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Der russische Besatzungskrieg gegen die ukrainische Bevölkerung hat weite Teile des politischen Establishments und der Bevölkerungen in Westeuropa überrascht. Geradezu erstaunt hat aber der entschlossene und breit getragene Widerstand der ukrainischen Bevölkerung gegen die Besatzungstruppen.
Dieser Krieg hat bereits früher bestehende Risse im Feld der Linken zu tiefen Gräben anwachsen lassen, die kaum mehr je zugeschüttet werden. Stellt man sich auf die Seite des durch die ukrainische Bevölkerung getragenen Widerstands gegen eine imperialistische Besatzungsmacht. Bleibt man indifferent und fordert abstrakt, ungeachtet der konkreten Vorgänge, Frieden. Oder will man ganz offen Russland als die schwächere imperialistische Macht im Namen der Multipolarität gewähren lassen.
Der russische Besatzungskrieg und der ukrainische Widerstand erinnern uns an grundlegende Haltungen, Konzepte und Positionierungen, die sozialistische und kommunistische sowie antikoloniale Bewegungen im Laufe ihrer widersprüchlichen Geschichte entwickelt haben. Dazu gehören der berechtigte Widerstand gegen imperialistische Angriffe, das Eintreten für nationale und kulturelle Selbstbestimmung sowie die Verteidigung demokratischer und sozialer Rechte. Wie können die Organisationen der Klasse der Arbeitenden die Kräfteverhältnisse in der angegriffenen Gesellschaft zu ihren Gunsten verändern?
Unmittelbar nach Beginn des russischen Angriffs haben wir von emanzipation zwei weit beachtete Online-Veranstaltungen mit ukrainischen und russischen Sozialist:innen organisiert. Wir wollten ihnen Gehör verschaffen und dazu beitragen, dass ihre Betroffenheit, ihre Analysen und ihr Widerstand gegen den russischen Imperialismus zu einem relevanten Faktor in der Positionierung der Linken in Westeuropa und ganz besonders im deutschen Sprachraum werden. Seither publizierten wir zahlreiche Beiträge von Genoss:innen aus der Ukraine und Russland
Doch wir müssen ernüchtert feststellen, dass gerade die deutschsprachige Linke sich ausgesprochen stark von geopolitischen Erwägungen leiten lässt. Die früher angestrebte Entspannung mit der UdSSR wird nahtlos in den Wunsch verlängert, mit dem Putin-Regime eine sogenannte gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur anzustreben. Das läuft darauf hinaus, die Wünsche der Menschen und Bevölkerungen, die in den Gebieten zwischen Deutschland und Österreich auf der einen und Russland auf der anderen Seite leben, auszublenden. Diese Position kommt zugleich den Interessen gewichtiger Teile des deutschen und österreichischen Kapitals entgegen, für die Russland ein bedeutender Markt ist und vor allem strategisch wichtiger Lieferant von Gas für die deutsche Industrie war.
Leider ist es uns nur ansatzweise gelungen, den demokratischen Sozialist:innen, Feminist:innen und Anarchist:innen in der Ukraine, die sich auf unterschiedliche Weise am Widerstand gegen die Besatzungstruppen beteiligen und ihren russischen Genoss:innen, die sie unterstützen, hier in Deutschland, Österreich und der Schweiz ein angemessenes Echo zu verschaffen.
Die Kontroversen in der deutschsprachigen Linken in Bezug auf den russischen Krieg gegen die ukrainische Bevölkerung konzentrieren sich auf vier Konfliktlinien.
Orientieren wir uns empathisch an den Ambitionen der geschundenen Bevölkerung und ihren emanzipatorischen Organisationen oder leiten wir unsere Positionierung aus einem geopolitischen Verständnis der Rivalität der imperialistischen Großmächte ab. Unsere Antwort von emanzipation war und ist klar. Wir stellen uns auf die Seite der widerständigen Bevölkerung, der Gewerkschaften und feministischen Organisationen. Andere charakterisieren den Krieg als Stellvertreterkrieg, in dem die Ukraine ihre Soldat:innen auf die Schlachtbank im Interesse der NATO, vor allem der USA, führe. Auf diese Weise lässt sich aber nicht erklären, warum die Ukrainer:innen bereits so lange Widerstand leisten und warum die USA und die europäischen Mächte seit Kriegsbeginn die Ukraine nicht so ausgerüstet haben, dass sie in der Lage gewesen wäre, die Bevölkerung wirksam zu schützen und den Krieg zu gewinnen.
Eine wichtige Kontroverse dreht sich um die Bedeutung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung. Sind Kämpfe von angegriffenen, bedrohten oder unter einer Besatzungsmacht leidenden Völkern für nationale Selbstbestimmung berechtigt, unabhängig davon, ob dieser Kampf von einer bürgerlichen Regierung oder gar reaktionären Kraft angeführt wird? Ja, schließlich muss es der betroffenen Bevölkerung obliegen, sozialistische und emanzipatorische Kräfte zu ihren Vertreter:innen zu machen. Es wäre unangebracht, den Menschen das Recht auf nationale Selbstbestimmung streitig zu machen, nur weil sie eine Führung haben, die diesen Kampf in einer bürgerlichen oder sogar reaktionären Perspektive und damit in die Sackgasse führt. Nur innerhalb dieses Kampfes haben emanzipatorische Kräfte eine Chance ihren Einfluss in der Bevölkerung zu erweitern.
Der nächste Konfliktpunkt betrifft die Frage, ob eine multipolare Weltordnung zu befürworten ist oder ob vielmehr die demokratischen, sozialen und ökologischen Kämpfe der Unterklassen in allen Gesellschaften die Richtschnur vorgeben sollen, und zwar unabhängig von der imperialistischen Rivalität und geopolitischen Bündniskonstellation. Unsere Haltung ist auch hier klar. Wir orientieren uns prinzipiell an den Interessen der arbeitenden Klassen und ihren Kämpfen.
Damit ist eine weitere Herausforderung verbunden. Wie ist das Putin-Regime und das Herrschaftssystem in Russland einzuschätzen? Russland ist ein imperialistisches Empire und Putin knüpft in seiner Rhetorik gezielt am Zarenreich an. Auch die UdSSR hatte sich nicht komplett von der imperialen Logik des zaristischen Russlands verabschiedet. Diesen Sachverhalt wollen viele Sozialist:innen und Kommunist:innen nicht anerkennen. Russland ist eine Diktatur, die erklärtermaßen auch in den kommenden Jahrzehnten die Extraktion von Öl und Gas ausbauen will. Etliche marxistische Autor:innen argumentieren, dass das Putin-Regime eine neue Form von Faschismus verkörpere. Unabhängig davon, ob man diese Charakterisierung teilt, ist offensichtlich, dass ein russischer Sieg gegen die Ukraine mit einer enormen weltweiten reaktionären Welle einhergehen würde.
Die in dieser Ausgabe versammelten Beiträge sprechen diese Konfliktlinien aus einer grundlegenden Positionierung der Solidarität mit den kämpfenden Sozialist:innen, Anarchist:innen, Feminist:innen und Gewerkschafter:innen in der Ukraine an.
Kurz nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine haben die Russländische Sozialistische Bewegung und Sotsialnyi Rukh in der Ukraine eine wichtige gemeinsame Stellungnahme Gegen den russischen Imperialismus veröffentlicht. Wir dokumentieren diese Erklärung, die eigentlich zur Richtschnur der sozialistischen Kräfte weltweit hätten werden sollen. Leider ignorieren weite Teile der „westlichen Linken“ sozialistische Stimmen aus Osteuropa.
Yuliya Yurchenko berichtet im Gespräch mit Ashley Smith über den beeindruckenden Widerstand der ukrainischen Bevölkerung gegen die russischen Besatzungstruppen des Putin-Regimes. Sie blickt zurück auf den Maidan-Volksaufstand von 2014 gegen die Oligarchen und die russische Aggression in der Ostukraine. Neben dem ukrainischen Kampf für nationale Selbstbestimmung weist der Krieg auch eine Dimension der imperialistischen Rivalität auf. Dabei ist Russland bestrebt, seine Herrschaft über die verlorenen Kolonialgebiete wiederherzustellen. Die westlichen Imperialismen wiederum tragen mit ihrer Politik der Schuldenknechtschaft zur Verarmung der Gesellschaft bei.
Auch Taras Bilous, aktiv in der demokratischen sozialistischen Organisation Sotsialnyi Rukh und im Redaktionskollektiv der ukrainischen Zeitschrift Commons, argumentiert in seinem Beitrag Selbstbestimmung und der Krieg in der Ukraine, dass die berechtigte bewaffnete Selbstverteidigung der Ukraine und nicht die imperialistische Rivalität der imperialistischen Großmächte das zentrale Kennzeichen dieses Krieges ist. Er kritisiert jene „westlichen Linken“, die den Selbstbehauptungswillen der ukrainischen Bevölkerung gegen die russische Besatzungsmacht missachten. Er warnt, die „westliche Linke“ eindringlich vor den Konsequenzen eines Sieges des Putin-Regimes.
Als Antwort auf einen Aufruf von Feminist:innen in Europa und Nordamerika, den keine einzige Frau aus Osteuropa unterschrieb und der auf eine Entsolidarisierung mit dem ukrainischen Widerstand hinauslief, haben ukrainische Feminist:innen in ihrem breit getragenen „feministischen Manifest“ „das Recht auf Widerstand“ betont. Die Feministin Sasha aus Russland schildert im Interview mit Ashley Smith die Schwierigkeiten und Herausforderungen Im Inneren des russischen Widerstands. Olena Slobodian verbindet die Zukunft der Ukraine mit jener ganz Europas. Sie erörtert linke Positionen zu einem EU-Beitritt der Ukraine und erklärt, warum die Ukraine das Recht haben muss, der EU beizutreten und dieser Beitritt zu begrüßen ist.
Das Putin-Regime führt in der Ukraine nicht seinen ersten Zerstörungskrieg. Vorangegangen sind die Kriege gegen die tschetschenische, georgische und syrische Bevölkerung. Dort hat die russische Armee Erfahrungen für ihren Großangriff gegen die ukrainische Bevölkerung gesammelt. Yassin al-Haj Saleh zeigt anschaulich, warum die Ukraine eine syrische Angelegenheit ist. Doch wie lässt sich dieser systematische Kriegskurs des Putin-Regimes erklären? Ilya Budraitskis begründet historisch und politisch ausführlich, warum der Putinismus: eine neue Form von Faschismus darstellt. Mit der kriegerischen Expansion knüpft Putin erklärtermaßen an der Tradition des russischen Zarenreiches an.
Étienne Balibar erörtert, wie der gegenwärtige Krieg Russlands gegen die Ukraine charakterisiert werden kann. Anschließend geht er der Frage nach, wie dieser Krieg die Funktion des Nationalismus und die Entstehung der “Nations-Form” bestimmt? Schließlich analysiert er, wie dieser Krieg verschiedene politische Räume in einer globalen Struktur von Konflikten und Handlungsfähigkeiten artikuliert. Aus dieser Analyse folgt, dass wir das ukrainische Volk bedingungslos unterstützen müssen, das unter einer verbrecherischen Invasion und Massenvernichtung leidet und das Recht hat, sich zu verteidigen und seinen Unterdrücker zu besiegen.
Auf Initiative von Mitgliedern von emanzipation erklärt ein transnationales 15-köpfiges Autor:innenkollektiv ausführlich, warum der ukrainische Widerstand zu unterstützen ist und gemeinsame internationale Strategien zu entwickeln sind, die darauf zielen das fossile Kapital zu entmachten. In einem anschließenden Diskussionsbeitrag widersetzt sich Christian Zeller der Vorstellung, dass die Ukraine den bewaffneten Widerstand aufgeben und die Besatzung akzeptieren solle, um den Krieg zu beenden. Renate Hürtgen analysiert in ihrem politischen Essay vor dem Hintergrund ihrer Biografie als ehemalige Bürgerin der DDR den Charakter des Krieges in der Ukraine und unterstreicht das Recht auf Selbstbestimmung. Peter Bierl kritisiert die deutsche Friedensbewegung und stellt klar, dass es Russland ist, das den Krieg beenden und sich aus der Ukraine zurückziehen muss.
Kavita Krishnan, marxistische feministische Aktivistin und ehemaliges Mitglied des Politbüros der Communist Party of India (Marxist-Leninist) Liberation, kritisiert aus einer emanzipatorischen und demokratischen Position, dass sich viele klassische Linke einem Konzept der weltweiten Multipolarität verschrieben haben und damit auch autoritäre Regimes akzeptieren.
Der Krieg hinterlässt auch in den politischen Auseinandersetzungen über die Energiepreise seine Spuren. Viele Linke in Deutschland reagierten auf die Energiepreiskrise, die Putin durch seinen Stopp der Gaslieferungen noch verschärfte, mit unökologischen und unsolidarischen Reflexen. Christian Zeller argumentiert in seinem Artikel Energiekrise solidarisch und ökologisch anpacken – ökosozialistische Perspektiven für einen Dreiklang von Maßnahmen: für eine günstige Basisversorgung als Teil der gesellschaftlichen Infrastruktur, für einen Stopp des Bezugs russischen Gases und Öls und für eine deutliche Senkung des gesamtgesellschaftlichen Energieverbrauchs.
Christian Zeller
Coverbild: A swing bridge frozen in place – which side are you on? – Matthew Henry by Burst