the government. Tempest, 21. Dezember 2024 https://tempestmag.org/2024/12/uprising-for-democracy-in-the-caucasus/; The Georgian People Against the Government. Posle, 25. Dezember 2024 https://posle.media/language/en/the-georgian-people-against-the-government/
Bildquelle: Posle