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Die Welt scheint aus den Fugen. Gleich mehrere umfassende Krisen verstärken sich gegenseitig und verbinden sich zu einer komplexen Gemengelage. Das Erdsystem hat erste Kipppunkte erreicht. Der Klimawandel lässt sich nur noch bremsen, aber nicht mehr abwenden. Die Folgen der Erderhitzung und das Überschreiten der planetaren Belastungsgrenzen sind bereits im Alltag angekommen: Hitzewellen, versiegende Flüsse und Seen, Überschwemmungen und Brände sowie neuartige Krankheiten und Pandemien werden zum Normalzustand. In Indien steigen die Temperaturen über die absoluten Belastungsgrenzen der Menschen. Auch in Europa ist die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Trinkwasser keine Selbstverständlichkeit mehr. Gleichzeitig bringen Wirtschaftskrise und Preisexplosion eine Massenverarmung mit sich. Weite Teile der Bevölkerung wissen nicht mehr, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollen.
Als wäre dies nicht genug, ist auch der Krieg nach Europa zurückgekehrt. Das Putin-Regime macht mit seinem andauernden Besatzungskrieg gegen die Ukraine nicht nur das Leben der Menschen in der Ukraine zur Hölle, sondern verschärft auch die weltweiten Rivalitäten. Noch vor kurzem schien undenkbar, was jetzt diskutiert und im Eilverfahren umgesetzt wird: Wiederinbetriebnahme bereits abgeschalteter Kohlekraftwerke, Renaissance der Atomenergie, Tankrabatte für die großen Spritfresser und eine teure Rettungsaktion für die Energiekonzerne. Wie so oft werden die Kosten der Krise auf die breite Mehrheit der Bevölkerung abgewälzt.
Die Wucht und das Ineinandergreifen der Probleme haben zu einer Orientierungskrise geführt. Als emanzipatorische Kräfte stehen wir vor der Herausforderung, die Energiekrise samt massiven Preissteigerungen, den russischen Besatzungskrieg und die Klimakatastrophe zusammen zu denken. Wir, die Redaktion von emanzipation, haben im Herbst dazu einen programmatischen Vorschlag gemacht.
Doch es gilt auch, mit fundierten und tiefergehenden Beiträgen die Herausforderungen zu analysieren und zu diskutieren. Der Ausstieg aus der fossilen Energie ist keine bloße Frage der technischen Machbarkeit, sondern im Kern verbunden mit der Organisation unserer Gesellschaft. So wie jede Gesellschaftsform eng verbunden ist mit den ihr zugrundeliegenden Energieträgern, ist die kapitalistische Industriegesellschaft nur durch die Erschließung fossiler Energie möglich geworden. Die kapitalistische Globalisierung beruht auf massenhafter, billiger und leicht transportierbarer Energie in Form von Kohle, Öl und Gas. Diese fossilen Energieträger sind die Grundlage des Wirtschaftswachstums und für den materiellen Wohlstand der letzten zweihundert Jahre. Ein Ausstieg aus der fossilen Energie bedeutet eine tiefe und globale Umwälzung der ökonomischen, politischen und sozialen Organisation unserer Gesellschaften.
Mit diesem Schwerpunktheft wollen wir einzelne Aspekte vertiefen und zugleich von den Kämpfen und Erfahrungen aus anderen Ländern lernen. So zeigt Ashley Dawson in seinem Beitrag „Demokratisch dekarbonisieren“ wie Aktivist:innen in New York für eine demokratische Kontrolle der Energieinfrastruktur kämpfen, um die Auswirkungen der auch in den USA spürbaren Energiekrise abzumildern und einen schnellen und gerechten Übergang zu erneuerbaren Energien zu ermöglichen. Die Public Power NY-Kampagne versucht dies z. B. anhand einer Strategie, die zum einen staatliche Instrumente nutzt, andererseits aber über den herrschenden Rahmen hinauszugehen versucht. Das bedeutet, dass sie sich um Unterstützung innerhalb der staatlichen Legislative bemüht, den öffentlichen Druck auf gewählte Repräsentant:innen des herrschenden Systems aber über Demonstrationen und gewaltfreie direkte Aktionen massiv verstärkt. Dawson betont, dass eine demokratische Dekarbonisierung die Macht des Volkes auf der Straße benötige. Es wäre diese Art von Gegenmacht, die die Initiativen gegenwärtig in New York aufzubauen versuchten. Darüber hinaus ist auch den US-amerikanischen Aktivist:innen klar, dass eine demokratische Kontrolle des Stromnetzes und der gerechte Umbau des Energiesystems nicht ausreichen, um die gegenwärtigen ökologischen und sozialen Krisen zu bewältigen. Aus diesem Grund setzen sie sich dafür ein, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien von einem strategischen Rückbau der „fortgeschrittenen“ kapitalistischen Volkswirtschaften begleitet wird.
Zugleich ist der fossile Ausstieg nur möglich, wenn es gelingt, den Energieverbrauch in vielen Ländern zu reduzieren. Der Umstieg auf erneuerbare Energie kann nur gelingen, wenn der Verbrauch in Ländern wie beispielsweise Deutschland um rund die Hälfte reduziert wird. Effizienzsteigerung und technologischer Fortschritt reichen nicht aus. Eine solche Reduktion ist unter kapitalistischen Vorzeichen nicht möglich. Wird die Energie rar, steigen die Preise ins Unermessliche. Bevor jedoch die Weltwirtschaft ins Stocken geraten darf, muss die Energiewende Pause machen. Doch die aktuelle Energiepreiskrise ist nicht einzig – und auch nicht vorrangig – dem russischen Krieg zuzuschreiben, wie Verena Kreilinger in ihrem Beitrag “Warum die Energiepreise hoch bleiben” argumentiert. Sie warnt davor, dass wir einen fossilen Backlash erleben, der die dringend notwendige Energiewende massiv verzögern wird und die fossile Wette gegen die Menschheit verschärft. Die Unfähigkeit des Kapitalismus sich zu vergrünen wird deutlich.
Der notwendige Ausbau von Anlagen zur Energiegewinnung aus Sonne, Wind und beispielsweise Geothermie ist mit hohem Ressourcenaufwand für Produktion, Transport und Speicherung verbunden, wie Marta Rivas in ihrem Beitrag “Energiewende: mehr als ein Austausch der Energiequellen” belegt. Unter bestehenden Verhältnissen kann er neokolonialen und extraktivistischen Ausbeutungsregimes sowie einer Verschärfung imperialistischen Rivalitäten Vorschub leisten. Die fossilen Energieträger sind buchstäblich Treibstoff der kapitalistischen Akkumulation und zwar bis in die letzten Ritzen der Produktionsprozesse und Reproduktionszusammenhänge. Der Ressourcenhunger der Energiewende zwingt die Gesellschaften zu entscheiden, für welche Zwecke knappe mineralische Rohstoffe sinnvollerweise zu verwenden sind. Doch wer trifft diese Entscheidungen? Das Energiesystem lässt sich nicht einfach auswechseln. Eine Energiewende funktioniert nur mit einem umfassenden gesellschaftlichen Umbruch.
Energie ist ein Schlüsselinput in jedem Produktionsprozess. Zahlreiche Industrien stützen ihre Wettbewerbsfähigkeit auf eine zuverlässige und günstige Energieversorgung. Christian Zeller zeigt in seiner Analyse, dass sich die deutsche Industrie seit den 1970er Jahren und verstärkt seit den 1990er Jahren auf den Bezug günstigen Erdgases aus Sibirien orientierte. Alle deutschen Regierungen legten großen Wert darauf, mit den jeweiligen Führungen im Kreml eine strategisch langfristig ausgerichtete Energiepartnerschaft zu pflegen. Erst aus der misslichen Kriegsdynamik heraus hat das Putin-Regime diese Allianz gekündigt. Doch interessanterweise haben es die deutsche Industrie und ihre Regierung geschafft, diese Herausforderung zu meistern, ohne eine größere gesellschaftliche Krise zu provozieren. Sie betätigten sich als zahlungskräftige Nachfrager:innen auf den internationalen Gasmärkten und verdrängten weniger zahlungskräftige Länder, mit bitteren Konsequenzen für deren Bevölkerung. Mit einer Offensive für Flüssiggas wird derzeit eine neue fossile Infrastruktur aufgebaut, die sich erst nach vielen Jahren amortisiert. Das ist weit entfernt von einer Energiewende in Richtung nicht-fossile Energieträger.
Simon Pirani versucht in seinem Artikel den Wirtschaftskrieg, der gleichzeitig zum militärischen Konflikt geführt wird, sowie die daraus resultierende Disruption der Energiemärkte zu analysieren und diese in die umfassenderen sozialen und ökologischen Krisen, die das Kapital erschüttern, einzuordnen. Er argumentiert in “Die Grenzen des westlichen Wirtschaftskriegs mit Russland und das Scheitern der Klimapolitik” , dass der Wirtschaftskrieg der westlichen Mächte gegen Russland reaktiv und begrenzt ist und Teile des westlichen Kapitals immer noch hoffen die ruinierten Geschäftsbeziehungen mit Russland zu reparieren. Dies ordnet er ein in eine Strategie des Westens, die jedenfalls bis 2014 darauf ausgerichtet war, Russland zu den Bedingungen des Westens in die Weltwirtschaft zu integrieren. Deutlich zeigt er die Folgen der aktuellen Invasion für die Energiemärkte – insbesondere den europäischen Gasmarkt – und für die Energiewende auf. Die Erzählung von der “Energiekrise” wird benutzt, um die Investitionen in fossile Brennstoffe zu verdoppeln und die Verpflichtungen der westlichen Mächte zur Verringerung der Treibhausgasemissionen zu untergraben, wodurch die Auswirkungen des Krieges und der Klimakrise für die gesamte Menschheit noch verstärkt werden.
Claude Serfati zeigt, dass das Imperialismuskonzept weiterhin hilft, die Dynamik des weiterhin durch Nationalstaaten strukturierten Kapitals im globalen Raum zu verstehen. Einige wenige Staaten, die sich auf ihre wirtschaftliche Macht und ihre militärischen Fähigkeiten stützen, beherrschen diesen Raum. Diese beiden Dimensionen sind untrennbar miteinander verwoben. Wobei die imperialistischen Staaten wirtschaftliche und militärische Macht in jeweils spezifischer Weise im Rahmen von Allianzen miteinander verknüpfen. Die Wechselwirkungen zwischen dem neuen Zyklus der Militarisierung und der Verschärfung des wirtschaftlichen Wettbewerbs werden intensiver. Doch eine internationale Architektur der Macht auf der Grundlage interimperialistischer Rivalitäten festzustellen, entbindet nicht von einer konkreten Analyse der ökonomischen Verhältnisse und polit-militärischen Strategien. Gleichermaßen ist das Verständnis von Imperialismus weiterzuentwickeln. In diesem Sinne erteilt Claude Serfati, der unter kritischen Autor:innen verbreiteten Fixierung auf einen US-amerikanischen „Monoimperialismus“ eine harte Absage. Sowohl die Einbindung Russlands in die internationale Arbeitsteilung, die Fähigkeit von Russlands Herrscher:innen Reichtümer aus anderen Regionen abzuschöpfen, als auch den Krieg gegen die Ukraine zeugen vom russischen Imperialismus. Das Recht der Bevölkerung auf freie Selbstbestimmung bleibt ein Pfeiler einer antiimperialistischen Orientierung.
Vor dem Hintergrund einer sich beschleunigenden Klimakrise, müssen sich die Transformationsprozesse zeitlich extrem verdichtet vollziehen. Es gilt kapitalistischen Eigentums- und Konkurrenzverhältnissen gesellschaftliche Aneignung und demokratische Wirtschaftsplanung entgegenzusetzen. In diesem Sinne erinnert Christian Hofmann an das Werk ‘die Alternative’ des DDR-Dissidenten Rudolf Bahro. Dass der Name Bahro in progressiven Kreisen heute meist negativ in Erinnerung geblieben ist, liegt an dessen späterem Werdegang. Dieser sollte allerdings nicht hindern, sich sein Erstlingswerk aus dem Jahr 1977 noch einmal genauer anzusehen. Wenn wir heute über Ökosozialismus und Wachstumsrücknahme diskutieren wollen, kommen wir um Fragen wie die nach dem Staat und der Unterscheidung von Verstaatlichung und Vergesellschaftung nicht herum. Ebenso wenig um die Frage nach möglichen gesellschaftlichen Organisationsformen oder einer neuen Organisation der Arbeit. Hofmann zeigt, dass Bahro genau diesen Fragen seinerzeit nachging und Antworten fand, die man in heutigen Diskussionen berücksichtigen sollte. Ernest Mandel, Cheftheoretiker der trotzkistischen IV. Internationalen, lobte ‘Die Alternative’ seinerzeit nicht umsonst in den höchsten Tönen. Und Herbert Marcuse, der wohl bedeutendste Theoretiker der Studentenrevolte der 1960er Jahre, meinte damals “Es ist der wichtigste Beitrag zur marxistischen Theorie und Praxis, der in den letzten Jahrzehnten erschienen ist”.
Die in diesem Heft angesprochenen Herausforderungen sind gewaltig. Viel deutet darauf hin, dass sich die Rivalität um knappe Ressourcen und Energieträger, aber auch um ökologische Senken zuspitzen wird. Ein “grüner” Kapitalismus ist darauf angewiesen, sich anderswo günstig produzierte Werte und Erträge der Natur durch ungleiche Beziehungen – notfalls durch militärische Macht – anzueignen. Ohne günstige Schlüsselressourcen bleibt die Energiewende eine Illusion. Entsprechend gilt es das bisherige marxistische Verständnis von Imperialismus um eine ökologische Dimension zu erweitern. Doch die fossile Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise wird auch alle, die für eine ökosozialistische Umwälzung der Gesellschaft einstehen, vor zahlreiche Dilemmata und nur schwierig zu lösende Fragen stellen. Als Zeitschrift für ökosozialistische Strategie wollen wir dazu beitragen, konkrete Vorschläge und Perspektiven in die Debatte einzubringen, wie wir diesen Herausforderungen in den kommenden politischen Auseinandersetzungen begegnen können.