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Das Putin-Regime eskaliert mit der heute, dem 21. September 2022, verordneten sofortigen Teilmobilmachung der russischen Streitkräfte und der angekündigten Annexion der ukrainischen Gebiete im Osten und Süden den Krieg auf eine neue Stufe. Die Herrscher im Kreml werden sodann ukrainische Vorstöße in diesen Gebieten als Angriffe auf russisches Territorium interpretieren und damit den Verteidigungsfall ausrufen. Damit gestehen Putin und seine Clique ein, dass ihr Eroberungsfeldzug kurz vor davor stand in eine Niederlage zu münden. Diese Zuspitzung wird zweifellos auch die konfliktbehafteten Debatten unter Sozialist:innen über die Beurteilung dieses Krieges und daraus folgenden Konsequenzen anfeuern. Doch die Angst vor einer weiteren Eskalation darf die Grundzüge und Dynamiken dieses Krieges nicht überdecken.
Auch in den deutschsprachigen Ländern entbrannte unter Sozalist:innen, die sich in vielen anderen Fragen bislang nahestanden, eine heftige Debatte, ob und wie sich die Menschen in der Ukraine gegen die russischen Besatzungstruppen verteidigen sollen und vor allem ob und wie wir in Europa diese Verteidigung unterstützen müssen. In diesem Beitrag nehme ich Stellung zu zentralen Streitpunkten in der Debatte.
Im Namen der „Gruppe der 15“ danke ich den fünf Autoren für ihre Antwort in emanzipation[1] und analyse und kritik[2] auf unsere Kritik in emanzipation[3] und analyse und kritik[4] ihres ersten Beitrags in der Jungen Welt[5]. Stellvertretend und nach Rücksprache mit den 15 Unterzeichner:innen unserer beiden Artikel antworte ich nochmals.
Wir waren über die Relevanz einer abermaligen Entgegnung unsicher. Vor allem den Genoss:innen aus Polen und der Ukraine offenbarte die Antwort von Heino Berg, Thies Gleiss, Jakob Schäfer, Matthias Schindler und Winfried Wolf wie unterschiedlich der russische Besatzungskrieg wahrgenommen und wie stark sich die politischen Antworten unterscheiden. Da besteht eine Kluft, die sich vorerst kaum überwinden lässt. Vorweg nehme ich einige Richtigstellungen vor. Dann äußere ich mich zum Problem des Imperialismus, zur Frage der Selbstbestimmung und schließlich zum „Kern der Differenz“ und dabei auch zu den Möglichkeiten eines Waffenstillstands. Ich antworte damit auch auf die Gruppe Blauer Montag, die in analyse und kritik[6] einwirft, dass die Linke nicht in Gefahr laufen dürfe, sich auf die gleiche Seite wie die Herrschenden in den imperialistischen Ländern zu stellen und es nicht darum gehe Staaten, sondern emanzipatorische Bewegungen zu unterstützen.
Opfer russischer Propaganda oder eigener Voreingenommenheit?
Die fünf Autoren übernehmen einmal mehr Versatzstücke russlandfreundlicher Propaganda oder sie sind Opfer ihrer eigenen Voreingenommenheit Ich äußere mich hier nur zum Parteienverbot, zur Unterdrückung russischer Kultur und den Kennzeichen der Selenskyi-Regierung.
„In der Ukraine sind seit Mai alle fortschrittlichen und vor allem linke Parteien verboten“, schreiben die fünf in emanzipation. In der Tat wurden zu Beginn des Krieges einige Parteien verboten. Sie waren nahezu allesamt nicht links, sondern politkommerzielle Projekte, die von einigen Oligarchen nach Bedarf eingesetzt oder aufgegeben wurden. Zwei Beispiele: Die sogenannte „Progressive Sozialistische Partei“ war mit dem ex-Präsidenten Janukowitsch verbunden und hatte enge Verbindungen mit dem Ultranationalisten Alexander Dudin in Russland. Die „Oppositionsplattform – Für das Leben“ wurde vom reichen Unternehmer und Putin-Partner Wiktor Medwedtschuk geführt, der sich mit allerlei merkwürdiger Geschäfte bereicherte und als Exponent einer Marionettenregierung gehandelt wurde. Ilya Kiva, ein ehemaliges Parlamentsmitglied dieser Partei, forderte im April aus Moskau sogar Präventivschläge mit Massenvernichtungswaffen. Sind das linke Parteien? Abgesehen davon war das Verbot falsch und letztlich bedeutungslos.
In der Tat gibt es linke Organisationen in der Ukraine. Die demokratisch sozialistische Organisation Sozialnyi Ruch agiert legal und führt zusammen mit Gewerkschaften und mit internationaler Unterstützung eine Kampagne gegen die neoliberale Revision des Arbeitsrechts durch. Antiautoritäre Gruppen wie die Solidarity Collectives, feministische und LGBTQ Initiativen können sich artikulieren. Sozialnyi Rukh organisierte kürzlich offen eine Konferenz mit internationaler Beteiligung durch. Diese Offenheit steht in offensichtlichem Gegensatz zur systematischen Repression in Russland. Entgegen der Behauptung der Autoren ist der Einfluss der Rechten und Faschisten gegenüber 2014 zurückgegangen. Auch die Behauptung „jede russische Kultur wurde verboten“, ist falsch. Bis 2014 dominierten russische Sprache und Kultur. Nahezu jeder Mensch in der Ukraine spricht Ukrainisch und Russisch. Das Ukrainische wurde erst 1989 als offizielle Sprache anerkannt. Seit 2018 ist Ukrainisch Amtssprache im Verkehr mit Behörden. Ein oberflächlicher Blick auf die Sprachenproblematik verkennt, dass die ukrainische Sprache und Kultur während Jahrhunderten kolonial unterdrückt wurde. Russisch wurde in den Städten und von gehobenen Gesellschaftsschichten gesprochen. Auch die Bolschewiki erkannten die Tragweite des Sprachenproblems in der Ukraine nur oberflächlich, obwohl sie das Selbstbestimmungsrecht unter dem Druck Lenins anerkannten. Ein kritischer Blick auf ihr widersprüchliche Agieren in der Revolutionszeit offenbart, wie schwer sie sich mit der Situation in der Ukraine taten. Die stalinistische KPdSU betrieb eine brutale Russifizierung, die Putin in den Gebieten unter russischer Kontrolle wieder aufgegriffen hat. Doch entgegen der politischen Instrumentalisierung der Sprache dominiert unter den jungen Menschen schlicht Zweisprachigkeit. Es wäre interessant, sich mit Sprachenkonflikten in antikolonialen Kämpfen auseinanderzusetzen.
In der Tat droht die Ukraine zu einem brutalen neoliberalen Laboratorium zu werden. Das Parlament und Präsident Selenskyi, auch beraten vom IWF und der britischen Regierung, beschlossen eine weitgehende Flexibilisierung des Arbeitsrechts. Der Kündigungsschutz wurde gelockert und die maximal mögliche Arbeitszeit (nicht die allgemeine Arbeitszeit) auf 60 Wochenstunden erhöht. Bislang bestanden in der Ukraine noch etliche Erbstücke des sowjetischen Arbeitsrechts, die den Lohnabhängigen beträchtliche Sicherheiten boten. Die russischen Lohnabhängigen hatten diese Sicherheiten bereits in den 1990er Jahren verloren. Die ILO berichtete im Mai, dass der russische Krieg und seine Konsequenzen 30% aller Arbeitsplätze zerstört hat. Millionen von Arbeiter:innen haben ihre Jobs verloren. [7] Russland errichtete in den besetzten Gebieten ein Terrorregime ohne jegliche Arbeitsrechte.
Diese schwierige Situation ist ein Grund mehr, uns mit den Gewerkschaften sowie den sozialistischen, anarchistischen und feministischen Gruppierungen in der Ukraine zu solidarisieren. Diese kämpfen gegen die russischen Besatzungstruppen und stemmen sich zugleich gegen die neoliberalen Gegenreformen der eigenen Regierung. Bereits toben die Auseinandersetzungen über den Wiederaufbau des Landes. Keinesfalls zufällig setzen sich gerade jene Kräfte der Linken, die sich mit dem ukrainischen Widerstand gegen die russische Besatzung solidarisieren, auch am energischsten für einen solidarischen und ökologischen Wiederaufbau der Ukraine ein.
Imperialismus: schlimm und noch schlimmer?
Einmal mehr holen die fünf Autoren lange aus, um den aggressiven Charakter des US-Imperialismus zu dokumentieren. Mit der Bekräftigung dieser Binsenwahrheit tragen sie nicht zum Erkenntnisgewinn bei. Die Aufrechnung der durch die USA verursachten Massaker im Zusammenhang mit dem russischen Besatzungskrieg in der Ukraine ergibt keinen Sinn, außer man will sagen, dass der russische Imperialismus eben doch etwas harmloser sei. Dabei lassen die Autoren bezeichnenderweise die Zerstörung Afghanistans durch die Sowjetunion sowie Tschetscheniens und Syriens durch Russland unerwähnt.
Wenn die NATO-Erweiterung wirklich zentraler Grund für die Spannungen sein soll, dann hätten die Konflikte um das Jahr 2004 einem Höhepunkt zustreben müssen, als sich Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien der NATO anschlossen. Doch gerade in dieser Zeit haben sich die wirtschaftlichen Verflechtungen zahlreicher Länder Europas und der USA mit Russland deutlich intensiviert. Die strategische Orientierung gewichtiger Teile des deutschen Kapitals auf eine langwährende Partnerschaft mit dem fossilen Kapital Russlands wurde immer ausgeprägter. Die US-Exporte nach Russland gingen erst ab 2014 zurück. In diesem Jahr annektierte Russland bekanntlich die Halbinsel Krim und lancierte die Quasi-Eingliederung der Donbas-Region. Auch die ausländischen Direktinvestitionen nach Russland erlebten erst 2014 (abgesehen vom Einbruch nach der Finanzkrise 2008-10) einen Rückgang und schwankten danach ohne klare Tendenz. Bis zu dieser Zeit erfüllte das Putin-Regime anderthalb Jahrzehnte lang eine wichtige Ordnungsfunktion in seinem Einflussgebiet, die auch dem „westlichen“ Kapital sehr dienlich war. Das deutsche Kapital ließ sich durch den russischen Angriff 2014 nicht beirren und setzte seinen partnerschaftlichen Kurs mit den russischen Partnern fort, bis Putin mit seinen großangelegten „Regime-Change-Krieg“ gegen die Ukraine diese partnerschaftlichen Beziehungen überraschend abrupt beendete. Paradoxerweise stehen also gerade jene Linken, die sich für eine Verständigung mit Russland aussprechen, nicht weit weg von jenen Fraktionen des deutschen Kapitals, die bislang auf die deutsch-russische Partnerschaft setzten.
Selbstverständlich verfolgen die Herrschenden in den USA, in Europa und die Führung der NATO mit den wohlüberlegten und dosierten Waffenlieferung an die Ukraine ihre eigenen Ziele, die nichts mit Verteidigung demokratischer und soziale Rechte zu tun haben. Ebenso offensichtlich ist, dass der russische Besatzungskrieg in der Ukraine in den geopolitischen Kontext zu stellen ist.[8] Mit diesem Krieg tragen die imperialistischen Mächte auch ihre Rivalität aus. Diese Erkenntnisse sind banal. Doch dürfen sie kein Vorwand sein, über die gesellschaftliche Situation und die konkrete Kriegsentwicklung in der Ukraine hinwegzusehen.
Russisches Reich und nationale Selbstbestimmung
Entgegen der Einschätzung der fünf Autoren unterscheiden uns jedoch in der Charakterisierung des Putin-Regimes. Zögerlich stimmen sie der Charakterisierung Russlands als imperialistisch zu, nachdem einer der Autoren bislang Russland berechtigte Sicherheitsinteressen und Einflusssphären zugestanden hatte.
Die fünf Autoren meinen, wir unterstellten den Herrschenden im Kreml ausschließlich dämonische Ziele ohne rationalen Gehalt. Ganz im Gegenteil, Putin und seine Clique handeln durchaus kohärent, allerdings im Rahmen ihres Projekts einer Wiederstellung eines großrussischen Reichs. Die Selbstbehauptung einer ukrainischen Nation widerspricht diesem Vorhaben. Darum stellt das Putin-Regime die Ukraine militärisch, ökonomisch, gesellschaftlich und kulturell grundsätzlich in Frage. Das Putin-Regime verfolgt das großrussische Projekt in seiner eigenen Logik und weitgehend unabhängig davon, ob und wie die NATO ihre Expansion vorantreibt. Mit seiner offenen Referenz an das Zarenreich unterstreicht Putin, dass er keineswegs ein rein ökonomisches, sondern ebenso ein politisches und kulturelles Projekt verfolgt.
Zudem stand und steht die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine nicht auf der Tagesordnung. Es ist erwiesen, dass die Ukraine sowohl vor dem russischen Angriff als auch in den ersten Kriegstagen substanzielle Zugeständnisse gegenüber russischen Unterhändlern machte. Doch das Putin-Regime wollte seinen langfristig geplanten Feldzug nicht abblasen. Putin hatte die Zerstörung der Ukraine als unabhängigen Staat längst in seinem Programm festgeschrieben.[9] In diesem Kontext akzeptieren Teile der Linken in Europa und der USA die Politik der Einflusssphären und schreiben Russland sogar legitime Einflussgebiete und Sicherheitsinteressen zu. Das ist grundsätzlich inakzeptabel.[10] Wer käme auf die Idee, den USA legitime Sicherheitsinteressen gegenüber Kuba, Mexiko, Venezuela oder Frankreich gegenüber Algerien zuzugestehen?
Nun wird das Putin-Regime allerdings Opfer seiner eigenen Fehleinschätzungen. Die zentrale Fehleinschätzung nicht nur Putins, sondern auch der westlichen Regierungen und der Linken im Westen betrifft die Entschlossenheit und Geschlossenheit des ukrainischen Widerstands gegen den russischen Imperialismus, die alle massiv unterschätzt haben.
Die fünf Autoren erkennen die tiefe Bedeutung der nationalen Unabhängigkeit für den Großteil der ukrainischen Bevölkerung nicht an. Sie missachten deren lange Erfahrung russischer Kolonialherrschaft. Noch deutlicher: sie stellen die Regimes in Russland und der Ukraine explizit auf die gleiche Ebene. Damit vermögen sie die gesellschaftliche Dynamik in der Ukraine und damit auch die Dynamik des Krieges nicht zu verstehen. Ohne massive Beteiligung und Mobilisierung der Bevölkerung wäre es nicht möglich gewesen, die russischen Truppen zu Beginn des Kriegs aus der Region Kyiv und dem Norden des Landes zu vertreiben. Ebenso wenig hätte die ukrainische Armee die jüngsten und beeindruckenden militärischen Erfolge östlich von Kharkiv, in Luhansk und in der Region Cherson erzielen können. Die ukrainischen Soldat:innen kämpfen um ihre Gesellschaft und ihre demokratischen Rechte. Die russischen Soldat:innen wissen nicht was ihr Auftrag auf fremdem Gebiet ist und weigern sich immer zahlreicher als Kanonenfutter verheizt zu werden. Das ist ein fundamentaler Unterschied. Und diesen Unterschied wollen die fünf Autoren und zahlreiche Linke in Europa nicht erkennen. Sie missachten die lange Kolonialerfahrung der Menschen in der Ukraine und verstehen deshalb den Willen zur Selbstbehauptung nicht.
Zum „Kern der Differenz“
Die fünf Autoren benennen den „Kern der Differenz“. Die Verteidigung der Ukraine bringe einen ungerechtfertigten Blutzoll mit sich. Doch mit dieser nur scheinbar pazifistischen Argumentation hätten sie auch den Widerstand der Kurd:innen in Nordsyrien gegen den islamischen Staat, den Befreiungskampf des vietnamesischen Volkes gegen die USA und den antikolonialen Kampf der Algerier:innen gegen die französischen Besatzer ablehnen müssen. Alle diese Kämpfe forderten den Menschen unermessliche Opfer ab. Hätten die Kurd:innen dem Islamischen Staat bloß mit „sozialem Widerstand“ begegnen sollen? Hätten sie die Zusammenarbeit mit der US-amerikanischen Luftwaffe, die systematisch und in gemeinsamer Koordination Stellungen des Islamischen Staates bombardierte oder noch immer einen brüchigen Schutz gegen türkische Bombardierungen bietet, ablehnen sollen? Hätten sich die Syrer:innen von Assad friedlich abschlachten lassen sollen? Hätten die Algerier:innen noch weitere Jahrzehnte brutaler französischer Kolonialherrschaft akzeptieren sollen? Hätten die Menschen in Vietnam ihr Land zu einem Vorposten des US-Imperialismus degradieren lassen sollen?
Diese Widerstandsbewegung unterschieden sich stark voneinander. Einige stützten sich auf Teile des nationalen Bürgertums, andere auf eine Partei- und Staatsbürokratie, wiederum andere waren stärker in den bäuerlichen oder städtischen Massen verankert. Etliche waren von Beginn an autoritär, was die Linke in den imperialistischen Zentren gerne ausblendete. Allen gemeinsam war das Streben nach nationaler und kultureller Selbstbestimmung, sei es im Rahmen eines Nationalstaats oder einer Autonomie in bestehenden Staaten. Doch ihr Kampf gegen die imperialistischen Mächte war immer gerechtfertigt. An dieser Stelle holt uns die Sprachenproblematik nochmals ein: Auch der algerische Befreiungskampf und die nachfolgenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen waren von einer Arabisierung und einer Verdrängung der französischen Sprache gekennzeichnet. Die politische Führung in Rojava betrieb in den ersten Jahren des revolutionären Prozesses eine ausgeprägte Förderung der kurdischen Sprache und die teilweise Verdrängung des Arabischen aus dem Schulunterricht und Behördenverkehr. Nicht überraschend führte das jeweils zu Konflikten. Dass diese Prozesse auch ihre problematischen Aspekte haben – nicht zuletzt die Diskriminierung von Minderheiten – ist naheliegend. Nicht zu vergessen: auch die Bewegung in Rojava/Nordostsyrien errichtete ihre eigenen protostaatlichen Institutionen und verteidigt diese nun so gut es geht, bisweilen mit zweifelhaften Bündnissen und Absprachen mit den USA und der Diktatur von Assad. Selbstverständlich bleibt es notwendig, sich kritisch über die Methoden und Ziele dieser Bewegungen, die ausnahmslos eine Form von Staatlichkeit bezweckten, auseinanderzusetzen. Gerade jene, die sich solidarisch mit dem Widerstand der Ukraine zeigen, äußern ebenso deutlich Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Zuständen in der Ukraine.
Die fünf Autoren machen aber etwas Anderes. Sie delegitimieren den ukrainischen Widerstand, ohne sich im Geringsten auf die Diskussionen mit ukrainischen Gewerkschaften, Feminist:innen und Sozialist:innen einzulassen. Sie verweigern die Solidarität und fordern einen sofortigen Waffenstillstand. Paternalistisch und aus ausgesprochen deutscher bzw. westeuropäischer Perspektive, empfehlen die fünf Autoren der ukrainischen Bevölkerung den militärischen Kampf gegen die Besatzungstruppen aufzugeben. Sie raten im ersten Text in der Jungen Welt abstrakt, kontextlos und letztlich alibihaft zu „sozialem Widerstands“. Damit schlagen sie den zivilen und militärischen Kämpfer:innen der ukrainischen Arbeiter:innenklasse ihre verbale Faust ins Gesicht und meinen aus dem sicheren Deutschland, es lohne sich nicht, für eine unabhängige Ukraine einzustehen.
Im Widerspruch zu ihren bisherigen Aussagen über die unverantwortlichen Opfer eines militärischen Widerstandes und völlig kontextlos meinen die fünf Autoren in ihrer Antwort in analyse und kritik, dass sie eigenständige linke Milizen unterstützen würden. Könnten sich solche Milizen gegen die flächendeckende Feuerwalze der russischen Artillerie durchsetzen? Sie wissen selber, dass das absurd ist und die Opferzahlen mitnichten reduzieren würde. Die YPG und SDF haben in Nordsyrien eine ähnliche Erfahrung gemacht und darum blieb ihnen nichts Anderes übrig, als sich von der Hightech-Luftwaffe der USA schützen zu lassen. Ja, so kompliziert ist die Weltlage mittlerweile.
Sofortiger Waffenstillstand?
Die fünf Autoren plädieren für einen sofortigen Waffenstillstand. Sie sind erfahren genug, um zu wissen, dass Waffenstillstände auf der Grundlage realer Kräfteverhältnisse abgeschlossen oder erzwungen werden. Das gestehen sie in ihre Antwort analyse und kritikauch zu. Die russische Führung nannte mehrfach die Voraussetzungen eines Waffenstillstands: die ukrainische Kapitulation. Dimitri Medwedew (Ex-Präsident und stellvertretender Leiter des Sicherheitsrats) wiederholte großspurig diese Bedingung am 12. September auf Telegram. Solange die russische Führung in der Lage ist, diese Position zu vertreten, läuft die Forderung nach einem Waffenstillstand darauf hinaus, die russische Besatzung zu akzeptieren.
Wer einen Waffenstillstand fordert, ohne die Bedingungen zu definieren, akzeptiert die russische Besatzung. Das gestehen die fünf Autoren implizit ein. Doch das heißt konkret: Filtrationslager, Gleichschaltung der Medien, Verbot ukrainischer Sprache und Kultur, Russifizierung des öffentlichen Raums und des Bildungssystems, Deportationen ukrainischer Menschen einschließlich Kinder, gezielte Vernichtung ukrainischer Kulturgüter (Museen, Archive, Denkmäler), systematische Repression und Folter und ebenfalls viele Tote; also das ganze Programm einer Besatzungsdiktatur mit der gezielten Zersetzung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. All das findet bereits statt. Mittlerweile gibt es unzählige Zeugnisse dieser bitteren Realität in den von Russland besetzten Gebieten. Die Massaker und Folterungen in den besetzten Gebieten lassen erkennen, wie groß wohl die Spielräume für „sozialen Widerstand“ sind. Ist ein Besatzungsregime unter diesen Bedingungen wirklich humanitärer als der Schutz der Bevölkerung mit wirksamen Waffen?
Die Tatsache, dass die Regierung Selenskyi eine neoliberale Politik im Dienste des Kapitals – nicht unbedingt der Oligarchen – betreibt, ändert nichts am berechtigten Selbstbehauptungswillen der ukrainischen Bevölkerung gegenüber dem russischen Besatzungsregime. Die jüngsten militärischen Erfolge wären ohne diese enorme kollektive Anstrengung schlicht unmöglich gewesen. Auch die besten Waffen und umfassendsten geheimdienstlichen Informationen der USA wären nutzlos, wenn die Menschen nichts damit anfangen können. Wie wichtig die Menschen sind, zeigte übrigens einmal mehr auch die US-Niederlage in Afghanistan. Wenn Sozialist:innen, Anarchist:innen und Feminist:innen in der Ukraine wirksame Waffen von den USA und den europäischen Ländern (von wem den sonst?) fordern, bedeutet das schließlich keineswegs, dass sie sich der Selenskyi-Regierung oder den westlichen Imperialismen unterordnen. Ganz im Gegenteil, sie führen ihren politischen Widerstand gegen die neoliberalen Gegenreformen und die Verwandlung des Landes in eine riesige Sonderwirtschaftszone des westlichen Kapitals weiter. Ja, die Verteidigung ist sogar Voraussetzung, dass sie diesen Kampf überhaupt führen können. Denn unter russischer Besatzung würde jede offene politische Arbeit auf längere Zeit unmöglich.
Die jüngsten militärischen Erfolge der Ukraine zeigen wie falsch die fünf Autoren liegen. Erst auf der Grundlage entscheidender Niederlagen der russischen Armee erscheint eine Beendigung der Kampfhandlungen vage als ein realistisches Szenario. Solche Niederlagen treiben das Putin-Regime in die Enge und eröffnen den unterschiedlichen Oppositionsbewegungen und der Antikriegsbewegung in Russland neue Spielräume. Das Putin-Regime weiß, dass eine weitere Eskalation extrem risikobehaftet ist und sein Ende beschleunigen kann. Dennoch droht es mit einer massenhaften Zerstörung der Infrastruktur der Ukraine. Will es mit Flächenbombardements die Zerstörungen der USA in Vietnam nachahmen? Die zunehmend genozidale Propaganda gegen die ukrainische Bevölkerung in russischen Medien und die in den Medien geforderte komplette Zerstörung ukrainischer Infrastruktur offenbaren eine Eigendynamik im und um den Herrschaftsbetrieb.
Das Putin-Regime eskaliert mit der am 21. September verordneten sofortigen Teilmobilmachung der russischen Streitkräfte und der angekündigten Annexion weiter Teile der Oblaste Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson den Krieg auf eine neue Stufe. Die Herrscher im Kreml werden sodann ukrainische Vorstöße in diesen Gebieten als Angriffe auf russisches Territorium interpretieren und damit den Verteidigungsfall ausrufen. Damit gestehen Putin und seine Clique ein, dass ihr Eroberungsfeldzug kurz vor davor stand in eine Niederlage zu münden.
Auf dem Schlachtfeld wird sich damit die Dynamik des Krieges kurzfristig nicht verändern. Doch politisch zieht Putin vielleicht seine letzte Karte, um die Regierungen in Europa und den USA unter Druck zu setzen und die Menschen zu verängstigen. Doch setzen sich die ukrainischen Erfolge fort, können sie eine tiefe Krise des russischen Regimes bewirken und den Krieg beenden. Die Unterstützung des ukrainischen Widerstands verbessert also die Chancen auf einen Waffenstillstand. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Mit den Niederlagen und der Erfolglosigkeit der US-Armee in Vietnam breitete sich die Kriegsmüdigkeit in der US-Bevölkerung aus. Diese Niederlage und das „Vietnam-Syndrom“ eröffneten sogar den Spielraum für die Revolution in Nicaragua 1979. Viele Menschen an den Rändern Russlands und in Syrien erhoffen sich aus naheliegenden Gründen eine möglichst rasche Niederlage des Putin-Regimes.
Solidarischer Dialog, gemeinsame Projekte und Konvergenz
Die Gesellschaften und politischen Verhältnisse in der Ukraine und in Russland werden nach dem Krieg anders aussehen. Die Auseinandersetzungen über den Wiederaufbau laufen. Die Vertreter:innen der Kapitalinteressen, vor allem aus den USA und Europa, wollen die Ukraine zu einem Laboratorium kapitalistischer Bereicherung, flexibler Arbeitsmärkte und des Exports von Energie machen. Starke Gewerkschaften und neue sozialökologische Bewegungen könnten eine solidarische und ökologische Alternative aufzeigen und auf die Tagesordnung setzen.
Nicht Belehrungen ukrainischer Gewerkschafter:innen, Feminist:innen, Anarchist:innen und Sozialist:innen, dass sie ihren militärischen Widerstand gegen die Besatzungstruppen aufgeben sollen, nicht die Verweigerung von Solidarität, sondern der Aufbau kooperativer Beziehungen ist jetzt angesagt. Zu dieser Einsicht scheinen die fünf Autoren am Ende ihrer Antwort in analyse und kritikauch gekommen zu sein. Zugleich spitzen sie mit einer ganzen großen Erkenntnis zu: „Die Wünsche nach nationaler, kultureller Selbstbestimmung und auch eine mögliche staatliche Souveränität werden nicht vom Imperialismus und globalisierten Kapitalismus erfüllt werden, sondern lässt sich letztlich nur durch eine neue sozialistische Weltordnung verwirklichen. Unter einem Nato-Regime wird das Schicksal der Ukraine dem einer Neo-Kolonie ähneln.“ Ganz abstrakt gedacht bin ich fast damit einverstanden. Na und …! In der konkreten Realität wirkt diese krude Mischung des entwaffnenden Wunsches nach einem sofortigen Waffenstillstand und der Sehnsucht nach einer „sozialistischen Weltordnung“ (in der allerdings die Souveränität der Nationalstaaten verschwinden müsste, nebenbei angemerkt) sonderbar weltfremd und hilflos.
Praktische gemeinsame Projekte bieten die Grundlage dafür, dass wir das Kräfteverhältnis in Europa so verändern können, dass ein solidarischer Wiederaufbau der Ukraine und ein sozialökologischer Umbau des ganzen Kontinents eine wirkliche Perspektive werden. Gemeinsame Kampagnen für den Verzicht Europas auf fossile Energieträger aus Russland und von überall, für den Erlass der ukrainischen Schulden und gegen die Degradierung der Ukraine zu einem Energieexportland könnten dieses Zusammengehen stärken.
Bildquelle: “Tinta preto e branca”, Photo by Allec Gomes on Unsplash
Nicht jede Debatte lässt sich in Zwischentöne auflösen. Positionen müssen auch manchmal nebeneinander stehenbleiben.
[1] Heino Berg, Thies Gleiss, Jakob Schäfer, Matthias Schindler, Winfried Wolf: Der kriegstreibenden Politik der Herrschenden schlüssig und konsequent entgegentreten. emanzipation, 16. September 2022.
[2] Der Preis der Unabhängigkeit. Wie ist eine schnellstmögliche Beendigung des Ukrainekriegs zu erreichen? analyse und kritik, 20. September 2022.
[3] lya Budraitskis, Oksana Dutchak, Harald Etzbach, Bernd Gehrke, Eva Gelinsky, Renate Hürtgen, Zbigniew Marcin Kowalewski, Natalia Lomonosova, Hanna Perekhoda, Denys Pilash, Zakhar Popovych, Philipp Schmid, Christoph Wälz, Przemyslaw Wielgosz und Christian Zeller: Ukrainischen Widerstand unterstützen und fossiles Kapital entmachten. emanzipation, 18. August 2022. Die englische Fassung findet sich u.a. in International Viewpoint, New Politics und AntiCapitalist Resistance.
[4] lya Budraitskis, Oksana Dutchak, Harald Etzbach, Bernd Gehrke, Eva Gelinsky, Renate Hürtgen, Zbigniew Marcin Kowalewski, Natalia Lomonosova, Hanna Perekhoda, Denys Pilash, Zakhar Popovych, Philipp Schmid, Christoph Wälz, Przemyslaw Wielgosz und Christian Zeller: Für einen solidarischen Antiimperialismus. analyse und kritik, 16. August 2022.
[5] Heino Berg, Thies Gleiss, Jakob Schäfer, Matthias Schindler, Winfried Wolf: Antimilitaristischer Defätismus. Junge Welt, 9. Juni 2022.
[6] Blauer Montag: Schwierige Fragen in Zeiten des Krieges. analyse und kritik, 16. August 2022.
[7] Anna Jikhareva / Kaspar Surber: Ukraine Shouldn’t Become a Neoliberal Laboratory. Jacobin, September 17, 2022. https://jacobin.com/2022/09/ukrainian-economic-recovery-labor-market-neoliberalization-investment
[8] Diesen Sachverhalt habe ich in allen meinen Artikeln über den Krieg seit 2022 hervorgehoben. Darum erscheint es mittlerweile merkwürdig zum x-ten Mal lesen zu müssen, dass der US-Imperialismus noch schlimmer und die NATO grundsätzlich auf Expansion ausgerichtet sei.
[9] Reuters: Exclusive: As war began, Putin rejected a Ukraine peace deal recommended by aide. September 14, 2022 https://www.reuters.com/world/asia-pacific/exclusive-war-began-putin-rejected-ukraine-peace-deal-recommended-by-his-aide-2022-09-14/
Bereits vorher war bekannt, dass Russland im Januar 2022 ein Moratorium für neue NATO-Mitgliedschaften ablehnte. TASS: Temporary moratorium on NATO expansion unacceptable for Russia — Deputy Foreign Minister, 19. Januar 2022 https://tass.com/politics/1390383
[10] Taras Bilous: The War in Ukraine, International Security, and the Left. New Politics, May 24, 2022 https://newpol.org/the-war-in-ukraine-international-security-and-the-left/
Taras Bilous: Eastern Europe’s Tragedy. How the Spheres of Influence Policy Amplifies Reaction. Spectre, August 3, 2022. https://spectrejournal.com/eastern-europes-tragedy/