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Eine Gruppe von 15 Sozialist:innen aus der Ukraine, Russland, Polen, Deutschland, Österreich und der Schweiz setzt sich in emanzipation und analyse und kritik für die Unterstützung des ukrainischen Widerstands gegen die russische Besatzung ein und kritisiert den Beitrag, den Heino Berg, Thies Gleiss, Jakob Schäfer, Matthias Schindler und Winfried Wolf zuvor unter dem Titel Antimilitaristischer Defätismus in der Jungen Welt veröffentlichten. Die fünf Autoren antworten auf die Kritik. Wir publizieren hier diese Antwort.
Die Debatte über eine politisch vernünftige und humanistisch vertretbare Reaktion auf den verbrecherischen Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine wird wohl noch eine Weile andauern. Ein Autor*innenkollektiv hat auf unseren Beitrag vom 4. Juni 2022 geantwortet [1], der in der jungen Welt vom 9.6.2022 erschienen war [2]. In einigen Punkten unterstellen uns die Autor:innen Positionen, die wir gar nicht vertreten. Wir gehen nicht auf alle Fragen ein, die sie in ihrem Beitrag aufwerfen, und konzentrieren uns auf die Fragen, die wir für die weitere Debatte am wichtigsten erachten.
In der allgemeinen Charakterisierung Russlands gibt es keine fundamentale Differenz, aber wir bewerten Russlands Ziele in diesem Krieg doch anders als die Autor:innen. Sie schreiben: „Russland will die ukrainische Gesellschaft systematisch zunichtemachen.“ Diese Darstellung als das zentrale Ziel des Kremls zu definieren, unterstellt, dass die Herrschenden im Kreml ausschließlich dämonische Ziele verfolgen und keinerlei rationale Überlegung zur Umsetzung ihrer machtpolitischen Ziele verfolgen. Es unterstellt auch (bzw. legt nahe), dass nach diesem Krieg der nächste Einmarsch der russischen Armee in eines der Nachbarländer (die ja – bezogen auf Europa ‒ alle in der NATO sind) erfolgen wird. Dazu wollen wir in der gebotenen Kürze antworten:
Putin verfolgt mit diesem Krieg ganz gewiss imperialistische Interessen. Die Ukraine in den Herrschaftsbereich des Kremls zu integrieren würde der russischen Oligarchie (mit dem Kreml an seiner Spitze) einige wirtschaftliche Möglichkeiten bieten und das politische Regime in der eigenen Anhänger:innenschaft aufwerten sowie vor allem die geopolitische Position des Kremls stärken. Das funktioniert aber auch nur dann, wenn das Land und seine Infrastruktur nicht restlos kaputtgebombt sind und das Land nicht entvölkert ist.
Es dürfte unbestritten sein, dass sich die russische Führung vollständig verkalkuliert hat (mindestens Putin ging offensichtlich davon aus, innerhalb von wenigen Wochen ein Marionettenregime installieren zu können). Aber die seit Mitte März eingetretene Lage erlaubt es dem Kreml nicht, einfach „unverrichteter Dinge“ abzuziehen. Das würde die eigene Machtposition im Land gefährlich bedrohen. Daraus ergibt sich aber, dass ein langanhaltender (Abnutzungs)krieg die wahrscheinlichste Folge sein wird. Die Herrschenden in Russland haben nicht die geringsten moralischen Skrupel, für die Verfolgung der eigenen Interessen weiterhin Tausende russische Soldat:innen als Kanonenfutter an die Front zu schicken.
Unsere zweite Anmerkung – bevor wir zum Kern der Differenz kommen – bezieht sich auf die Bewertung der NATO. Im Gegensatz zu dem, was uns die Autor:innen unterstellen, drehen wir die Verantwortung für diesen Krieg nicht um. Russland ist der Aggressor. Das sollte man unter Sozialist:innen nun wirklich nicht mehr als einmal betonen müssen.
Damit ist aber die grundsätzliche Bewertung der NATO nicht abgeschlossen. Denn die Verantwortung des US-Imperialismus – und in seinem Kielwasser die der übrigen NATO-Länder – an den kriegerischen Verbrechen der imperialistischen Weltordnung seit dem II. Weltkrieg ist um ein Vielfaches größer als die Russlands. Allein die Betrachtung der seit dem Zusammenbruch des Ostblocks erfolgten Massaker spricht Bände: Irak-Krieg 1990/91, Kosovo-Krieg, Afghanistan-Krieg, Irak-Krieg 2003, Libyen-Krieg usw. Nur um das Ausmaß zu verdeutlichen ein einziges Zahlenbeispiel: Eine US-Studie geht beim zweiten Irakkrieg von einer halben Million Toten aus[3], von den Langzeitfolgen all dieser Kriege noch gar nicht zu reden.
Sicherlich ist die Aufnahme eines Landes (genauer: vieler Länder in Osteuropa) nicht dasselbe wie der Einmarsch in ein anderes Land (in dem Fall in die Ukraine). Aber es sollte dennoch nicht übersehen werden, dass die NATO-Osterweiterung sehr wohl zur Erhöhung der Spannungen beigetragen hat. Das Drehbuch für die US-Strategie im Fall der Ukraine hat kein Geringerer als der ehemalige amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski geliefert. In seinem Strategie-Handbuch von 1997 „The Grand Chessboard – Das große Schachbrett“ beschrieb er, wie man gegen Russland vorgehen müsse, nämlich mit einer fortschreitenden NATO-Osterweiterung und einer Integration der Ukraine in die NATO. Damit könne man Russland zu einer asiatischen Regionalmacht degradieren. Ziel sei die Absicherung der US-Hegemonie. „Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“ (zitiert nach Lunapark 21, Heft 85, 2022). Genau nach diesem Plan verlief dann auch die Politik der USA und wurde nicht zuletzt mit den Äußerungen des aktuellen US-Verteidigungsministers in Kiew noch einmal bestätigt.
Der Kern der Differenz
Die „Ukrainer:innen kämpfen für ihre legitimen Ziele und Rechte in der ukrainischen Gesellschaft. Sie kämpfen um ihre Existenz als Ukrainer:innen“, schreiben die Autor:innen zurecht. Und auch dort, wo sie anführen, dass die Ukrainer:innen nach dem Völkerrecht legitimiert sind, sich bewaffnet zu wehren, wollen wir keineswegs widersprechen. Die Frage ist allerdings, ob genau dies für die Erreichung der langfristigen politischen Ziele klug ist und ob es unter den konkreten politischen, militärischen und geopolitischen Kräfteverhältnissen nach humanistischen Kriterien gutzuheißen ist. Nicht jeder bewaffnete Kampf ist von vornherein gerechtfertigt (es gibt auch selbstmörderische und sinnlose Aktionen von Befreiungsbewegungen) und nicht jeder Verteidigungskampf ist von vornherein nur militärisch umsetzbar und nach humanitären Maßstäben zu vertreten. Es kommt auf die konkrete Ausgangslage an.
Im vorliegenden Fall war für uns von Anfang an klar, dass eine militärische Reaktion auf die Invasion zu vielen Toten und Verletzten führen würde. Die Position der Autor:innen hat zwei eng mit einander verknüpfte Konsequenzen, die sich leider faktisch mit der Position der NATO decken: Erstens sind sie mit ihrer Position für die fortgesetzte Lieferung von schweren Waffen und zweitens sehen sie die wichtigste Aufgabe der Friedensbewegung (und aller „Sozialist:innen, Feminist:innen und Anarchist:innen) nicht darin, auf die sofortige Einstellung aller Kampfhandlungen zu drängen. Die Folge ist klar: Beides führt zwangsläufig zu einer Verlängerung des Kriegs und zur weiteren Zunahme von Todesopfern, Verletzten, Zerstörungen der Infrastruktur, ökologischer Verwüstungen, Zunahme der Gefahren einer Atomkatastrophe … Wir meinen: Angesichts der unbestreitbaren Tatsache, dass Putin seine Truppen nicht ergebnislos abziehen wird (es liefe für ihn auf politischen Selbstmord hinaus) und dass aufgrund der realen militärischen Kräfteverhältnisse kein schnelles Ende zu erreichen ist, muss es das oberste Ziel von „Sozialist:innen, Feminist:innen und Anarchist:innen“ sein, sich für einen sofortigen Stopp des Abschlachtens und der Verwüstungen einzusetzen. Denn – und damit kommen wir zur alles entscheidenden Frage:
Was ist wichtiger als die Wahrung von Menschenleben?
Ist eine unabhängige Ukraine wichtiger als das Leben von Tausenden von Menschen? Wir sprechen hier noch gar nicht von den Tausenden von Verletzten, den Millionen Geflohenen, der Zerstörung der Infrastruktur, den ökologischen Schäden, der drohenden Atomkatastrophe… Noch vollkommen unabhängig davon, dass eine militärische Befreiung der gesamten Ukraine zumindest sehr unwahrscheinlich ist: Ist das bislang Geschehene eine Rechtfertigung für eine militärische Antwort auf die Invasion? Wir meinen nein!
Und wir sollten auch nicht vergessen, dass das ukrainische Regime alles andere als klassenneutral ist oder gar eine fortschrittliche Gesellschaftsordnung verteidigt. Es sei nur an ein paar Fakten erinnert: In der Ukraine sind seit Mai alle fortschrittlichen und vor allem linke Parteien verboten. Auch Streiks sind verboten. Die Arbeitszeit wurde drastische auf 60 Stunden und mehr ausgeweitet. Die Rechten und Faschist:innen (und Bandera-Anhänger:innen) in diesem Land sind auf dem Vormarsch (vollkommen unabhängig von der verlogenen Propaganda Putins). Jede russische Kultur wurde verboten (und beispielsweise aus den Schulbüchern entfernt). Selenskyj fordert, dass alle Russ:innen keinerlei Visa mehr erhalten sollen. Wohlgemerkt: Dabei sprechen wir noch gar nicht über die Macht und die Korruption der ukrainischen Oligarchie.
In Deutschland haben in der Nachkriegszeit die Herrschenden die Gründung der Bundeswehr, die Aufrüstungspolitik und den Beitritt zur NATO grundsätzlich mit dem Propagandaspruch gerechtfertigt: „Lieber tot als rot“. Erleben wir jetzt das Wiederaufleben dieser Propaganda unter anderen Vorzeichen? Oder vertritt hier jemand die Position, Putin plane einen Ukraine-Holocaust?
Wir unterstützen die Position derjenigen in den deutschen Gewerkschaften (es ist faktisch nicht die Position der Gewerkschaftsführungen) und in der Friedensbewegung, die eine in sich schlüssige Linie vertreten, nämlich die des Eintretens für einen sofortigen Waffenstillstand, für Friedensverhandlungen und für Abrüstung – und zwar auch hier im Land. Wie wollen wir morgen für eine Abrüstung der Bundeswehr – bzw. für die Auflösung der NATO – argumentieren, wenn wir uns heute für Waffenlieferungen in militärische Konfliktgebiete stark machen, die vor dem Ukraine-Krieg sogar von SPD und Grünen noch abgelehnt wurden? Beispielhaft wollen wir aus einer Entschließung des IG Metall-Bezirks Niedersachsen-Sachsenanhalt zitieren: „[D]aher lehnt die Bezirkskonferenz das am 03. Juni 2022 beschlossene „Sondervermögen Bundeswehr“ ab. 100 Mrd. Sondervermögen für die Bundeswehr, die Erreichung des sogenannten 2 % BIP-Ziels der NATO und die nukleare Teilhabe Deutschlands sind der falsche Weg. […] Die Beschlüsse [zur Aufrüstung] werden auch kein Mehr an Abschreckung bedeuten, denn schon heute übersteigen die Ausgaben der NATO-Mitgliedstaaten (natürlich noch ohne Schweden und Finnland) die Ausgaben Russlands für Militär um ein Vielfaches. Deutschland darf sich nicht mit falschen Entscheidungen auf den Weg einer militaristischen Konfrontation und einer möglichen Hochrüstungsspirale begeben. Was wir jedoch brauchen, sind Strategien für Lösungen am Verhandlungstisch, Deeskalation und neue Initiativen für Abrüstung.“[4]
Ergänzend möchten wir hinzufügen, dass es natürlich am besten wäre (und dafür sollte man sich mit langem Atem engagieren), wenn es zu konkreten Solidaritätsaktionen (mindestens von Teilen) der Arbeiter:innenklassen in Deutschland, der Ukraine, Russlands, Polens, … käme. Ziel muss es sein, den Herrschenden mit Demonstrationen und Streiks die kriegstreiberische Politik unmöglich zu machen. Es wäre schön, wenn wir uns hierauf mit den Autor:innen verständigen könnten.
Heino Berg, Thies Gleiss, Jakob Schäfer, Matthias Schindler, Winfried Wolf
25. 8. 2022
Bildquelle: Photo by Katrin Hauf on Unsplash
[1] In der Zeitung Analyse und Kritik findet sich die Kurzversion. In emanzipation ist die Langversion.
[2] https://www.jungewelt.de/artikel/428135.krieg-in-der-ukraine-antimilitaristischer-def%C3%A4tismus.html
[3] https://www.sueddeutsche.de/politik/us-studie-500-000-iraker-starben-im-irak-krieg-1.1795930
[4] https://www.igmetall-nieder-sachsen-anhalt.de/fileadmin/user/News/2022/Dokumente/20220616_Initiativantrag_zur_Bezirkskonferenz_Niedersachsen_und_LSA_-_Gegen_Krieg_und_Aufruestung.pdf