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Der folgende Text ist eine leicht bearbeitete Abschrift eines Round-Table-Gesprächs organisiert von Spectre. Gareth Dale, Amanda Armstrong Price, Lucí Cavallero und Adam Hanieh diskutieren gemeinsam über “revolutionäre Generalproben” im neoliberalen Zeitalter. Gareth Dale, einer der Herausgeber von Revolutionary Rehearsals in the Neoliberal Age, erörtert, wie das Buch das Problem der sozialistischen Revolution in einer Zeit angeht, in der die meisten Massenerhebungen keine Formen der Doppelmacht der Arbeiterklasse hervorgebracht haben. Auf Gareth folgt die Spectre-Redakteurin Amanda Armstrong Price, die über Arbeit, Geschlecht und sozialen Protest im Eisenbahnzeitalter schreibt. Nach Amanda hören wir von Lucí Cavallero, deren Arbeit, wie z. B. A Feminist Reading of Debt mit Verónica Gago, sich auf die Verbindung zwischen Schulden, illegalem Kapital und verschiedenen Formen von Gewalt konzentriert. Unser letzter Kommentator ist Adam Hanieh, der über die politische Ökonomie des Nahen Ostens arbeitet und Autor von Lineages of Revolt: Issues of Contemporary Capitalism in the Middle East und Money, Markets, and Monarchies: The Gulf Cooperation Council and the Political Economy of the Contemporary Middle East ist.
Zach Levenson: Herzlich willkommen zu dieser Sonderveranstaltung der Spectre-Redaktion. Ich freue mich, die heutigen Diskussionsteilnehmer:innen vorstellen zu können, die aus drei verschiedenen Kontinenten zu uns gekommen sind. Ich bin mir sicher, dass viele den Sammelband Revolutionary Rehearsals des verstorbenen Colin Barker kennen, der erstmals 1987 erschien. Dieses Buch enthält Analysen von fünf Ereignissen, bei denen Arbeiter:innen zwischen 1968 und 1980 in Europa, Südamerika und Westasien den Kapitalismus erheblich herausforderten. Die Autoren untersuchten Protestbewegungen, die sich in jedem einzelnen Fall, den sie in dem Buch besprechen, zu potenziell substanziellen Herausforderungen für die Staatsmacht entwickelten. Doch diese Bewegungen wurden letztlich eingedämmt, absorbiert und unterdrückt.
Jetzt, fast fünfundzwanzig Jahre später, bringt Colin, der heute Geburtstag gehabt hätte, zusammen mit seinen Mitherausgebern, dem verstorbenen Neil Davidson und Gareth Dale, der heute bei uns ist, eine Fortsetzung heraus. Zunächst wird Gareth Dale, Herausgeber des Buches, sprechen. Nach Gareth werden wir von Spectre-Redakteurin, Amanda Armstrong, hören. Nach Amanda interveniert Lucí Cavallero, und zum Schluss hören wir von Adam Hanieh.
Gareth Dale: Danke, Zack, und ich sollte wirklich damit beginnen, Spectre für die Einladung zu danken, auf dieser ersten Veranstaltung zur Vorstellung dieses Buches sprechen zu dürfen, und Euch, den Spender:inen, dafür zu danken, dass Sie Spectre am Leben erhalten und als eine so lebendige und aufregende neue Zeitschrift weiterführen.
Natürlich bin ich in gewisser Weise aus tragischem Unglück hier. Ich sehe das Buch letztlich als jenes von Colin Barker. Die theoretischen Grundlagen werden von Colin und Neil Davidson vorgestellt. Ihr Verlust war ein schrecklicher Schlag, und sie sind mir heute noch sehr präsent. Es war ein echtes Privileg, mit ihnen an diesem Band zu arbeiten, und wir drei haben es sogar geschafft, während des Brexit-Referendums zusammenzuarbeiten, obwohl jeder von uns anders stimmte. Es dauerte eine Weile, bis das Buch fertig war. […].
In gewisser Weise ist es ein Nachfolgeband des Buches Revolutionary Rehearsals, das Colin in den 1980er Jahren herausgegeben hat. Wie Zach bereits erwähnte, lag der Schwerpunkt jenes Buches auf den jüngsten Bewegungen, bei denen sich zumindest die Möglichkeit abzeichnete, dass Massenbewegungen von Arbeiter:innen beginnen, die Staatsmacht anzufechten. Es analysiert fünf Aufstände als Fallstudien: Frankreich 1968, Chile 1973, das von Mike Gonzalez geschrieben wurde, der auch ein Kapitel zu diesem neuen Band beisteuerte, Portugal 1974, Iran 1979 und Polen 1980. Anschließend schrieb Colin ein Theoriekapitel, in dem er zusammenfasste, was Sozialist:innen aus diesen Aufständen, diesen plötzlichen Explosionen, lernen können, wenn sich das Terrain plötzlich vom Stellungskrieg zum Bewegungskrieg verändert.
Colins Verständnis dieser Aufstände durchzog das erste Buch und auch das vorliegende. Es verleiht ihnen eine ganz besondere Note. Er hatte immer ein Gespür für die Erfahrungsaspekte revolutionärer Aufstände und die „außergewöhnliche Energie der Massen“[1], um einen Begriff Lenins zu gebrauchen. Diesen benutzte er gerne, um die kreativen Energien zu benennen, die sich in den Menschenmengen zeigten, sowie die schnellen politischen Lernkurven und den Durst nach politischer Bildung, die so schnell auftauchen, wenn man sieht, wie die alten Hierarchien einfach zerbröckeln und zusammenbrechen.
Und dann ging Colin der Frage nach, warum der Übergang zum Sozialismus auf eine Revolution hinauslaufen muss. Er konzentriert sich nicht nur auf den üblichen Grund, dass nämlich die herrschende Klasse ihre Macht nicht aufgeben würde, wenn sie nicht dazu gezwungen wird. Daneben hat Colin in Anlehnung an Rosa Luxemburgs Argumentation in der Massenstreik-Broschüre immer auch den anderen wichtigen Grund hervorgehoben, warum die Revolution für den Übergang zum Sozialismus unverzichtbar ist, nämlich, dass der Kapitalismus ständig eine Arbeiter:innenklasse reproduziert, deren tägliche Erfahrung die Arbeiter:innen lehrt, dass sie die Macht nicht ausüben können.
Aber in Massenbewegungen und Aufständen zeigen die Arbeiter:innen dann die Fähigkeit, aus dieser Art von subalternem Bewusstsein auszubrechen und ihre Fähigkeiten und ihre Macht zu entdecken. Diese Einblicke in das Potenzial für eine sozialistische Revolution werden in den Fallstudien dieses Bandes nachgezeichnet. Ein Beispiel ist Polen in den Jahren 1980-81, wo eine Streikwelle zur Bildung von Arbeiterräten führte, die in Wirklichkeit embryonale Sowjets waren, weil sie begannen, nicht nur die Verwaltung der Arbeitsplätze, sondern die Gesellschaft selbst zu organisieren. Wenn diese auf der Ebene des Staates um die politische Macht kämpfen, ist das der Beginn einer Doppelherrschaft.
In Polen und Chile wurden die Arbeiter:innen zurückgeschlagen und eine Militärdiktatur errichtet. In Portugal wurde das Problem des Aufstands im Interesse der herrschenden Klasse auf weniger blutige Weise durch demokratische Reformen gelöst.
Was ist nun seit jenem Buch passiert? Seit 1987 hat die Welt jede Menge Aufstände und Revolutionen erlebt, mehr als in der Zeit davor. Einige von ihnen haben sich auf mächtige Massenbewegungen der Arbeiter:innenklasse konzentriert, obwohl ich diesen Punkt nicht übertreiben möchte. In den Mainstream-Berichten über diese Aufstände werden die beteiligten Akteur:innen der Arbeiter:innenklasse immer heruntergespielt. Die Personen und Organisationen der Mittelschicht vor Ort sind diejenigen, die über die entsprechenden Medienkontakte verfügen. Sie haben das Vertrauen und rücken ihre Geschichte in den Vordergrund.
In meinem eigenen Kapitel in dem neuen Buch über Ostdeutschland 1989 gehe ich zum Beispiel auf die Rolle der wilden Streiks Anfang Oktober jenes Jahres ein, die eine Schlüsselrolle im Prozess des Umsturzes der Berliner Mauer spielten. Das ist etwas, das in der meisten Literatur zu diesem Thema ignoriert wird, auch von etlichen linken Kommentatoren, die dem elitären Argument folgen, dass diese deutschen Arbeiter:innen Dummköpfe des Westens waren oder dass sie vom Glitzer und Schmuck, den sie in westdeutschen Supermärkten sahen, verführt worden seien.
Wenn wir dann zu den Aufständen der letzten Jahre zurückgehen, sehen wir ähnliche Dinge. Ob im Sudan, in Myanmar, Algerien oder Weißrussland, standen die Demonstrationen im Rampenlicht der Medien. Aber auch Streiks waren sehr wichtig. Selbst wenn wir die Tatsache berücksichtigen, dass die Beteiligung der Arbeiter:innenklasse immer größer ist, als die Medienberichte oder die üblichen Kommentatoren zugeben, ist es dennoch klar, dass wir seit den frühen 1980er Jahren keine revolutionären Aufstände mehr erlebt haben, die sich auf kämpferische und unabhängige Aktivitäten der organisierten Klasse der Arbeitenden konzentrieren. Und damit zusammenhängend gab es nur sehr wenige Revolutionen, die auf eine Systemtransformation, eine Transformation der Produktionsweise über den einfachen Sturz eines bestimmten Regimes hinaus abzielten. Und das muss erklärt werden.
All dies ist der Hintergrund, warum wir das neue Buch Revolutionary Rehearsals in the Neoliberal Age (Revolutionäre Proben im neoliberalen Zeitalter) geschrieben haben. Wir haben uns mehrere Ziele gesetzt: Erstens wollten wir auf eine Reihe von Bewegungen in den letzten 30 Jahren schauen und dabei deren Dynamiken untersuchen; die Momente, in denen reformistische Elemente in die Bewegung drängen konnten, erkennen; die Peitsche der Repression, die eine Radikalisierung auslöste, verstehen. Uns interessierte auch die Frage, ob die Arbeiter:innenbewegungen in der Lage waren, mit unterdrückten Gruppen in Verbindung zu treten und sie in die Bewegung einzubinden. Wo immer möglich, wo immer wir es sehen konnten, wollten wir diese Einblicke in das revolutionäre Potenzial hervorheben.
Zweitens haben wir nach Mustern in den Aufständen der letzten drei Jahrzehnte gesucht und sie mit breiteren sozialen und politischen Veränderungen in Verbindung gebracht. Wir sehen die 1970er Jahre in mehrfacher Hinsicht als einen entscheidenden Wendepunkt. Damals sahen wir die Auflösung der letzten Überreste der vorbürgerlichen Gesellschaft in der ganzen Welt und das Ende des Kolonialismus zumindest als „-ismus“. Natürlich bleiben einige Kolonien bestehen: Palästina, Westsahara, Nordirland und einige weitere. Wir argumentieren, dass die Ära der antikolonialen Revolution aber wirklich zu Ende ging.
In den 1970er Jahre endete auch eine besondere Konjunktur der sozialen Bewegungen. Zwei Jahrzehnte lang gab es einen Aufschwung sozialer Bewegungen, Kämpfe, die weltweit an Kraft gewannen, antisystemische Fragen aufwarfen und den Horizont radikaler Veränderungen vorantrieben. Seitdem ist das Muster der Kämpfe sehr viel schwächer geworden und die Zahl der Arbeitskämpfe ist zurückgegangen. Und das hängt mit einer anderen Veränderung zusammen, die wir ebenfalls auf die 1970er Jahre datieren, nämlich den Niedergang bestimmter Formen des Korporatismus, des Staatskapitalismus, der übrigens die Vorstellungen vom Sozialismus stark geprägt hatte. Diese wurden ab den 1970er Jahren weltweit durch neoliberale Strukturen abgelöst.
All dies ging einher mit einer Veränderung der politischen Struktur oder des Musters der Weltpolitik, nämlich dem Aufstieg zur Dominanz der parlamentarischen Regierung, der liberalen Demokratie. Das Muster, das wir in Bezug auf revolutionäre Aufstände zunehmend sahen, war, dass sie durch den Übergang zur Demokratie eingedämmt wurden, wie in Portugal Mitte der 1970er Jahre oder in der Tschechoslowakei 1989. Es gibt auch andere Formen der Eindämmung, aber dieses Modell hat sich durchgesetzt.
Die späteren Aufstände, die wir in diesem Buch betrachten, werden zunehmend als Reaktion auf den Neoliberalismus charakterisiert. Dieser trat in die Jahre des Niedergangs und wurde zunehmend als Ursache für soziale Missstände erkannt. Denken wir an die Ereignisse in Ägypten, über die Sameh Naguib in diesem Buch ein Kapitel geschrieben hat.[2] Und wenn wir die Struktur des Buches nicht um 2016 herum fertiggestellt hätten, als die feministische Bewegung zunächst in Polen und dann in ganz Amerika und Südeuropa in Gang kam, hätten wir wirklich ein Kapitel über Frauenstreiks und ihre Beziehung zur Krise der Pflege und der sozialen Reproduktion aufnehmen sollen. Sie sind ein weiteres Kennzeichen für den in die Krise geratenen Neoliberalismus.
Das dritte Ziel des Buches besteht schließlich darin, die heutigen Möglichkeiten für eine globale Transformation zu einer sozialistischen Gesellschaft aufzuzeigen. Das ist weitgehend das Thema von Colin Barkers Theoriekapitel und dem zweiten Kapitel. Ich möchte nur eines der Argumente hervorheben, die Neil Davidson vorbringt und die mir sehr am Herzen liegen, nämlich die Bedrohung durch eine Umweltkrise oder den ein erschreckendes Ausmaß annehmenden Klimawandel. Ich höre oft das Argument, dass die Dringlichkeit des Klimawandels heute eine sozialdemokratische Antwort zwingend erforderlich macht.
Dieses Argument hat die Form eines Syllogismus,[3] wobei die erste Prämisse lautet, dass die Weltwirtschaft in den nächsten zehn Jahren sehr schnell und radikal dekarbonisiert werden muss, da uns sonst die Hölle droht. Die zweite Prämisse lautet, dass wir in zehn Jahren auf keinen Fall einen weltweiten Übergang zu einer sozialistischen Gesellschaft erleben werden. Aber innerhalb von zehn Jahren könnten sozialdemokratische Parteien an die Macht gewählt werden, auch in einigen sehr wichtigen Staaten. Darauf folgt drittens die Schlussfolgerung aus diesen Prämissen und zwar, dass eine sozialdemokratische Strategie unerlässlich ist.
Für viele scheint es ein starkes Argument zu sein, weil die ersten beiden Prämissen absolut unbestreitbar sind. Aber der Sprung zur Befürwortung eines sozialdemokratischen Interregnums ist einfach nicht nachvollziehbar. Das ist ein Fehlschluss. Man hätte das Gleiche über buchstäblich jeden Kampf in jeder Größenordnung in jeder Periode der modernen Geschichte sagen können. In der Tat kann immer nach Teillösungen gesucht werden.
Aber das geht an einigen sehr offensichtlichen Sachverhalten vorbei: Erstens bringen sich Revolutionäre selbst in den Kampf um Reformen ein. Eine revolutionäre Strategie ist entscheidend, um durch Kämpfe auch die Reformen zu erreichen, die wir brauchen. Zweitens: Wenn der Kapitalismus aufrechterhalten wird und seine Logik fortbesteht, wird seine verheerende ökologische Logik noch jahrzehntelang fortbestehen und unsägliches Chaos und alle Arten von Verschwendung anrichten. Daher ist die Bedrohung durch den Klimawandel, so argumentiert Neil Davidson in seinem Kapitel, einer von mehreren Fällen, in denen der Kapitalismus zunehmend völkermörderische Anzeichen zeigt, die die Dringlichkeit einer revolutionären Politik heute unterstreichen.
Das Muster, das wir in Bezug auf revolutionäre Aufstände zunehmend sahen, war, dass sie durch den Übergang zur Demokratie eingedämmt wurden.
Gareth Dale
Zach Levenson: Vielen Dank, Gareth. Als Nächstes werden wir einige Kommentare von Amanda Armstrong-Price hören.
Amanda Armstrong Price: Ich freue mich sehr, dass ich die Gelegenheit habe, über dieses ausgezeichnete Buch und ganz allgemein über die Aussichten der sozialen Transformation in der Gegenwart zu sprechen. Meine Bemerkungen beziehen sich hauptsächlich auf das erste Kapitel des Buches. Revolutionary Rehearsals in the Neoliberal Age beginnt mit einer umfassenden historischen Einführung, gefolgt von einem ausführlichen konzeptionellen Essay über soziale Bewegungen von Colin Barker. Es folgt eine Reihe von Fallstudien, die sich auf die jüngsten revolutionären Abfolgen konzentrieren; von Polen und Südafrika in den späten 1980er Jahren bis Ägypten in den frühen 2010er Jahren. Schließlich runden theoretische Überlegungen von Neil Davidson, über den wir vorhin schon etwas gehört haben, die Sammlung ab.
Besonders gut gefallen haben mir die Überlegungen von Colin Barker im ersten Kapitel über die Dynamik und das Potenzial sozialer Bewegungen. Barker skizziert zwar, wie Bewegungen in reformistische Bahnen gelenkt werden können, will aber dennoch die Idee plausibel machen, dass soziale Bewegungen revolutionäre Sequenzen haben und sich zu solchen öffnen können. Bei der Lektüre seines Kapitels ist es unmöglich, nicht den Widerhall von Barkers praktischen Erfahrungen in bestimmten Kampfzyklen zu hören, wenn er beschreibt, wie Massenbewegungen ihre Protagonisten verändern, wie sie neue Szenen der kollektiven Entscheidungsfindung eröffnen oder wie sie sich Herausforderungen stellen, was in normaleren Zeiten schwer vorstellbar gewesen wären.
Ich denke, viele Leser:innen werden sich an eigene Erfahrungen aus Bewegungszeiten erinnern oder Assoziationen zu historischen Abläufen herstellen, die sie gut kennen. Sein Kapitel erinnerte mich vor allem an die Organisierungsprozesse im Bildungsbereich und gegen Polizeirepression in Kalifornien von 2009 bis 2014. Barker stellt fest, dass Zeiten des Massenkampfes durch die politische Aktivierung neuer Bevölkerungsschichten zu bestimmten Zeitpunkten zu einem quantitativen Sprung in der Beteiligung nicht nur an einmaligen Mobilisierungen, sondern auch an dauerhafteren Organisierungsprojekten führen können.
Diese Beobachtung über quantitative Sprünge brachte mich zurück zum November 2011 an der Universität Berkeley, Kalifornien, als sich ein paar hundert Menschen versammelten, um ein Lager zu errichten, und prompt von Polizeiknüppeln geschlagen wurden. Einige Stunden später, nachdem Videos von Polizeigewalt im Internet kursierten, stieg die Zahl der Menschen auf dem Platz in die Tausende. An diesem Abend rief eine improvisierte Versammlung zu einem Streiktag auf, an dem in der folgenden Woche Zehntausende teilnahmen.
Diejenigen von uns, die in den Monaten vor diesen Ereignissen auf dem Campus aktiv gewesen waren, waren auf diesen sprunghaften Anstieg der Beteiligung, der die Dynamik der Versammlungen dramatisch veränderte, fast überhaupt nicht vorbereitet. Rückblickend denke ich, dass wir auf unserer größten Versammlung hätten versuchen sollen, den Streik zu verlängern, ihn vielleicht unbefristet zu machen, anstatt uns darauf zu konzentrieren, das Lager wieder zu errichten und einen Aktionstag für ein paar Monate später zu planen. Vielleicht hätte dies dazu beigetragen, die Möglichkeiten im weiteren Kontext von Occupy Oakland und den Hafenstilllegungen an der Westküste etwas offener zu halten.
Aber rückblickend wird auch deutlich, wie schnell das alles für uns passiert ist, wie sehr der Moment hätte verpasst werden können, und wie sehr diese Abfolge einige bedeutsame längerfristige Auswirkungen hatte. Auch wenn die Occupy-Bewegung in Nordkalifornien nicht annähernd so umwälzend war wie die in diesem Buch behandelten historischen Fälle, neigen die Autoren dennoch dazu, die von ihnen betrachteten Konstellationen mit einer Ambivalenz zu bewerten, die mir vertraut vorkommt.
Ob der Gaskrieg in Bolivien Anfang der 2000er Jahre oder der Fall der Apartheid in Südafrika – viele der in diesem Buch geschilderten Ereignisse führten zu großen politischen Durchbrüchen, vom Zusammenbruch unterdrückerischer Regime bis zur Verstaatlichung von Industrien. Diese Durchbrüche ereigneten sich in Bewegungszeiten, in denen die Organisator:innen den Fluss des öffentlichen Lebens wirksam unterbrachen und die Politik plötzlich zum aktiven Anliegen der breiten Mehrheit wurde. Nach einer effektiven Sequenz linker indigener Kämpfe im Jahr 2003 „ist Gas plötzlich in aller Munde“, um den Beitrag von Jeffery Webber zu zitieren, der wiederum Claudia Espinosa zitiert. Dieses Zitat bringt sehr gut zum Ausdruck, dass es plötzlich eine politische Situation gibt, auf die die breite Mehrheit reagiert, sich damit auseinandersetzt oder damit konfrontiert wird. Die in diesem Buch geschilderten Episoden veranschaulichen einige der transformativen Potenziale von Massenbewegungen in unserer Zeit.
Aber sie zeigen auch die verschiedenen Grenzen auf, an die diese jüngsten Bewegungen gestoßen sind. Und in einigen Fällen, wie im Kapitel über die ägyptische Revolution, können diese Geschichten nur in einer tragischen Weise erzählt werden. Wir lesen von Bewegungskräften, die in den normalen Rhythmus und die Regeln politischer Verhandlungen zurückgedrängt werden, von Anführern, die am Vorabend eines Generalstreiks kalte Füße bekommen, von repressiven Kräften, die Aufstände effektiv niederschlagen, von Erschöpfung und Einbruch, von westlichem Kapital, das in die durch Massenaufstände geöffnete Bresche springt, und allgemein von der Unfähigkeit antagonistischer Kräfte, Brücken zu Situationen der Doppelherrschaft und über diese hinaus zu bauen.
Was sollen wir von all diesen unbefriedigenden Ergebnissen halten? Sind Massenbewegungen immer noch plausible Inkubatoren für revolutionäre Veränderungen? Das Buch ist als eine Verteidigung des Projekts des Sozialismus von unten angelegt und zwar in einer Zeit, in der, zumindest im Nordatlantik, die Politik der Sozialdemokratie vielen als die einzig halbwegs plausible Perspektive erscheint. Natürlich zähle ich mich nicht zu dieser Gruppe. Aber wie die Herausgeber des Buches in ihrer Einleitung einräumen, erscheinen die Aussichten auf einen Sozialismus von unten heute etwas düsterer als vielleicht noch vor einigen Jahrzehnten. In den grundlegenden Kapiteln des Buches kommt ein erfrischendes Gefühl der Ungewissheit, der Suche nach den Ausgängen in schwach beleuchteten Räumen zum Vorschein.
Anstatt direkt auf die Frage einzugehen, wie es mit der Linken weitergehen soll, möchte ich mit zwei Beobachtungen schließen, von denen ich hoffe, dass sie unsere Diskussion über diese kritische und dringende Frage um einige interessante Aspekte bereichern werden. Erstens, und damit greife ich etwas auf, was auch Gareth gesagt hat, denke ich bei Massenbewegungen in unserer Zeit an Frauenstreiks, wie die in Argentinien oder Polen zur Verteidigung der Abtreibungsrechte, und an die jüngsten Aufstände gegen antischwarze Polizeigewalt in den USA.
Keiner dieser Kämpfe wurde von der organisierten Arbeiterschaft ausgelöst oder zentral orchestriert. Zumindest scheinen sich beide auf andere Identitätskategorien als die Klasse zu beziehen. Aber ich glaube nicht, dass Sozialist:innen über solche Dinge besorgt sein sollten, oder zumindest nicht allzu sehr. Diejenigen, die daran beteiligt sind, die Gewerkschaften zu Bewegungsorganen umzugestalten, können meiner Meinung nach dazu beitragen, die Kapazitäten an der Basis aufzubauen und diese mit breiteren Kräften der sozialen Bewegungen zu verbinden, vielleicht am effektivsten indem sie Fragen der Rassen- und Geschlechtergerechtigkeit hervorheben. Diese Themen betreffen in der Regel sowohl die Bedingungen am und außerhalb des Arbeitsplatzes, und sie werfen oft grundlegende Fragen zur Überwachung und Kontrolle am und um den Arbeitsplatz herum auf. Das sind Fragen, die zwangsläufig auch im Zusammenhang mit wilden Streiks oder Massenstreiks gestellt werden müssen.
Abschließend möchte ich in einer etwas provinzielleren Weise etwas über die aktuelle Situation in den USA sagen. Angesichts des Trumpismus und der sich zuspitzenden sozialen Krisen hat sich die Demokratische Partei in letzter Zeit auf jene links von ihnen gestützt, um aktivistische Impulse und sozialdemokratische Politikvorschläge zu erhalten. Wir haben gesehen, wie Biden solche Vorschläge als Instrumente nutzt, um die imperiale Rivalität mit China wirksamer zu führen. Um einem solchen Sozialimperialismus von links entgegenzutreten, ist eine Massenbewegung erforderlich, die sich auf Fragen des Krieges und der imperialen Macht konzentriert. Doch seit etwa 2007 ist es schwer, auf diesen Feldern Fuß zu fassen, zumindest auf Massenebene in den USA.
In seinem Kapitel zitiert Colin Barker Rodrigo Nunez‘ Ausführungen darüber, wie bestimmte Gruppierungen „zu gegebener Zeit Avantgardefunktionen“ übernehmen können. Wenn wir uns fragen, wer solche Avantgardefunktionen für eine erneuerte internationalistische Bewegung übernehmen könnte, fällt es schwer, an den Achsen der Zusammenarbeit und gemeinsamen Analyse vorbeizuschauen, die zwischen Palästina, Solidaritätsbewegungen, schwarzen Befreiungsprojekten und indigenen Kämpfen geknüpft sind. Das ist der Punkt, an dem ich enden möchte. Nochmals vielen Dank an alle, die dieses Panel organisiert haben, und ich freue mich auf die Fragen.
Wenn wir uns fragen, wer solche Avantgardefunktionen für eine erneuerte internationalistische Bewegung übernehmen könnte, fällt es schwer, die Verbindungen der Zusammenarbeit und der gemeinsamen Analyse zu übersehen, die zwischen Palästina, Solidaritätsbewegungen, schwarzen Befreiungsprojekten und indigenen Kämpfen geknüpft werden.
Amanda Armstrong Price
Zach Levenson: Und als Nächstes haben wir Lucí Cavallero, live übersetzt von Liz Mason-Deese.
Lucí Cavallero: Ich danke Euch allen für die Einladung und gratuliere Euch zu Eurem Buch. Ich möchte die Zeit nutzen, um einige der wichtigsten Interpretationsschlüssel zu nennen, über die wir im Rahmen des Prozesses der feministischen Streiks und der Bewegung „Ni una menos“ in Argentinien nachdenken konnten.
Dieser Anlass hat mich zum Nachdenken gebracht und die Frage aufgeworfen, warum wir in Argentinien nach einer feministischen Revolution fragen oder über sie sprechen. Ich denke, es ist wichtig zu sagen, dass ich aus einer Region spreche, die sich bereits jahrzehntelang dem Neoliberalismus als einzigem Horizont widersetzt. In diesen Kämpfen, die in der Region stattfinden, spielt der Feminismus eine zentrale Rolle. Ich werde mich also auf die Dinge konzentrieren, über die wir unter feministischen Genossinnen auf dem ganzen Kontinent nachdenken konnten.
So konnte die feministische Bewegung dazu beitragen, wie wir über die Räumlichkeit der Revolution denken. In gewissem Sinne sind die Bewegungen auf der Straße mit der Infragestellung hierarchischer Beziehungen in verschiedenen Räumen verbunden: in Arbeitsräumen, Universitätsräumen und im Haushalt. So konnte die feministische Bewegung dazu beitragen, die Beziehung zwischen einem Ausbruch von Protest auf der Straße und Veränderungen in anderen Räumen zu überdenken, indem sie in Frage stellte, wie wir über diese Hierarchien in anderen Räumen denken.
Dies hat auch damit zu tun, dass wir über die Frage der Klasse neu überdenken. Der feministische Streik hat es uns ermöglicht, unser Klassendenken neu zu bestimmen und zu erfinden. In Argentinien sehen wir das daran, wie die feministische Bewegung das Klassendenken der Gewerkschaftsbewegung neu definiert und die Gewerkschaftsagenda neu festgelegt hat.
Der Ausbruch der feministischen Bewegung auf einer Massenebene erfolgte 2015 mit der Entstehung der riesigen Ni Una Menos-Bewegung und durch einen versammlungsbasierten Prozess. Diese feministische Bewegung fungierte als Vektor der Radikalisierung verschiedener Bewegungen und war in der Lage, eine Offensive in einem Moment zu starten als die neoliberale Politik zurückgedrängt wurde.
Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als der Neoliberalismus während der Präsidentschaft von Macri in Argentinien zurückgedrängt wurde, aber auch auf regionaler Ebene, als die neoliberalen Regierungen zurückgedrängt wurden. Als feministische Bewegung waren wir also in der Lage, die Agenda des sozialen Protests durch Transversalität [also der gegenseitigen Verschränkung von Ausbeutungs- und Unterdrückungsformen] zu überdenken, was die Menschen und Organisationen angeht, die an diesen Versammlungen teilnehmen konnten und die sich selbst als gegenüber dem Kapitalismus kritisch eingestellt definieren. Zum Beispiel ist eine Hausangestellte, die sich mitten in einem Konflikt mit ihrem Chef befindet, auch ein Subjekt, das sich in einem Konflikt mit dem Kapital befindet und an diesen Versammlungen teilnehmen kann.
Dies gilt für Argentinien, das seit der Diktatur in den 1970er Jahren einen Prozess der Prekarisierung der Arbeit durchlaufen hat und in dem heute etwa die Hälfte der Bevölkerung keine formelle Arbeit hat. Viele Menschen haben eine informelle Arbeit oder arbeiten in der Nachbarschaft. In diesen Versammlungsprozessen zur Organisation des Streiks führte der Feminismus eine doppelte Bewegung durch. Er schuf eine eigenständige Distanz zu verschiedenen Organisationen, einschließlich der Gewerkschaften, aber er schuf auch einen Raum für die Teilnahme von Frauen, die in Gewerkschaften oder anderen Organisationen organisiert sind. Es war, ich betone, eine doppelte Bewegung. Sie war ein autonomer Raum, der sich von anderen Organisationen abgrenzte, aber auch Frauen, die diesen Organisationen angehörten, die Möglichkeit gab, sich zu beteiligen. Derart wirkte die Bewegung auf die Gewerkschaftsbewegung.
Auf diese Weise ist es der feministischen Bewegung gelungen, verschiedene Bewegungen zu vereinen und eine Agenda zu erstellen. Und genau das hat der feministische Streik geschafft. Er konnte eine Schnittmenge zwischen der Gewerkschaftsbewegung und der feministischen Bewegung schaffen, die die Frage der Arbeit und der Anerkennung verschiedener Formen der Arbeit auf die Tagesordnung der Gewerkschaften setzte. Die feministische Bewegung in der Region konnte, indem sie die soziale Reproduktion in den Mittelpunkt stellte, die Frage der Finanzialisierung des Alltagslebens auf die Tagesordnung setzen, ebenso wie den Anstieg der Mietpreise und die Frage der Landenteignung.
Ich möchte mich auf einen wichtigen Punkt konzentrieren, der uns meiner Meinung nach zwingt, über eine andere Vorstellung von Klasse und andere Bilder von Klasse nachzudenken. Ich denke, dass diese Begegnung zwischen Feminismus und Gewerkschaftsbewegung uns viel zu bieten hat, wenn es darum geht, andere gewerkschaftliche Kampf- oder Organisationsformen auszuprobieren. Diese neuen transversalen Formen und Effekte, die ich erwähnt habe, lassen sich auf andere Organisationen und andere Formen des Kampfes übertragen. Sie haben bereits auf andere Kämpfe und andere Organisationsformen übergegriffen, die vorher unsichtbar waren. Diese Verbreitung hat es ermöglicht, organische Formen der Koordination zwischen verschiedenen Kämpfen zu schaffen. Das hat sowohl eine Neudefinition des Feminismus und der Gewerkschaftsbewegung als auch eine Entscheidung darüber ermöglicht, was für jeweils beide wichtig ist.
Eine der wichtigsten Errungenschaften der feministischen Bewegung war natürlich nach vielen Monaten und sogar Jahren der Mobilisierung auf der Straße die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Es ist schwierig, über diese Legalisierung der Abtreibung nur im Sinne des Reformismus zu denken. Wir denken darüber im Sinne einer Neudefinition der Koordinaten der Demokratie und der Möglichkeit, andere Akteur:innen auftreten und sprechen zu lassen. Es geht gewissermaßen darum, die Bedeutung der Demokratie neu zu definieren. Das ist mein Beitrag zum Nachdenken über die im Buch angesprochenen Themen, und ich danke Euch sehr für die Einladung.
Diese feministische Bewegung fungierte als Vektor zur Radikalisierung verschiedener Bewegungen und war in der Lage, in einer Zeit, in der die neoliberale Politik zurückgedrängt wurde, eine Offensive zu starten.
Lucí Cavallero
Zach Levenson: Vielen Dank, Lucí, das war großartig, und als nächstes haben wir unseren letzten Redner Adam Hanieh, danach wenden wir uns wieder an Gareth für einen kurzen Kommentar. Also, Adam, Du hast das Wort.
Adam Hanieh: Danke Zach und vielen Dank an Spectre für die Einladung zu dieser Veranstaltung. Ich hatte in den letzten Wochen die Gelegenheit, das Buch zu lesen, und ich muss sagen, es ist eine wirklich hervorragende Darstellung dieser verschiedenen revolutionären Aufstände. Und das theoretische Geflecht, das sich durch das Buch zieht, ist wirklich sehr beeindruckend. Ich weiß, dass es bei einem Buch dieser Art sehr schwierig ist, dafür zu sorgen, dass sich ein roter Faden durch die einzelnen Kapitel zieht. Eines der bemerkenswertesten Dinge an diesem Buch ist, dass dies tatsächlich gelungen ist.
Ich möchte meine Kommentare auf einige Aspekte im Zusammenhang mit dem Nahen Osten konzentrieren. Natürlich gibt es in dem Buch ein ausgezeichnetes Kapitel von Sameh Naguib über Ägypten und die ägyptische Revolution von 2011, das wirklich ein sehr aussagekräftiges Bild der verschiedenen an diesem Kampf beteiligten Kräfte und der konterrevolutionären Momente zeichnet, die sich 2013 und später entwickelten. Auch das Phantom der ägyptischen Revolution, aber auch die umfassenderen Kämpfe im Nahen Osten, ziehen sich durch viele andere Kapitel des Buches: Ich will mich auf einige der dadurch aufgeworfenen Themen konzentrieren, die meiner Meinung nach umfassendere Implikationen haben.
Vor allem möchte ich über die Art und Weise sprechen, wie wir das Wesen der herrschenden Klassen und ihr Verhältnis zur Staatsmacht verstehen. Es gibt eine klare Linie, die sich durch alle Kapitel des Buches zieht, nämlich die Notwendigkeit, über reformistische oder parlamentaristische Vorstellungen von Kämpfen und reformistische Ansätze zum Staat hinauszugehen. Es wird betont, wie wichtig es ist, Formen der volksdemokratischen Macht und der Arbeiter:innenkontrolle auszuweiten – und nicht nur, wie Gareth es ausdrückt, den Kampf für den Sozialismus auf eine Art sozialdemokratischen Horizont oder einfach auf eine Veränderung der Regierung zu reduzieren. Und dies ist eindeutig eine der Lehren aus der ägyptischen Revolution, auf die ich gleich noch zu sprechen komme. In dieser Denkweise wird der Staat als Klassenstaat betrachtet, der die Interessen der herrschenden Klasse vertritt und erweitert und die Bedingungen für die Kapitalakkumulation schafft. Ich denke, dass dies im Allgemeinen zutrifft, und ich denke, dass dies wirklich in allen Kapiteln des Buches zum Ausdruck kommt.
In der Linken, und ich denke, sogar in der revolutionären Linken, besteht jedoch die Tendenz, die Klassenzusammensetzung oder das Verständnis von Klasse innerhalb nationaler Grenzen zu sehen oder innerhalb der Landesgrenzen, des Staates und der Staatsbürgerschaft zu umschreiben. Etwas worüber ich während der Lektüre dieses Buches nachgedacht habe und was nicht explizit hervorgehoben wurde, was mir aber an zahlreichen Stellen in den Kapiteln aufgefallen sind, ist die Bedeutung grenzüberschreitender Prozesse bei der Klassenbildung.
Wenn wir beispielsweise die Erfahrungen mit dem neoliberalen Wandel im Nahen Osten von den 1980er Jahren bis heute betrachten, können wir feststellen, dass die Prozesse der Strukturanpassung, der Privatisierung und des Ausverkaufs von Staatsgütern sowie der Öffnung für ausländische Direktinvestitionen nicht nur eine Umstrukturierung der Klassenmacht innerhalb der Grenzen des Nationalstaats darstellen. Sie haben auch eine umfassendere Internationalisierung des Kapitals innerhalb der Region, im Nahen Osten selbst, ermöglicht und erleichtert.
Ein Beispiel dafür ist die Art und Weise, in der das Golfkapital, die Wirtschaftskonglomerate der Golfstaaten, eine wichtige Rolle dabei spielten, von der neoliberalen Periode zu profitieren und zu Haupteigentümern des Kapitals in der gesamten Region zu werden. Dies geschah über einen Zeitraum von 20 bis 30 Jahren, der den revolutionären Aufständen im Jahr 2011 vorausging. Ich denke, das ist wirklich wichtig. Wenn wir uns die neoliberale Erfahrung im Nahen Osten ansehen, bedeutet das, dass die Reformen nicht nur die Klassen- und Staatsverhältnisse auf nationaler Ebene neu konfiguriert haben. Sie führten auch zu einer neuen Art von regionalen Akkumulationskreisläufen, die von den Unternehmenskonglomeraten der Golfstaaten gesteuert wurden: aus Saudi-Arabien, den Emiraten, Katar, Kuwait und so weiter.
Eine der Folgen davon ist, dass sich die Golfkapitale in den Klassenstrukturen vieler arabischer Staaten verinnerlicht haben und die politische Ökonomie der gesamten Region sich um das Tempo der Akkumulation in der Golfregion selbst dreht. Es ist wichtig, darüber nachzudenken, und Sameh spricht in seinem Kapitel bis zu einem gewissen Grad darüber, aber ich denke, es ist wichtig, die politischen Implikationen herauszuarbeiten, die sich aus Natur der herrschenden Klasse in einem Land wie Ägypten ergeben. Es ist nicht nur das ägyptische Kapital im Sinne eines nationalen Kapitals, über das wir nachdenken müssen, wenn es um die Frage geht, wer die herrschende Klasse bildet und wer daher mit der Staatsmacht verbunden ist. Es geht auch um diese anderen internationalistischen oder internationalisierenden Kapitalfraktionen, insbesondere im Fall der Golfstaaten.
Wenn man die Klassen auf diese Weise betrachtet, stellt man die zweistufigen Theorien in Frage, die in den 1960er und 70er Jahren in weiten Teilen der arabischen Linken vorherrschten und die ihre Hoffnung auf einen revolutionären Wandel auf eine nationale Bourgeoisie setzten, die irgendwie in Opposition zum internationalen westlichen imperialistischen Kapital stand. Aber wenn wir über die herrschende Klasse im von mir vorgeschlagenen Sinne nachdenken, das heißt, als eine, die diese anderen Arten von regionalen Fraktionen des Kapitals einschließt, dann bricht diese Idee einer fortschrittlichen nationalen Bourgeoisie meiner Meinung nach komplett zusammen. Das lässt sich am Beispiel des ägyptischen Kampfes gut veranschaulichen.
Um das klarzustellen: Ich sage nicht, dass nationale Grenzen nicht wichtig sind. Ich versuche nicht, eine Art amorphe Idee von transnationalem Kapital zu befürworten. Ich behaupte lediglich, dass das Verständnis des Wesens der herrschenden Klasse bedeutet, genau zu betrachten, wie sich die Kapitalakkumulation durch grenzüberschreitende Prozesse ausbreitet. Ich denke, dass dies ein Punkt ist, den Neil Davidson in anderen Schriften dargelegt hat.
In Ägypten können wir dies an einigen der Forderungen, die 2011 aufkamen und ihren politischen Implikationen ablesen, insbesondere an den Forderungen nach der Wiederverstaatlichung von Gütern oder Vermögenswerten, die privatisiert worden waren, sowie an der Forderung, dass diejenigen, die vom Ausverkauf staatlicher Güter unter Mubarak profitiert hatten, zur Rechenschaft gezogen werden. All diese politischen Forderungen, die zu diesem Zeitpunkt aufkamen, stießen unweigerlich auf die festgefügte Position des Golfkapitals innerhalb des ägyptischen Staates, innerhalb der ägyptischen Klassenformation. Das war etwas, das in den Forderungen der Bewegung von 2011 nicht unbedingt explizit, aber dennoch implizit enthalten war.
Wir können dies auch daran erkennen, dass die Golfstaaten eine wichtige Rolle bei der Unterstützung verschiedener Kräfte gespielt haben, sowohl in der Mursi-Zeit durch die Unterstützung Katars als auch durch die saudische und emiratische Unterstützung für Sisi mit seiner derzeitigen Militärdiktatur. Ich glaube nicht, dass dies ein Aspekt ist, der für den Nahen Osten gilt. Matt Gonzalez und Jeff Weber sprechen in ihren Kapiteln ähnliche Sachverhalte im lateinamerikanischen Kontext an, und zwar in Bezug auf die Notwendigkeit zu erkennen, wie konkret der Extraktivismus unvermeidlich ist oder durch Formen des internationalen Kapitals entstehen muss.
Die andere Seite dazu besteht darin, wie wir über den Kampf der Arbeiter:innenklasse insbesondere im Nahen Osten denken, wo ein Großteil der Arbeiter:innenklasse der Region aus Flüchtlingen und Menschen besteht, die über Grenzen hinweg vertrieben wurden. Das sind Menschen, die keine Staatsbürgerschaft in der Region besitzen, aber dennoch als wichtige und treibende Kräfte hinter dem Kampf der Arbeiter:innenklasse im gesamten Nahen Osten gesehen werden müssen. Hier können wir also sehen, wie sich Konflikte, Krisen, Gewalt, Vertreibung und Krieg auf unsere Prozesse der Klassenbildung und damit auf die Art der Kämpfe gegen den Staat auswirken.
Der andere Aspekt, den ich kurz hervorheben möchte und der damit zusammenhängt, ist der internationale Charakter des konterrevolutionären Moments. Gareth hat dies in seinem Kapitel über Osteuropa sehr schön herausgearbeitet. Was mich beim Lesen dieses Kapitels wirklich beeindruckt hat, war die Art und Weise, wie Osteuropa wirklich ein Labor für Dinge war, die anderswo erst viel später kamen. Im Falle des Nahen Ostens war dies besonders auffällig. Dort wurden Institutionen wie die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung als Teil eines ähnlichen Prozesses gegründet. Sie unternahmen einen Vorstoß in den Nahen Osten nach 2011 mit der gleichen Logik des Versuchs, die Staatsmacht wiederherzustellen, sicherzustellen, dass es eine Kontinuität mit der neoliberalen Entwicklungslogik gibt, und um das aufrechtzuerhalten, was sie zu diesem Zeitpunkt den geordneten Übergang nannten.
Abschließend möchte ich sagen, dass es meiner Meinung nach verschiedene Elemente des konterrevolutionären Moments in diesem internationalen Kontext gibt. Ich denke, wir müssen insbesondere der Art und Weise mehr Aufmerksamkeit schenken, in der Schulden und Formen des Weltgeldes die Fähigkeit von Bewegungen, die Staatsmacht zu übernehmen und den Kapitalismus zu überwinden, einschränken oder behindern. Im Fall des Nahen Ostens lässt sich dazu vieles sagen, nicht zuletzt die Art und Weise, wie dieselben regionalen Mächte, über die ich gesprochen habe, ihre eigenen Finanzüberschüsse in den Zentralbanken der Nachbarländer angelegt haben, um ihre regionale Kontrolle zu verstärken oder zu vertiefen. Ich denke also, dass diese neuen Formen finanzieller Hegemonie wichtig sind, wenn man sich ansieht, wie Revolutionen tatsächlich ablaufen.
Ich möchte es dabei belassen und mich noch einmal bei Spectre und Gareth dafür bedanken, dass sie dies ermöglicht haben.
Um das Wesen der herrschenden Klasse zu verstehen, muss man sich ansehen, wie sich die Kapitalakkumulation durch grenzüberschreitende Prozesse ausbreitet.
Adam Hanieh
Zach Levenson: Danke, Adam. Ich wollte Gareth ein paar Minuten Zeit geben, um zu antworten, und dann können wir die Diskussion eröffnen. Also, Gareth, Du hast das Wort.
Gareth Dale: Vielen Dank, Amanda und Lucí und Adam, für diese wirklich sehr interessanten Ausführungen.
Was Adams Kommentare betrifft, so stimme ich Deiner Betonung zu, dass wir zum Verständnis der Strategien der herrschenden Klasse bei der Niederschlagung und Eindämmung von Aufständen Fragen des Imperialismus, der Verschuldung usw. mit einbeziehen müssen. In Colin Barkers erstem Buch aus den 1980er Jahren macht das Kapitel über Chile deutlich, dass wir nicht über Chile reden können, ohne über die Vereinigten Staaten zu reden. Oder wir haben in einigen Fällen festgestellt, dass einige zerfallende Hegemonialmächte gezwungen sind, Revolten zu tolerieren, wie es in der DDR der Fall war, die ich in meinem Kapitel betrachtet habe. Die Sowjetunion wurde einfach in die Ecke gedrängt und musste den Sturz des dortigen Regimes hinnehmen.
Ich wollte auch auf Fragen der internationalen Ebene eingehen und nur ein paar Bemerkungen dazu anbringen, dann auf Amandas und Lucís Kommentare eingehen, die ebenfalls sehr interessant waren. Amanda sprach über die Bewegung für das Leben der Schwarzen in den USA und ihren zeitweise revolutionären Geist, und ich erinnere mich dabei an den Sturz von Statuen. Das erinnerte mich in mancher Hinsicht sehr an 1989 in Osteuropa. Es war eine Bewegung, die sich weltweit auswirkte. In Großbritannien gab es sehr, sehr starke Anklänge an sie. Das war auch anderswo in der Welt der Fall, zum Beispiel in Nigeria mit der dortigen Anti-Polizeibewegung.
Lucí sprach über den feministischen Aufstand, der sich ebenfalls sehr schnell globalisierte. Wenn wir also die Zeit der 1960er und 1970er Jahre mit den letzten 10 oder 15 Jahren vergleichen, sehen wir, dass in beiden Fällen die Bewegungen gegen Unterdrückung sehr wichtige Teile der Bewegungslandschaft waren, und dass sie sich sehr schnell globalisierten. Die globalen Verbindungen waren für die beteiligten Akteure sehr anschaulich. Ich nehme an, der Unterschied zwischen den beiden Zeiträumen besteht darin, dass im ersten Fall die Bewegungen gegen Unterdrückung enger mit den mächtigen Arbeiterbewegungen verbunden waren. Wenn Arbeiter:innen streiken, nehmen sie ihre Macht wahr, die Welt zu verändern. Denn es handelt sich um Bewegungen von Menschen, die im Zentrum der Produktion stehen. Das macht einen ganz erheblichen Unterschied aus.
Davon abgesehen stimme ich der Bemerkung von Lucí zu, dass die feministischen Streiks und die feministische Bewegung in Lateinamerika und anderswo dazu beigetragen haben, die Perspektive der Arbeitenden neu zu definieren. Wir können die Arbeiter:innenbewegung als ein Kraftfeld zwischen einer Mittelschicht von Funktionär:innen in den Gewerkschaften und ihren verbündeten politischen Parteien betrachten, die im Wesentlichen mit dem Kapital im Namen der Arbeitenden verhandeln. Der Druck, der von den Arbeiter:innen selbst ausgeht, wenn es zu einer Bewegung wie den Frauenstreiks kommt, kann zumindest auf ihren Höhepunkten die Gewerkschaften und die mit ihnen verbundenen Parteien dazu zwingen, sich um die wirklichen Probleme und das wirkliche Leben der arbeitenden Menschen zu kümmern, wie es bei der Diskussion von Lucí über die Frauen oder im Fall von Black Lives Matter für die schwarzen Gemeinschaften in Amerika und anderswo der Fall war. Dies ist Teil des Prozesses, die Gewerkschaftsbewegung aus dem Griff der Funktionäre der Mittelklasse zu befreien und ihr eine Protestidentität zu verleihen, die viel enger mit dem Leben der arbeitenden Menschen selbst und ihren Interessen verbunden ist.
Abschließend möchte ich noch etwas zur Globalität von all dem sagen. Wenn wir uns die feministischen Streiks ansehen, so waren sie Teil einer Reihe großer Bewegungen auf der ganzen Welt, zu denen auch die #metoo-Bewegung gehörte, und so gab es das Gefühl einer rollenden Frauenbewegung, die weltweit echten Schwung und Dynamik entwickelte. Sie entfachte sich in einem Land nach dem anderen, von einem Thema zum anderen, sei es Abtreibung in einem Land und dann gegen Polizeigewalt in einem anderen und so weiter. Dieses Gefühl des globalen Bewusstseins, das in den 1960er und 1970er Jahren sehr ausgeprägt war und einen wichtigen Teil des Aufschwungs der sozialen Bewegung ausmachte, ist heute wirklich greifbar und das schon seit einigen Jahren.
[1] Wladimir I. Lenin. Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution. [Geschrieben im Juni-Juli 1905 Zum ersten Mal veröffentlicht als Broschüre in Genf im August 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 8, 1931, S. 33-170] https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/lenin/1905/wladimir-i-lenin-zwei-taktiken-der-sozialdemokratie-in-der-demokratischen-revolution/13-schluss-duerfen-wir-siegen
[2] Vergleiche auch das Interview von Christian Zeller mit Sameh Naguib in Emanzipation 5 (1), S. 104-118.
[3] Syllogistische Argumente sind nach einem bestimmten Muster aufgebaut. Zwei Prämissen bzw. Voraussetzungen, genannt Obersatz und Untersatz, führen zu einer Schlussfolgerung. [Anm. red.]