Share This Article
Weltkapitalismus in der Sackgasse
Der Ökonom François Chesnais liefert in diesem Artikel ein umfassendes Bild vom Zustand des globalen Kapitalismus. Er zeigt, dass die kapitalistische Wirtschaft in ein schwaches Wachstumsregime abrutscht, das insbesondere durch geringe Produktivitätszuwächse, hohe Inflation, chronische finanzielle Instabilität und erhebliche Knappheitsphänomene gekennzeichnet ist. Diese Situation wird die besitzenden Klassen wahrscheinlich dazu veranlassen, den Druck auf die Arbeitenden und die Umwelt zu erhöhen und die Ausbeutung zu verschärfen. Es ist dringend notwendig, dass die sozialen Bewegungen wieder die Initiative ergreifen, um die gesellschaftliche Krise anzupacken und die Erderhitzung entscheidend zu bremsen. (red.)
Ungünstige Prognosen
Um die großen Trends der wirtschaftlichen Entwicklungen darzustellen, ist die globale Ebene zu analysieren. Obwohl die Preise für Energie und wichtige Rohstoffe noch nicht in die Höhe geschnellt waren und das Wort Stagflation noch nicht wieder die Runde machte, war der Ton in den halbjährlichen Sitzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank im Oktober 2021 bereits düster. In der Präsentation des Berichts über die globale Finanzstabilität (Global Financial Stability Report (IMF 2021)) vom Oktober 2021 im Blog eines Mitglieds des IWF-Sekretariats (Gopinath 2021) ist von einer „stolpernden“ Weltwirtschaft die Rede (das englische Wort hobbled ist bildhafter, hobbles beschreiben Steine in Schuhen oder unter den Füßen). Die Bedenken der Organisation werden in der folgenden Zusammenfassung des Berichts selbst unverblümt dargelegt:
„Trotz einiger Verbesserungen seit dem Bericht über die globale Finanzstabilität vom April 2021 sind die finanziellen Schwachstellen in einer Reihe von Sektoren nach wie vor erhöht, was zum Teil durch massive politische Anreize verschleiert wird. Die politischen Entscheidungsträger stehen vor der Herausforderung, die Weltwirtschaft kurzfristig zu stützen und gleichzeitig unbeabsichtigte Folgen und mittelfristige Risiken für die Finanzstabilität zu vermeiden. Eine längere Periode extrem lockerer finanzieller Bedingungen ist zwar notwendig, um den wirtschaftlichen Aufschwung zu unterstützen, kann aber zu einer überzogenen Bewertung von Vermögenswerten führen und finanzielle Anfälligkeiten verstärken. Einige Warnzeichen – beispielsweise die erhöhte finanzielle Risikobereitschaft und die zunehmende Anfälligkeit des Sektors der Nichtbanken-Finanzinstitute – deuten auf eine Verschlechterung der Grundlagen der Finanzstabilität hin. Bleiben diese Anfälligkeiten unkontrolliert, können sie sich zu strukturellen Altlasten entwickeln, die das mittelfristige Wachstum gefährden und die Widerstandsfähigkeit des globalen Finanzsystems auf die Probe stellen.“ (übersetzt aus dem Original IMF 2021: xi)
Tabelle 1: Wachstumsprognosen des IWF (IMF 2022: 5)
Estimate | Projections | Difference from October 2021 WEO Projections 1/ | ||||||
2020 | 2021 | 2022 | 2023 | 2022 | 2023 | |||
World Output | –3,1 | 5,9 | 4,4 | 3,8 | –0,5 | 0,2 | ||
Advanced Economies | –4,5 | 5,0 | 3,9 | 2,6 | –0,6 | 0,4 | ||
United States | –3,4 | 5,6 | 4,0 | 2,6 | –1,2 | 0,4 | ||
Euro Area | –6,4 | 5,2 | 3,9 | 2,5 | –0,4 | 0,5 | ||
Germany | –4,6 | 2,7 | 3,8 | 2,5 | –0,8 | 0,9 | ||
France | –8,0 | 6,7 | 3,5 | 1,8 | –0,4 | 0,0 | ||
Italy | –8,9 | 6,2 | 3,8 | 2,2 | –0,4 | 0,6 | ||
Spain | –10,8 | 4,9 | 5,8 | 3,8 | –0,6 | 1,2 | ||
Japan | –4,5 | 1,6 | 3,3 | 1,8 | 0,1 | 0,4 | ||
United Kingdom | –9,4 | 7,2 | 4,7 | 2,3 | –0,3 | 0,4 | ||
Canada | –5,2 | 4,7 | 4,1 | 2,8 | –0,8 | 0,2 | ||
Other Advanced Economies 3/ | –1,9 | 4,7 | 3,6 | 2,9 | –0,1 | 0,0 | ||
Emerging Market and Developing Economies | –2,0 | 6,5 | 4,8 | 4,7 | –0,3 | 0,1 | ||
Emerging and Developing Asia | –0,9 | 7,2 | 5,9 | 5,8 | –0,4 | 0,1 | ||
China | 2,3 | 8,1 | 4,8 | 5,2 | –0,8 | –0,1 | ||
India 4/ | –7,3 | 9,0 | 9,0 | 7,1 | 0,5 | 0,5 | ||
ASEAN-5 5/ | –3,4 | 3,1 | 5,6 | 6,0 | –0,2 | 0,0 | ||
Emerging and Developing Europe | –1,8 | 6,5 | 3,5 | 2,9 | –0,1 | 0,0 | ||
Russia | –2,7 | 4,5 | 2,8 | 2,1 | –0,1 | 0,1 | ||
Latin America and the Caribbean | –6,9 | 6,8 | 2,4 | 2,6 | –0,6 | 0,1 | ||
Brazil | –3,9 | 4,7 | 0,3 | 1,6 | –1,2 | –0,4 | ||
Mexico | –8,2 | 5,3 | 2,8 | 2,7 | –1,2 | 0,5 | ||
Middle East and Central Asia | –2,8 | 4,2 | 4,3 | 3,6 | 0,2 | –0,2 | ||
Saudi Arabia | –4,1 | 2,9 | 4,8 | 2,8 | 0,0 | 0,0 | ||
Sub-Saharan Africa | –1,7 | 4,0 | 3,7 | 4,0 | –0,1 | –0,1 | ||
Nigeria | –1,8 | 3,0 | 2,7 | 2,7 | 0,0 | 0,1 | ||
South Africa | –6,4 | 4,6 | 1,9 | 1,4 | –0,3 | 0,0 | ||
Memorandum | ||||||||
World Growth Based on Market Exchange Rates | –3,5 | 5,6 | 4,2 | 3,4 | –0,5 | 0,3 | ||
European Union | –5,9 | 5,2 | 4,0 | 2,8 | –0,4 | 0,5 | ||
Middle East and North Africa | –3,2 | 4,1 | 4,4 | 3,4 | 0,3 | –0,1 | ||
Emerging Market and Middle-Income Economies | –2,2 | 6,8 | 4,8 | 4,6 | –0,3 | 0,0 | ||
Low-Income Developing Countries | 0,1 | 3,1 | 5,3 | 5,5 | 0,0 | 0,0 | ||
World Trade Volume (goods and services) 6/ | –8,2 | 9,3 | 6,0 | 4,9 | –0,7 | 0,4 | ||
Advanced Economies | –9,0 | 8,3 | 6,2 | 4,6 | –0,7 | 0,6 | ||
Emerging Market and Developing Economies | –6,7 | 11,1 | 5,7 | 5,4 | –0,7 | 0,0 | ||
Commodity Prices (US dollars) | ||||||||
Oil 7/ | –32,7 | 67,3 | 11,9 | –7,8 | 13,7 | –2,8 | ||
Nonfuel (average based on world commodity import weights) | 6,7 | 26,7 | 3,1 | –1,9 | 4,0 | –0,4 | ||
Consumer Prices | ||||||||
Advanced Economies 8/ | 0,7 | 3,1 | 3,9 | 2,1 | 1,6 | 0,2 | ||
Emerging Market and Developing Economies 9/ | 5,1 | 5,7 | 5,9 | 4,7 | 1,0 | 0,4 |
1/ Difference based on rounded figures for the current and October 2021 WEO forecasts. Countries whose forecasts have been updated relative to October 2021 WEO forecasts account for approximately 90 percent of world GDP measured at purchasing-power-parity weights.
2/ For World Output, the quarterly estimates and projections account for approximately 90 percent of annual world output at purchasing-power-parity weights. For Emerging Market and Developing Economies, the quarterly estimates and projections account for approximately 80 percent of annual emerging market and developing economies’ output at purchasing-power-parity weights.
3/ Excludes the Group of Seven (Canada, France, Germany, Italy, Japan, United Kingdom, United States) and euro area countries.
4/ For India, data and forecasts are presented on a fiscal year basis, with FY 2021/2022 starting in April 2021. For the January 2022 WEO Update, India’s growth projections are 8.7 percent in 2022 and 6.6 percent in 2023 based on calendar year. The impact of the Omicron variant is captured in the column for 2021 in the table.
5/ Indonesia, Malaysia, Philippines, Thailand, Vietnam.
6/ Simple average of growth rates for export and import volumes (goods and services).
7/ Simple average of prices of UK Brent, Dubai Fateh, and West Texas Intermediate crude oil. The average price of oil in US dollars a barrel was $69.07 in 2021; the assumed price, based on futures markets (as of January 10, 2022), is $77.31 in 2022 and $71.29 in 2023.
8/ The inflation rate for the euro area is 3.0% in 2022 and 1.7% in 2023, for Japan is 0.7% in 2022 and 2023, and for the United States is 5.9% in 2022 and 2.7% in 2023, respectively.
9/ Excludes Venezuela.
Die Erholung der globalen BIP-Wachstumsrate zwischen 2020 und 2021 wird 2022 zweifellos zum Stillstand kommen, vor allem aufgrund der Performance der fortgeschrittenen kapitalistischen Volkswirtschaften. Im Vorfeld der Washingtoner Treffen wurde die für 2021 vorgenommene Schätzung von 6% auf 5,9% gesenkt. „Die Abwärtskorrektur für 2021 spiegelt eine schlechtere Bewertung für fortgeschrittene Volkswirtschaften – teilweise aufgrund von Störungen auf der Angebotsseite – und für Entwicklungsländer mit niedrigem Einkommen, größtenteils aufgrund der schlimmeren Pandemiedynamik, wider.“ Was für Frankreich analysiert wurde, nämlich dass „weit entfernt von dem überall gepriesenen gewaltigen Aufschwung, wir nach dem Abklingen der ziemlich mechanischen Effekte des Aufschwungs eine Form der Stagnation sehen“ (Godin und Israel 2021), gilt für alle fortgeschrittenen kapitalistischen Länder.
Die Schätzungen für Oktober wurden bereits nach unten korrigiert. In ihrem Dezember-Bericht über den Weltwirtschaftsausblick prognostiziert die OECD, dass das globale Wachstum 2022 mit einer „nachhaltigen Rate“ von 4,5 Prozent wachsen wird, bevor es sich auf „3,2 Prozent im Jahr 2023“ verlangsamt (Boone 2021). Der IWF sagt in seinem Januarbericht ein Wachstum von 4,4 % für 2022 und 3,8% für 2023 voraus (IMF 2022: 5). Das ist ein Tempo, das die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen zwischen und vor allem innerhalb von Ländern nicht verringern wird, deren Ausmaß der neue World Inequality Report 2022 wieder einmal deutlich gemacht hat (Chancel, et al. 2021). Gleichzeitig ist das globale Wachstum durch die Inflation bedroht und mehr denn je durch sehr große Unterschiede zwischen den Ländern gekennzeichnet.
Die Robustheit der Projektionen hängt von drei Faktoren ab, dem Verlauf der Covid19-Pandemie, dem Verlauf des Preisanstiegs und dem Wachstum Chinas. Beginnen wir mit der Pandemie. Die Washingtoner Institutionen und die OECD befürchten seit Monaten eine dritte Welle, die die Produktion und den Welthandel beeinträchtigen würde, wenn auch nicht so stark wie die vorherigen. Noch vor dem Auftreten der Omicron-Variante warnten sie gemeinsam mit der WHO vor den Gefahren des enormen Impfgefälles zwischen den OECD-Ländern und den vielen Ländern der übrigen Welt. Trotz ihrer Befürchtungen hüteten sich die drei Organisationen davor, sich für die Aufhebung der Patente auszusprechen, die von den Regierungen der Herkunftsländer der großen Pharmakonzerne insbesondere in Europa (Deutschland, Schweiz, Frankreich) radikal abgelehnt wird. Die WHO appellierte an die Länder mit hohem Impffortschritt bis Ende 2021 ein Moratorium für Auffrischungsdosen einzuführen – mit Ausnahmen für immungeschwächte Personen – um die Versorgung mit Impfstoffen in Ländern mit niedrigem Einkommen zu verbessern.
Anfang 2021 legten Indien und Südafrika der WTO einen Vorschlag vor, vorübergehend auf geistige Eigentumsrechte zu verzichten, um eine Massenproduktion von Impfstoffen, Testmaterialien und Medikamenten zu ermöglichen. Der Vorschlag scheiterte, da die WTO stattdessen eine Arbeitsgruppe einsetzte, die lediglich die Lieferung von Dosen sicherstellen sollte. Die Diskussionen darüber waren mühsam. Die Task Force von IWF, WB, WHO und WTO konstatierte Mitte September die blockierte Situation in einer Pressemitteilung (WTO 2021):
„Freigabe von Dosen für Länder mit niedrigem und niedrigem mittleren Einkommen: Die Mitglieder der Task Force nehmen zur Kenntnis, dass Länder mit hohen Impfraten zusammen über zwei Milliarden Dosen im Voraus gekauft haben, die über das hinausgehen, was für eine vollständige Impfung ihrer Bevölkerung erforderlich ist. Die Task Force ruft diese Länder erneut dazu auf, i) ihre kurzfristigen Lieferpläne mit COVAX und AVAT zu tauschen, ii) ihre Dosis-Spendenzusagen durch nicht gekennzeichnete Vorablieferungen an COVAX zu erfüllen und iii) die Impfstoffhersteller von Optionen und Verträgen zu befreien, damit diese Dosen an Menschen in Ländern mit niedrigem und niedrigem mittleren Einkommen geliefert werden können. Außerdem sollten die Impfstoffhersteller ihren Verträgen mit COVAX und AVAT Priorität einräumen und diese erfüllen.
Transparenz bei der Lieferung von Impfstoffen: Um sicherzustellen, dass die Dosen die Länder erreichen, die sie am dringendsten benötigen, insbesondere die Länder mit niedrigem und niedrigem mittleren Einkommen, fordert die Task Force die Impfstoffhersteller auf, Einzelheiten zu den monatlichen Lieferplänen für alle Impfstofflieferungen mitzuteilen, insbesondere für COVAX und AVAT. […]
Beseitigung von Ausfuhrbeschränkungen und -verboten: Die Task Force fordert alle Länder auf, Ausfuhrbeschränkungen, hohe Zölle und Zolleinschränkungen für COVID-19-Impfstoffe und die für die Herstellung und rechtzeitige Verteilung von Impfstoffen erforderlichen Roh- und Hilfsstoffe dringend zu beseitigen.“ Die Folgen dieser globalen Lücke beim Zugang zu Impfstoffen sind bekannt. Zuerst in Indien und jetzt in Südafrika sind die neuen mutierten Formen von Covid-19 aufgetreten.
Lockere Geldpolitik bläht Finanzguthaben auf
Der Rückgang des globalen BIP im Jahr 2020 wäre tiefer und der Aufschwung im Jahr 2021 geringer ausgefallen, wenn die Zentralbanken der G7-Staaten nicht nach dem Vorbild der Fed aktiv eine Geldpolitik betrieben hätten, die es den Regierungen ermöglichte, eine ganze Palette von Maßnahmen zur Unterstützung ihrer Volkswirtschaften zu finanzieren. Sie umfasst den direkten Kauf von Staatsschuldtiteln, die Schaffung von Liquidität zu sehr niedrigen Zinssätzen für die Banken und die Unterstützung von Unternehmen außerhalb des Finanzsektors durch Mechanismen zum Kauf von Vermögenswerten, die wie in Japan bis zum Kauf von Aktien reichen können (Odendahl, et al. 2021).[1]
Die massive Ausgabe von Staatsanleihen und deren Ankauf durch die Zentralbanken haben zu einem weiteren Anstieg der Finanzanlagen beigetragen, der von einem sehr starken Anstieg der Immobilienpreise begleitet wurde. Finanzanlagen sind fiktives Kapital. Der Begriff bezeichnet die wirtschaftliche Natur von Wertpapieren, die aus Krediten an Regierungen oder Unternehmen oder aus der (meist anfänglichen) Finanzierung des Kapitals von Unternehmen resultieren. Wertpapiere – Anleihen und Aktien – begründen Rechte (genauer gesagt Ansprüche, da die Rechte bei einem Crash verschwinden können), an der Gewinnbeteiligung der Firmen teilzuhaben oder über den Schuldendienst der öffentlichen Hand auf die aus Steuern resultierenden Einnahmen zuzugreifen. In diesem Sinne sind Wertpapiere zwar real, aber aus dem Blickwinkel der Bewegung von Kapital, das Wert und Mehrwert produziert, betrachtet, sind sie kein Kapital. Im besten Fall sind sie die „Erinnerung“ an eine bereits getätigte Investition. Ihre Besitzer sehen in ihnen „Kapital“, von dem sie regelmäßige Erträge in Form von Zinsen und Dividenden (eine „Kapitalisierung“) erwarten, und zwar sowohl durch den Wertabzug, den sie zulassen, als auch durch fiktive Gewinne aus erfolgreichen Spekulationsgeschäften auf den Finanzmärkten.[2]
Seit 1994 berechnet das McKinsey Global Institute die Differenz zwischen der Wachstumsrate der Finanzanlagen und der Wachstumsrate des Welt-BIP und verfolgt die Entwicklung in aufeinanderfolgenden Studien, die 2009, 2011 und 2013 veröffentlicht wurden. Die Finanzvermögen schlossen die Immobilien nicht ein. In ihrer jüngsten Studie wollte die Autoren:innengruppe ihre Schätzungen durch einen Ansatz verbessern, der auf der Erstellung einer globalen Bilanz beruht, „ähnlich der Art und Weise, wie ein Unternehmen seine Bilanz erstellt“ (McKinsey Global Institute 2021). Die Autor:innen berichten, dass Finanzanlagen wie Aktien, Anleihen und Derivate zwischen 2000 und 2020 vom 8,5-fachen auf das 12-fache des globalen BIP gestiegen sind. Noch wichtiger ist, dass Immobilien zwei Drittel des weltweiten Realvermögens oder des Nettowerts ausmachen. Der Wert von Wohnimmobilien einschließlich Grundstücken belief sich 2020 auf 46% des weltweiten Nettovermögens, wobei Gebäude und Grundstücke im Besitz von Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen (Staat, Kommunen) weitere 23% ausmachten. „Andere Anlagegüter wie öffentliche Infrastruktur, Maschinen und Ausrüstungen, immaterielle Vermögenswerte und Mineralreserven – die Arten von Vermögenswerten, die normalerweise das Wirtschaftswachstum ankurbeln – machten nur ein Fünftel der realen Vermögenswerte oder des Nettowerts aus und reichten von 15% in Großbritannien und Frankreich bis zu 39% in Japan.“ (McKinsey Global Institute 2021: 9)
Der deutsche Versicherungsriese Allianz stellte seinerseits im September 2021 fest (Allianz Research 2021: 2): „2020 war das Jahr der extremen Gegensätze. Das neuartige Covid-19-Virus zerstörte Millionen von Leben und Existenzen und stürzte die Weltwirtschaft in die tiefste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg. Gleichzeitig mobilisierte die Geld- und Finanzpolitik ungeahnte Summen, um die Wirtschaft, die Märkte und die Menschen zu stützen – und das mit Erfolg. Die Einkommen stabilisierten sich und die Aktienmärkte erholten sich rasch. […] Das globale Finanzvermögen stieg 2020 um +9,7 % und erreichte damit erstmals die magische 200-Billionen-Euro-Marke.
Selten war die Kluft zwischen Vermögens- und Wirtschaftswachstum so ausgeprägt wie im Jahr 2020: Das globale Finanzvermögen wuchs um sage und schreibe 11,6 Prozentpunkte mehr als die Wirtschaftsleistung. [….] Infolgedessen erreichte das globale Finanzvermögen im Jahr 2020 einen weiteren Meilenstein: Zum ersten Mal überstieg es 300 % des globalen BIP.“
Aufgrund der sehr niedrigen Renditen von Staats- und Unternehmensanleihen floss das fiktive Kapital massiv in Aktien, was zu einem Höhenflug der Börsenkurse und einem Anstieg der Vermögenswerte führte, was allerdings in völligem Widerspruch zum Stand der Produktion und des Handels steht. Ein Maß für das Verhältnis zwischen dem Kursniveau und der wirtschaftlichen Realität ist der „Shiller-Index“ (benannt nach Robert Shiller, Professor an der Universität Yale, der ihn vorgeschlagen hat). Dieser Index berechnet das Verhältnis zwischen Aktienpreisen und Gewinnen börsennotierter Unternehmen. Das Prinzip des CAPE (Cyclically Adjusted Price to Earnings) ist folgendes: Um zu beurteilen, ob die Aktien börsennotierter Unternehmen „zu teuer“ sind oder nicht, muss man ihren Kurs mit ihren Gewinnen vergleichen: das ist die Price Earning Ratio oder PER. Um PERs im Zeitverlauf vergleichen zu können, muss man jedoch die Inflation herausrechnen und die Effekte glätten, die mit dem Konjunkturzyklus zusammenhängen (die Gewinne sind höher, wenn die Konjunktur auf Expansionskurs ist, und niedriger, wenn sie depressiv ist). Der Shiller-Index setzt daher die Kurse der 500 größten Aktien der Wall Street (S&P 500) in Relation zu den durchschnittlichen Gewinnen über einen Zeitraum von 10 Jahren.
Der Index erreichte seinen aktuellen Stand nur zweimal, nämlich am Vorabend des Crashs von 1929 und am Vorabend des Crashs der dot.com-Aktien an der Nasdaq im Jahr 2000. Allerdings beendeten die Crashs 1929 und in geringerem Maße auch 2000 echte Phasen der Kapitalexpansion, während wir uns heute in einer Phase der Quasi-Stagnation befinden.
Der Index wird für den Gesamtmarkt, den Gesamtbetrag der gehandelten Aktien, berechnet. Sein derzeitiges Niveau beruht auf zwei Faktoren. Der erste ist die Höhe der Marktkapitalisierung der zehn größten börsennotierten Unternehmen. Die Marktkapitalisierung entspricht der Anzahl der sich im Umlauf befindlichen Aktien eines Unternehmens multipliziert mit dem Preis einer einzelnen Aktie. Die Branchenverteilung ist geprägt von der überwältigenden Dominanz der Plattformen, die auf künstlicher Intelligenz, dem Internet und dem Verkauf von Werbung beruhen (die GAFAM: Google (Alphabet), Amazon, Facebook (Meta Platforms), Apple und Microsoft). Die Situation ist heute fast identisch, der einzige Neuzugang unter den Top Ten an der Wall Street ist Tesla.
Tabelle 2: Die fünfzehn größten Konzerne nach Marktkapitalisierung
Rank | Name | Symbol | Marktkapitalisierung | Preis (USD) | Land |
1 | Apple | AAPL | 2 752 103 579 648 | 168.64 | United States |
2 | Microsoft | MSFT | 2 211 876 438 016 | 295.04 | United States |
3 | Saudi Aramco | 2222.SR | 1 987 313 572 114 | 9.94 | Saudi Arabia |
4 | Alphabet (Google) | GOOG | 1 773 238 878 208 | 2682.6 | United States |
5 | Amazon | AMZN | 1 560 049 614 848 | 3065.87 | United States |
6 | Tesla | TSLA | 872 900 000 000 | 860.00 | United States |
7 | Berkshire Hathaway | BRK-A | 713 460 744 192 | 479.370 | United States |
8 | Meta (Facebook) | FB | 627 693 450 000 | 219.55 | United States |
9 | TSMC | TSM | 627 557 859 328 | 121.01 | Taiwan |
10 | NVIDIA | NVDA | 596 809 089 024 | 239.49 | United States |
11 | Tencent | TCEHY | 586 134 913 024 | 60.2 | China |
12 | Visa | V | 486 575 210 496 | 224.69 | United States |
13 | JPMorgan Chase | JPM | 453 155 880 960 | 153.92 | United States |
14 | UnitedHealth | UNH | 450 327 216 128 | 478.13 | United States |
15 | Johnson & Johnson | JNJ | 441 513 377 792 | 167.71 | United States |
https://companiesmarketcap.com/
Es ist interessant, einen Moment bei Teslas Eintritt in die Top Ten zu verweilen. Abbildung 5 liefert eine perfekte Illustration einer kollektiven Wette der Finanzinvestoren sowie der Art von Transaktion, die Gewinne einbringen und die Kurse stützen kann. Der CEO und Hauptaktionär von Tesla ist Elon Musk, der auch das Unternehmen SpaceX besitzt, das weltweit für seine Pläne, private Raumfahrt zu verkaufen, bekannt ist. Tesla, ein Pionier bei Autos mit Elektromotor und Entwickler des selbstfahrenden Autos, wurde 2003 gegründet, kam aber erst im Juni 2020 nach vier aufeinanderfolgenden Quartalen mit Gewinn für die Aufnahme in den S&P 500 Index und die Notierung am Aktienmarkt der Wall Street in Frage. Es wurde das größte Unternehmen, das jemals an der Wall Street eingeführt wurde, und auf Anhieb das sechstgrößte Unternehmen in Bezug auf die Marktkapitalisierung. Bereits im Juni 2020 hatte Teslas Marktkapitalisierung die von BMW, Daimler und Volkswagen zusammengenommen übertroffen. Obwohl die Produktion und der Verkauf des ersten seiner vier Elektroauto-Modelle [3] etwa zehnmal geringer ist als die von Toyota, dem weltweit größten Hersteller, ist Tesla unter den zehn größten Kapitalisierungen an der NYSE vertreten, Toyota jedoch nicht. Tesla hat durch Aktienverkäufe rund 12 Milliarden Aktien beschafft, um Fusions- und Übernahmetransaktionen zu finanzieren, während viele Unternehmen gezwungen sind, ihre eigenen Aktien zu kaufen, um den Kurs zu stützen.
Tesla erzielt erhebliche Einnahmen aus dem Verkauf von Krediten an andere Hersteller. Nicht wenige Regierungen gewähren den Herstellern von batteriebetriebenen Elektrofahrzeugen Kredite, die von der Höhe ihrer Verkaufszahlen abhängen. Diese Gutschriften können nach dem Modell der Kohlenstoffmärkte und dem Verkauf von Verschmutzungsrechten wiederum an andere Hersteller verkauft werden. Im Jahr 2020 verdiente Tesla 1,6 Mrd. USD aus diesen Verkäufen, ohne die das Unternehmen im Jahr 2020 einen Nettoverlust erlitten hätte. Im Februar 2021 enthüllte ein Dokument der Börsenaufsicht, dass Tesla rund 1,5 Milliarden US-Dollar in die Kryptowährung Bitcoin investiert hatte. Zudem gab das Unternehmen an, dass es Bitcoin bald als Zahlungsmittel akzeptieren würde. Tesla erzielte 2021 mehr Gewinn aus dieser Investition als 2020 aus dem Verkauf von Autos, da der Bitcoin-Preis nach der Ankündigung der Investition stieg.
Die Bewegung des Shiller-Index wird durch die Überzeugung der Anleger gestützt, dass die Fed den Märkten im Falle einer Bedrohung zu Hilfe eilen wird. Der IWF ist darüber ernsthaft besorgt. In der Einleitung zum Oktober-Bericht über die globale Finanzstabilität findet sich eine Warnung, an die der Kurssturz vom 26. November 2021 erinnert, dass:
„Die Schwachstellen bei Investmentfonds, die durch den Wettlauf um Liquidität („dash for cash“) im März 2020 zeigten, bleiben bestehen. Zudem steigen bei einigen anderen Finanzinstituten außerhalb des Bankensektors die Risiken, da sie nach Erträgen streben, um ihre nominalen Renditeziele zu erreichen. So sind Lebensversicherungsgesellschaften in vielen Ländern nach wie vor mit einem hohen Ungleichgewicht zwischen Aktiva und Passiva konfrontiert. In dem Bestreben, ihre Rendite zu steigern, haben US-amerikanische und europäische Lebensversicherer ihren Anteil an Anleihen niedrigerer Qualität erhöht. Im derzeitigen Umfeld anhaltend niedriger Zinsen und reichlich vorhandener Liquidität könnte der verstärkte Einsatz von Fremdkapital zur Renditesteigerung zu Volatilität an den Finanzmärkten führen.“ (IMF 2021: xiii)
„Einige Warnsignale – z. B. die erhöhte finanzielle Risikobereitschaft und die zunehmende Anfälligkeit des Sektors der Nichtbanken-Finanzinstitute – deuten auf eine Verschlechterung der Grundlagen der Finanzstabilität hin. Werden diese Schwachstellen nicht behoben, können sie Anfälligkeiten zu strukturellen Altlasten werden, die das mittelfristige Wachstum gefährden und die Widerstandsfähigkeit des globalen Finanzsystems.“ (IMF 2021: xi)
Produktionspreise und Inflation
Nun wollen wir von der Finanz- zur Produktionssphäre übergehen und eine Reihe von Faktoren untersuchen, die hinter den steigenden Lebenshaltungskosten stehen und damit dafür sorgen, dass die Parole gegen hohe Lebenshaltungskosten wieder an Aktualität gewonnen hat. Diese Faktoren wirken sich negativ auf die Profitrate aus und verleihen ihrer Abwärtsbewegung, die wir weiter unten untersuchen werden, einen konkreten Charakter. Der erste Faktor ist der Anstieg der Energie- und Rohstoffpreise, auf den die Stagflation weitgehend zurückzuführen ist. Beginnen wir mit den Gaspreisen. Der erneute Anstieg des Ölpreises ist heute weitgehend eine Folge des Anstiegs der Preise anderer Energiequellen, der Kohlepreise in China und Indien sowie der Gaspreise in Europa.
In Frankreich wurde am 1. Oktober 2021 mit einem Anstieg von 12,6 % der höchste Gaspreisanstieg der letzten 15 Jahre verzeichnet. Von Anfang bis Ende 2021 stieg der Gaspreis in Europa um mehr als 350 % (Hume 2021). Der Gaspreis auf dem Großhandelsmarkt erreicht Rekordwerte, weil das Angebot die Nachfrage nicht mehr befriedigt, was durch Spekulation verschärft wird. Diese wurde durch die Finanzialisierung ermöglicht, die aus der von den europäischen Verträgen vorgeschriebenen Deregulierung entstanden ist. Seit den 1990er Jahren hat sich die Industrie von einer durch staatliche Strategien gesteuerten Industrie zu einer Industrie entwickelt, in der Gas eine Ware ist, die durch den Spotmarkt gesteuert wird (Bernier 2021). Auf der Nachfrageseite hat die wirtschaftliche Erholung in Asien aufgrund des Endes der Pandemie ab dem ersten Quartal 2021 einen mechanischen Anstieg der Nachfrage ausgelöst. Die weltweit größten Produzenten von Flüssiggas, das in Schiffen transportiert wird (Golfstaaten und USA), haben diesen Aufschwung angeheizt, indem sie von höheren Preisen als jenen in Europa profitierten. Etwas zeitverzögert stieg aufgrund der wirtschaftlichen Erholung und weil die europäischen Gasreserven aufzufüllen waren die Gasnachfrage in Europa. Zudem war der letzte Winter in Europa lang und verschiedene Länder mussten ihre Gasreserven für den Winter 2021–2022 auffüllen. Der größte nationale Erdgasproduzent Europas, die Niederlande, begann 2018 schrittweise mit der Schließung seines wichtigsten Gasfeldes in Groningen. Norwegen, das zum wichtigsten Gaslieferanten für Europa geworden war, erlebte im September 2020 einen Großbrand in seiner wichtigsten Gasverflüssigungsanlage. Seitdem hat es Mühe, seine Gaslieferungen für Europa zu steigern. Auch zu bedenken ist Russlands Gasexportpolitik, aus der ein großer Teil des Gases stammt, das nach Europa gelangt. Als weltweit größter Produzent ist Russland in der Lage, die Schleusen zu öffnen oder zu schließen. Es hat seine Gasexporte über die Ukraine eingeschränkt, um die Fertigstellung des Baus der Nord Stream 2-Pipeline zu erreichen, gegen die sich die USA stark gewehrt haben.
Hinter dieser Reihe von Faktoren steht jedoch eine langfristige Grundbewegung. Eine McKinsey-Studie über Rohstoffe aus dem Jahr 2013 (vgl. Abbildung 8) stellt fest, dass sich die Entwicklung der Rohstoffpreise seit Anfang der 2000er Jahre abrupt und drastisch verändert hat. Erstens fielen im 20. Jahrhundert die realen Rohstoffpreise im Durchschnitt um etwas mehr als ein halbes Prozent pro Jahr. Ab dem Jahr 2000 haben sich die Preise jedoch im Durchschnitt mehr als verdoppelt. Zweitens hat auch die Preisvolatilität seit Anfang des Jahrhunderts erheblich zugenommen. „Das Angebot scheint nach und nach weniger in der Lage zu sein, sich schnell an Veränderungen der Nachfrage anzupassen, weil neue Reserven schwieriger und teurer zugänglich sind. Beispielsweise erfordert Offshore-Öl ausgefeiltere Fördertechniken. Verfügbares Ackerland ist aufgrund fehlender Infrastruktur nicht mit den Endmärkten verbunden. Mineralische Ressourcen müssen zunehmend in Regionen mit hohem politischem Risiko erschlossen werden. Diese Faktoren erhöhen nicht nur das Risiko von Versorgungsstörungen, sondern machen auch das Angebot noch unelastischer. Da das Angebot immer unempfindlicher auf die Nachfrage reagiert, können selbst kleine Änderungen der Nachfrage zu großen Preisänderungen führen. Investoren können durch die Volatilität der Ressourcenpreise abgeschreckt werden und weniger geneigt sein, in neue Initiativen zur Steigerung der Angebots- oder Ressourcenproduktivität zu investieren.“ (McKinsey Global Institute 2013: 1)
Drittens korrelieren die Preise der verschiedenen Arten von Rohstoffen zunehmend stärker miteinander. Einerseits machen Ressourcen einen erheblichen Anteil der Kosten für die Inputs anderer Ressourcen aus. Beispielsweise führen höhere Energiekosten für Düngemittel zu höheren Produktionskosten in der Landwirtschaft. Andererseits ermöglicht der technologische Fortschritt ein größeres Maß an Substitution zwischen Ressourcen in der Endnachfrage, zum Beispiel verbinden Biokraftstoffe die Landwirtschaft mit den Energiemärkten. Dies stellt eine ernsthafte Bedrohung für die landwirtschaftliche Produktion dar, da das Angebot an Nahrungsmitteln einen Verdrängungsprozess zugunsten ihrer Verwendung als Kraftstoff durchläuft, dessen Auswirkungen sich mit denen des Klimawandels verbinden.
Die FAO (Food and Agriculture Organization) hat eine Abbildung veröffentlicht, die den Anstieg von fünf großen Produktgruppen in den letzten zwei Jahren zeigt (Abbildung 10). Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein neues Phänomen (Smith 2013). Tatsächlich steigen die realen Durchschnittspreise für Lebensmittel seit 2000 und kehren damit den in den 1960er Jahren begonnenen Abwärtstrend um.
Kein Produkt ist allein für diesen Anstieg verantwortlich. Der Preisindex für Speiseölkulturen stieg deutlich an, was vor allem auf die Pflanzenölpreise zurückzuführen ist, die zwischen 2019 und 2020 um 16,9 % in die Höhe schnellten, wobei dieser Anstieg auf ungünstige Wetterbedingungen, aber auch auf die steigende Nachfrage nach Biodiesel zurückzuführen ist. Wir haben es also mit dem Wettbewerb zwischen zwei Zwecken zu tun, den die großen Agrarindustriekonzerne richten. Zucker ist die andere Lebensmittelkategorie, die den größten Einfluss auf den Anstieg der Lebensmittelpreise hat. Die Frostschäden, die im Juli 2021 in Brasilien aufgrund des Klimawandels auftraten, verringerten das Angebot und trieben die Preise in die Höhe. Weizen, Gerste, Mais, Sorghum und Reis sichern mindestens 50 % der Welternährung, in den ärmsten Ländern sogar bis zu 80 %. Die weltweiten Bestände dieser Kulturpflanzen, die zur Stabilisierung der Weltmärkte beigetragen haben, gehen seit 2017 zurück, da das Angebot die Nachfrage nicht mehr befriedigt. Der Preisanstieg hat sich seit 2019 stark beschleunigt, wobei es Aufmerksamkeit verdient, wie oft seit 2000 unvorhersehbare und ungünstige Wetterbedingungen von der FAO als Ursache für reduzierte Ernteerwartungen, wetterbedingte Ernteausfälle und Produktionsrückgänge gemeldet wurden.
Kurz- und mittelfristig würde die Weltwirtschaft laut der McKinsey-Studie für die wichtigsten Rohstoffe nicht mit absoluten Knappheitssituationen konfrontiert werden. Vielmehr „scheint der Anstieg der Grenzkosten des Angebots allgegenwärtig zu sein und einen Sockel unter die Preise vieler Rohstoffe zu legen.“ (McKinsey Global Institute 2013: 2) Die Notwendigkeit, nach immer teureren Vorkommen in Regionen mit hohem politischen Risiko zu suchen, beeinträchtigt die Gewinnaussichten. Der IWF hat den Rohstoffbedarf für die Schlüsselprodukte des „ökologischen Wandels“, darunter eine Reihe von seltenen Metallen, detailliert aufgeschlüsselt (Valckx, et al. 2021):
„Eine typische Batterie für ein Elektrofahrzeug benötigt beispielsweise etwa 8 Kilogramm Lithium, 35 Kilogramm Nickel, 20 Kilogramm Mangan und 14 Kilogramm Kobalt, während die Ladestationen erhebliche Mengen an Kupfer benötigen. Für grüne Energie benötigen Solarpaneele große Mengen an Kupfer, Silizium, Silber und Zink, während für Windräder Eisenerz, Kupfer und Aluminium erforderlich sind. Ein solcher Bedarf könnte die Metallnachfrage und die Preise für viele Jahre in die Höhe treiben.“ […]
„Der Ersatz fossiler Brennstoffe durch kohlenstoffarme Technologien würde eine Verachtfachung der Investitionen in erneuerbare Energien erfordern und einen starken Anstieg der Nachfrage nach Metallen bewirken. Die Erhöhung der Bergbaukapazität ist jedoch ein Prozess, der sehr lange dauert – oft ein Jahrzehnt oder länger.“ […]
„Angesichts des prognostizierten Anstiegs des Metallverbrauchs bis 2050 im Rahmen eines Netto-Null-Szenarios erscheinen die derzeitigen Produktionsraten von Graphit, Kobalt, Vanadium und Nickel unzureichend, da sie um mehr als zwei Drittel hinter der Nachfrage zurückbleiben. Auch die derzeitigen Kupfer-, Lithium- und Platinvorräte reichen nicht aus, um den künftigen Bedarf zu decken, da sie um 30 bis 40 Prozent hinter der Nachfrage zurückbleiben.“
Doch „ein erschwerender Faktor ist, dass einige wichtige Lieferungen im Allgemeinen sehr konzentriert sind. Dies bedeutet, dass einige wenige Produzenten unverhältnismäßig stark von der wachsenden Nachfrage profitieren werden. Umgekehrt birgt dies Risiken für die Energiewende, die sich aus Versorgungsengpässen ergeben, wenn die Investitionen in die Produktionskapazitäten nicht mit der Nachfrage Schritt halten, oder im Falle potenzieller geopolitische Risiken innerhalb oder zwischen den Erzeugerländern.“
So entfallen beispielsweise auf die Demokratische Republik Kongo rund 70% der Kobaltproduktion und die Hälfte der Reserven dieses Rohstoffes. Die Rolle des Kongos ist so dominant, dass die Energiewende schwieriger werden könnte, wenn das Land seine Bergbaubetriebe nicht ausweiten kann. Ähnliche Risiken existieren in Bezug auf China, Chile und Südafrika, die alle Top-Produzenten einiger entscheidender Metalle für die Energiewende sind. „Produktionsunterbrechungen oder Störungen in ihren Institutionen, Regulierungen oder Politiken könnten die Angebotssituation erschweren“ und die politischen Beziehungen zwischen einigen Ländern belasten.
Interessanterweise finden sich in den zitierten Berichten und Studien nur wenige oder gar keine Andeutungen, dass die Technologie das Wachstum ankurbeln könnte. In Bezug auf das verarbeitende Gewerbe und den Dienstleistungssektor deutet der in Abbildung 11 dargestellte Index für das Wachstum der Gesamtfaktorproduktivität darauf hin, dass Robotik und künstliche Intelligenz in der verarbeitenden Industrie und im Dienstleistungssektor die Gewinnaussichten insgesamt kaum verbessert haben, auch wenn einzelne Unternehmen sie zu nutzen wussten.
Wenn wir uns den Technologien zuwenden, die sich in neuen Produkten materialisieren (product technology), hängt ihre Fähigkeit Gewinnaussichten für sehr viele Unternehmen zu eröffnen und als Anstoß für die Akkumulation zu dienen von der Größe der Nachfrage ab, die sie aufgrund ihres gesellschaftlichen Nutzens schaffen können, sowie von der Höhe der Investitionen, die ihre Einführung erfordert, sowohl in dem Industriezweig, in dem sie entstehen oder dessen Schaffung sie erfordern, als auch in benachbarten, zusammenhängenden Branchen. Der US-amerikanische Ökonom Robert Gordon hat in seinen 2012 und 2016 veröffentlichten Forschungsarbeiten die Technologien, die in den letzten 20 Jahren entstanden sind, grob unter die Lupe genommen. Gordon zieht als Vergleichsmaßstab heran: „Die drei grundlegendsten ‚Allzwecktechnologien‘ der zweiten industriellen Revolution (die in den 1890er Jahren begann und bis in die 1970er Jahre reichte, F.C.), die Dutzende von lebensverändernden Erfindungen hervorbrachten, waren die Elektrizität, der Verbrennungsmotor und das schnurlose Telefon.“ (Gordon 2014, 2012). Näher an unserer heutigen Zeit haben die Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zu einer vorübergehenden Erholung des Produktivitätswachstums geführt, die auf einen nie wiederholten Rückgang der Kosten für die Geschwindigkeit und Speicherkapazität von Computern sowie auf einen nie wiederholten Anstieg des Anteils des BIP, der für Investitionen in FuE und IT-Erstausstattung aufgewendet wurde, zurückzuführen war. Die Fortschritte, die seit den späten 1980er Jahren bis zum Crash der dot.com-Blase im Jahr 2001 gemacht wurden, werden nur schwer zu übertreffen sein. Gordon untersucht die jüngsten Fortschritte in den Bereichen kleine Roboter, künstliche Intelligenz, 3D-Druck und fahrerlose Fahrzeuge und ist der Ansicht, dass ihre makroökonomischen Auswirkungen sehr gering sein werden. Allerdings könnten heute Investitionen und Maßnahmen zur Ankurbelung der Produktion in einer Reihe von Branchen, die notwendig sind, um die globale Erwärmung zu bremsen, die oben definierten Kriterien erfüllen.
Ein weiterer Faktor, der zum Preisanstieg beiträgt und die Profitrate einer wachsenden Zahl von Unternehmen beeinträchtigt, sind Lieferverzögerungen und Engpässe in den globalen Lieferketten. Es ist bekannt, dass die Lieferketten während der Pandemiekrise ihre große Anfälligkeit offenbart haben (Moody 2021). Die Bedeutung der Lieferzeiten kann nun anhand eines vom IWF erstellten Indexes gemessen werden, der auf Umfragen unter Einkaufsmanagern beruht, die angeben, ob die Lieferzeiten im Vergleich zum Vormonat im Durchschnitt länger, kürzer oder unverändert sind (Kamali und Wang 2021). In Abbildung 12 bedeuten Bewertungen über 50 schnellere Lieferzeiten und Bewertungen unter 50 längere Lieferzeiten. Lieferverzögerungen und Engpässe bei Komponenten belasten die Produktion der Güter (der Waren), deren Input sie sind. Sie stärken, wie der IWF betont, in Oligopol- oder Monopolkonstellationen die Macht der Verkäufer. Diese Dimension ist entscheidend. Robert Reich argumentiert, dass in den USA die Preisinflation das Symptom eines tiefer liegenden strukturellen Problems ist: die zunehmende Konsolidierung (Zentralisierung/Konzentration) der Wirtschaft zugunsten einer Handvoll großer Firmen, die über genügend Macht verfügen, um die Preise und Gewinne zu erhöhen (Reich 2021).
Auf der Seite der Lieferverzögerungen steht die Situation, dass sich die chinesische Fertigungsindustrie nach ihrem Einbruch 2019-2020 schneller als erwartet erholte, die Reedereien aber bereits Containerschiffe ins Trockendock gebracht hatten. Ein Mangel an Seecontainern, die für Lieferketten unerlässlich sind, trägt zu den Störungen bei. Container verkehren normalerweise weltweit, aber aufgrund großer Managementfehler „stecken nun viele in Nordamerika fest: Von 100 Containern, die dort ankommen, werden nur 40 nach Asien oder Europa zurückgeschickt. Die überschüssigen Container stapeln sich in Los Angeles und anderen US-amerikanischen Häfen, während die chinesischen Lieferanten um sie kämpfen. Es wird Monate dauern, bis die Containerhersteller ihre Produktionskapazität erhöhen und die Nachfrage befriedigen können“ (Palmer 2021).
Der spektakulärste und schwerwiegendste Engpass ist die Chip-Produktion in Taiwan. Für die Herstellung von Halbleitern wird enorm viel Wasser benötigt, insbesondere für die Reinigung der Chips. Eine einzige Produktionsanlage kann 2 bis 9 Millionen Gallonen Wasser pro Tag verbrauchen. Intel, der weltweit größte Halbleiterhersteller, entnahm 2015 9 Milliarden Gallonen Wasser (Intel 2015: 51, 54), was dem Wasserverbrauch von etwa 75.000 US-amerikanischen Haushalten entspricht. Probleme bei der Wasserversorgung können die Leistung von Fabriken drastisch reduzieren oder die Schließung einer Fabrik erfordern (Michael 1 2016). Der globale Kapitalismus hat sich in eine beispiellose Abhängigkeit vom Konzern Taiwan Semiconductor Manufacturing Company (TSMC), dem größten Halbleiterhersteller der Welt begeben, damit allerdings auch von den klimatischen Bedingungen auf der Insel (L’Union 2021). Kommunikationsgeräte (Internetgeräte, Computer, Handys) waren als erste von der Knappheit betroffen. Die Automobilindustrie ist jedoch das schwerwiegendste Opfer der stark verlangsamten Produktion. In den USA waren General Motors und Ford gezwungen, mehrere Fabriken vorübergehend zu schließen oder die Produktionsraten zu senken. Taiwan ist normalerweise einer der feuchtesten Gebiete der Welt mit einer durchschnittlichen Niederschlagsmenge von 2 600 Millimetern pro Jahr. Normalerweise wird die Insel in der Regenzeit von Taifunen heimgesucht, die dazu beitragen, die Wasserspeicher zu füllen. Je länger die momentan andauernde Dürre anhält, desto schwieriger wird die Produktion, sodass einige Unternehmen die Einrichtung staatlicher Reservoirs fordern, um mehr Wasser zu speichern und einem wiederkehrenden Risiko aufgrund der globalen Erwärmung vorzugreifen.
Die Abfolge der in den Abbildungen 8 bis 13 dargestellten Faktoren verleiht der Diskussion über den Rückgang der Profitrate einen anschaulichen Charakter. Es handelt sich um ganz konkrete Faktoren, die sich auf die Profitabilität auswirken. Ich übernehme die Abbildung 13 von Michael Roberts, der die Entwicklung der US-Profitrate sehr regelmäßig aktualisiert (Roberts 2020a).
Roberts führt den Fall der US-amerikanischen Profitrate auf den Anstieg der organischen Zusammensetzung des Kapitals um fast 17% zurück, der den Anstieg der Mehrwertrate (3%) übertrifft.
Die organische Zusammensetzung ist ein Verhältnis zwischen dem von den Unternehmen in physischer Form investierten Kapital, das keinen Wert schafft, sondern seinen eigenen Wert überträgt – daher der Name konstantes Kapital –, und dem variablen Kapital, der von den Unternehmen gekauften Arbeitskraft, die Wert schafft, dessen Höhe von ihrer Produktivität abhängt. Wenn dieses Verhältnis steigt, sinkt die Profitrate. Zwei Bemerkungen sind hier angebracht. Die erste ist die Notwendigkeit, dies nicht zu einem ahistorischen Prozess zu machen. Roberts schreibt: „Es ist ein Gesetz in der kapitalistischen Wirtschaftsexpansion, dass die organische Zusammensetzung des Kapitals genannt wird, steigt“ (Roberts 2020b). Aber hat sie noch Gesetzeskraft, wenn sich der Kapitalismus zurückentwickelt? Diese Frage zu stellen, hieße, eine Diskussion zu eröffnen, die weit über die Ziele dieser Notiz hinausgeht. Was hingegen getan werden kann, ist, eine Liste der zu berücksichtigenden Faktoren zu erstellen und diese konkret zu untersuchen. Dies gilt heute für die Produktionsinputkomponente des konstanten Kapitals. Zum konstanten Kapital gehören 1) der Preis der Maschinen, wie sie zu einer bestimmten Zeit zur Verfügung stehen, also heute sowohl Computer als auch Werkzeugmaschinen, 2) der Preis der Räumlichkeiten, also heute Fabriken, aber auch Büros, 3) der Preis der Energie und Rohstoffe sowohl in aggregierter Form als auch für kritische Inputs (Chips). Diese wurden jedoch von den Forscher:innen weitgehend vernachlässigt. Gegenwärtig tragen sie aus den oben genannten Gründen zur Erhöhung des Verhältnisses bei und werden dies auch weiterhin tun.
Die zweite Bemerkung betrifft den Begriff des Faktors, der dem Effekt der steigenden organischen Zusammensetzung (konstantes Kapital/variables Kapital, kurz c/v) entgegenwirkt, den Roberts in vielen Texten stark vereinfacht. Dieser Faktor ergibt sich aus dem Verhältnis der Menge an Mehrwert oder Mehrarbeit, die durch den Einsatz der Arbeitskräfte in Werkstätten und Büros erzielt wird, und dem Betrag des in den Kauf von Arbeitskräften investierten Kapitals. [Das ist die sogenannte Mehrwertrate.] Der investierte Betrag hängt sowohl von den Rentabilitätsaussichten (dem Interesse der Unternehmen an Investitionen) als auch vom Preis ab, zu dem dieser Kauf aufgrund des allgemeinen Niveaus der Gesamtproduktivität stattfindet. Diese bestimmt entscheidend den Preis der Waren, die zur Reproduktion der Arbeitskraft zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt erforderlich sind. Ins Spiel kommen also die Produktionstechnologien (heute künstliche Intelligenz und Robotik), die Effizienz der Managementmethoden, die Größe der industriellen Reservearmee (die Masse der Arbeitslosen), die Kampffähigkeit der Arbeiter:innen (dabei das Hindernis der Gewerkschaftsführungen zu überwinden und neue Kampfformen zu finden, wie beispielsweise die Bewegung der Gelbwesten in Frankreich). Es ist zu betonen, dass die Höhe der tatsächlich gekauften Arbeitskraft – das ist einer der Faktoren, die das Verhältnis c/v beeinflussen – vom Grad des Anreizes für die Unternehmen abhängt, zu investieren, also vom erwarteten Profit. Dieser ist jedoch rückläufig, wie Abbildung 13 zeigt. Zusätzliche Indikatoren sind die Abwärtsbewegung der Investitionen und die kürzer werdenden Zyklen.
Nach den Berechnungen der jüngsten McKinsey-Studie „waren die Nettoinvestitionen in Prozent des BIP in den letzten zwei Jahrzehnten niedrig und rückläufig, insbesondere in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften, und trugen nur 28 % zur Ausweitung des Nettovermögens bei. Preissteigerungen bei Vermögenswerten machten 77% des Nettowertwachstums aus, wobei mehr als die Hälfte dieser Preissteigerungen über der allgemeinen Inflation lagen.“ (McKinsey Global Institute 2021)
Am Ende des Berichtszeitraums war die US-amerikanische Entwicklung laut IWF-Zahlen Teil einer globalen Entwicklung, die eine Reihe von Ländern betraf.
Schließlich müssen wir noch China erwähnen und den seit Wochen angekündigten Konkurs des riesigen Immobilienentwicklers Evergrande ansprechen (Wikipedia 2022). Der Konzern gehört zu denjenigen, die als „too big to fail“ bezeichnet werden. Seit Anfang Dezember 2021 läuft die finanzielle Rettung von Evergrande und die seiner Gläubiger sowie die teilweise Umstrukturierung bzw. Zerschlagung des Konzerns.
Im dritten Quartal sank das chinesische BIP-Wachstum im Jahresvergleich auf 4,9%, gegenüber 7,9% im zweiten Quartal. Die Situation auf Chinas Auslandsmärkten und eine Reihe von Faktoren im Zusammenhang mit den Lieferketten haben einen großen Anteil daran, aber die Verlangsamung des Immobiliensektors könnte noch mehr dazu beitragen. Schätzungen zufolge macht der Immobiliensektor 25-30 % des chinesischen BIP aus. Die Situation von Evergrande stellt die Spitze des Eisbergs eines allgemeinen Abschwungs auf dem Immobilienmarkt dar, den Abbildung 17 zum Ausdruck bringt
Am 3. Dezember 2021 senkte die People’s Bank of China (PBC), die chinesische Zentralbank, das Niveau der Mindestreserveanforderungen für Banken. Eine Entscheidung, die darauf abzielt, die Wirtschaft vor den Auswirkungen der Immobilienkrise zu schützen. Am 6. Dezember übernahmen Vertreter der Regierung von Kanton die Mehrheit der Posten im Verwaltungsrat der Gruppe und begannen mit der Umstrukturierung.
Der französische Wirtschaftsjournalist Romaric Godin fasste die Situation kürzlich prägnant in Mediapart zusammen: „Viel mehr als eine globale finanzielle Ansteckung bedroht die Verlangsamung einer der Lungen des Wachstums, nämlich Chinas, die Weltwirtschaft. Die Abschwächung des Wachstums und die Auswirkungen dieses Konkurses von Evergrande auf die Binnennachfrage dürften schwer wiegen, obwohl das chinesische Wachstum seit 30 Jahren den Rest der Welt antreibt. Zwischen 2013 und 2018 hat China zu 28 % des weltweiten Wachstums direkt beigesteuert. Diese Zahl ist wahrscheinlich noch höher, wenn man den Effekt der chinesischen Investitionen im Ausland hinzurechnet.“ Und weiter: „Evergrande erscheint wie ein Symptom einer chinesischen Wirtschaft, die schon jetzt nicht mehr in der Lage ist, ein starkes Wachstum zu erzielen, außer sich in Blasen zu stürzen. Sie steht nach 30 Jahren Wachstum vor denselben Problemen wie die westlichen Volkswirtschaften: die Unfähigkeit Produktivitätszuwächse zu erzielen, die für eine ausgewogene kapitalistische Entwicklung ausreichen. Auch wenn Beijing über die Mittel verfügt, um die Auswirkungen dieser unterschwelligen Krise abzumildern, hat die chinesische Führung kaum mehr Lösungen für dieses strukturelle Problem des zeitgenössischen Kapitalismus als ihre westlichen oder japanischen Kollegen. Diese Konvergenz ist zweifellos ein Zeichen für das Ende einer Ära. Von nun an werden die Wachstumsimpulse schwach oder sehr riskant sein. Ein neues Regime des schwachen Wachstums kündigt sich an, in dem der Druck auf die Arbeit und die Natur zwangsläufig zunehmen wird. Die Instabilität bedroht zweifellos China, aber nicht nur China.“ (Godin 2021)
Zum Schluss
Ein „Regime des schwachen Wachstums“, das zudem von einem tendenziellen Anstieg der Energie- und Rohstoffpreise begleitet wird, ist günstig für den Verdruss im Reflex „Jeder ist sich selbst der Nächste“ sowie für die Entfesselung des internationalen Wettbewerbs. Eine spezielle Studie der OECD über den internationalen Handel weist auf die Gefahr hin (Arriola, et al. 2021): „2020 war durch einen der größten Rückgänge des Handels- und Produktionsvolumens seit dem Zweiten Weltkrieg geprägt. […] Der Handel mit Dienstleistungen ging mehr als doppelt so stark zurück wie jener der Güter, und auch die Erholung verlief langsamer. Obwohl das Ausmaß des Rückgangs des Welthandels im Verhältnis zum Produktionsrückgang im Jahr 2020 geringer war als 2009-2010, hing dies nicht mit dem globalen Ausmaß der Handelsauswirkungen im Jahr 2020 zusammen, sondern spiegelte vielmehr die hohe Heterogenität der Auswirkungen von Covid-19 auf den Handel und die Produktion von Waren, Dienstleistungen und die Situation spezifischer Handelspartner wider. Der Handel mit mehreren Arten von Gütern brach ein, während der Handel mit mehreren anderen Gütern deutlich anstieg. Folglich waren die Auswirkungen auf den Handel zwischen den verschiedenen Güterkategorien im Jahr 2020 nicht nur deutlich vielfältiger als während der globalen Finanzkrise, sondern auch als in jedem anderen Jahr der letzten zwei Jahrzehnte. Auch die Struktur des Warenhandels zwischen den Ländern hat sich 2020 erheblich verändert. (…) Während einige internationale Lieferketten in den ersten Monaten der Pandemie unter Druck gerieten, zeigen die Daten auch, dass andere Lieferketten eine entscheidende Rolle bei der Erholung der Wirtschaftstätigkeit spielten. (…) Die beispiellose Heterogenität der Veränderungen in den Handelsströmen zwischen Produkten, Quellen und Zielen deutet auf hohe Unsicherheit und Anpassungskosten hin und bedeutet, dass Unternehmen und Regierungen verstärkt neue Strategien zur Risikominderung anwenden müssen.“ Das ist wohl eine diplomatische Art, ein „Jeder ist sich selbst der Nächste“ anzukündigen und sogar zu legitimieren.
Dieser „unkooperative“ Reflex schwebte über der COP26 Konferenz in Glasgow, von der die Länder, die besonders dringend finanzielle Hilfe benötigten, zu ihrer großen Verzweiflung mit leeren Händen abreisten, während die Konferenz keine verbindlichen Maßnahmen beschloss. Die Antwort um zu verhindern, dass die Devise „Jeder ist sich selbst der Nächste“ rassistische und fremdenfeindliche Reflexe noch verstärkt und die elementaren Lebensbedingungen von Hunderttausenden zu sichern, besteht für erwerbstätige, arbeitslose und pensionierte Lohnabhängige in den einzelnen Ländern darin, den politischen Widerstand gegen die von den Regierungen und Unternehmen tolerierten hohen Lebenshaltungskosten voranzutreiben.
[1] Hier folgt im französischen Originaltext ein Abschnitt über die ökonomische Situation in Frankreich. Er ist für die deutschsprachigen Leser:innen von geringer Bedeutung. Darum haben wir ihn gestrichen (red.).
[2] Anm. red.: François Chesnais hat in seinem umfassenden Werk über das Finanzkapital den Begriff und die Formen des fiktiven Kapitals ausführlich erklärt (Chesnais 2016). Karl Marx hat im dritten Band des Kapitals bereits ausführlich Formen des fiktiven Kapitals erklärt (Marx 1894: 482-488).
[3] Tesla hat in den ersten acht Monaten des Jahres 2021 473.136 Elektroautos verkauft. Mehr als jeder andere Hersteller von Elektrofahrzeugen auf der Welt. Seit 2009 hat Tesla insgesamt 1,91 Millionen Fahrzeuge produziert. (Tesla Press Release Oct 2, 2021 https://ir.tesla.com/press-release/tesla-q3-2021-vehicle-production-deliveries). Toyota seinerseits produzierte 8.800 im Jahr 2020 mit einem erwarteten Rückgang im Jahr 2021.
Literatur
Allianz Research (2021): Allianz Global Wealth Report 2021, 7 October, Allianz Research
Euler Hermes Economic Research: Munich, Paris, 54 S. https://www.eulerhermes.com/en_global/news-insights/economic-insights/Allianz-global-wealth-report-2021.html.
Arriola, Christine; Kowalski, Przemyslaw und Tongeren, Frank van (2021): The impact of COVID-19 on directions and structure of international trade. https://www.oecd-ilibrary.org/content/paper/0b8eaafe-en
Bernier, Aurélien (2021): Prix de l’énergie : une folie organisée. Le Monde diplomatique, novembre.
Boone, Laurence (2021): Un exercice d’équilibre. December 1, 2021 Ecoscope an Economic Lens on Policies for Growth and Wellbeing. https://oecdecoscope.blog/2021/12/01/un-exercice-dequilibre/
Buchholz, Katharina (2021): Chinese Housing Market: The Big Slowdown. September 13, 2021. https://www.statista.com/chart/21883/monthly-price-increase-new-houses-china-70-major-markets/
Chancel, L.ucas; Piketty, Thomas; Saez, Emmanuel; Zucman, Gabriel und al., et (2021): World Inequality Report 2022, W. I. L. wir2022.wid.world, UNDP, 230 S. https://wir2022.wid.world/www-site/uploads/2022/02/WIR_2022_FullReport.pdf.
Chesnais, François (2016): Finance Capital Today. Corporations and Banks in the Lasting Global Slump. Historical Materialism 131. Leiden, Boston: Brill, 310 S.
Economist, The (2021): Central banks should make clear what QE is for, and then reverse it Aug 21st 2021
Godin, Romaric (2021): Chine. «Quels sont les risques d’une faillite d’Evergrande?». Medipart 23 septembre 2021. https://www.mediapart.fr/journal/economie/230921/quels-sont-les-risques-d-une-faillite-d-evergrande
Godin, Romaric und Israel, Dan (2021): Reprise économique : le récit gouvernemental se heurte à la réalité. Médiapart, 2 septembre 2021.
Gopinath, Gita (2021): A Hobbled Recovery Along Entrenched Fault Lines. IMFBlog. October 12, 2021. https://blogs.imf.org/2021/10/12/a-hobbled-recovery-along-entrenched-fault-lines/
Gopinath, Gita; Milesi-Ferretti, Gian Maria und Nabar, Malhar (2019): 2019 in Review: The Global Economy Explained in 5 Charts. IMFBlog Insights & Analysis on Economics & Finance December 18, 2019. https://blogs.imf.org/2019/12/18/2019-in-review-the-global-economy-explained-in-5-charts/
Gordon, Robert J. (2012): Is U. S. Economic Growth Over ? Faltering Innovation Confronts the Six Headwinds. NBER Working Paper (18315) August S. 23. https://www.nber.org/papers/w18315
Gordon, Robert J. (2014): The Demise of U.S. Economic Growth: Restatement, Rebuttal, and Reflections. NBER Working Paper (19895) August S. 41. https://www.nber.org/papers/w19895
Hanke, Steve H. (2016): Public Infrastructure: Costs and Benefits. November 29, 2016. https://www.downsizinggovernment.org/public-infrastructure-costs-and-benefits
Hume, Neil (2021): European gas prices fall further in holiday period sell-off. Financial Times, December 30, 2021. https://www.ft.com/content/f3dc46be-9de5-41d5-9f04-462ce58691f2.
IMF (2021): Global financial stability report. COVID-19, Crypto, and Climate: Navigating Challenging Transitions, October 6, 2021, International Monetary Fund.: Washington, DC., 78 S.
IMF (2022): World Economic Outlook Update, January 2022: Rising Caseloads, A Disrupted Recovery, and Higher Inflation, January 25, 2021, International Monetary Fund.: Washington, DC., 15 S.
Intel (2015): 2015 Corporate Responsibility Report, Intel Corporation, 99 S.
Kamali, Parisa und Wang, Alex (Shiyao) (2021): Longer Delivery Times Reflect Supply Chain Disruptions. IMFBlog Insights & Analysis on Economics & Finance. October 25, 2021. https://blogs.imf.org/2021/10/25/longer-delivery-times-reflect-supply-chain-disruptions/
L’Union (2021): Pénurie mondiale de puces électroniques : la sécheresse historique à Taiwan n’arrange rien. L’Union 23 avril 2021. https://www.lunion.fr/id251461/article/2021-04-23/penurie-mondiale-de-puces-electroniques-la-secheresse-historique-taiwan-narrange
Marx, Karl (1894): Das Kapital, Dritter Band. Karl Marx-Friedrich Engels-Werke (MEW) Band 25. 1988. Berlin: Dietz Verlag, 1007 S.
McKinsey Global Institute (2013): Resource Revolution: Tracking global commodity markets. Trends survey 2013, September 1, McKinsey Global Institute: Seoul, London, San Francisco, Shanghai, 34 S. https://www.mckinsey.com/business-functions/sustainability/our-insights/resource-revolution-tracking-global-commodity-markets.
McKinsey Global Institute (2021): The rise and rise of the global balance sheet: How productively are we using our wealth?, 15 november, McKinsey&Company: London, Washington, 184 S.
Michael 1 (2016): Taiwan Semiconductor Manufacturing Co’s Water Woes. November 4, 2016. https://digital.hbs.edu/platform-rctom/submission/taiwan-semiconductor-manufacturing-cos-water-woes/
Moody, Kim (2021): Why it’s high time to move on from ‘just-in-time’ supply chains The Guardian, 11 October. https://www.theguardian.com/commentisfree/2021/oct/11/just-in-time-supply-chains-logistical-capitalism.
Odendahl, Florens; Penalver, Adrian und Szczerbowicz, Urszula (2021): What central banks have done to help the economy survive Covid-19 15 avril 2021. https://blocnotesdeleco.banque-france.fr/en/blog-entry/what-central-banks-have-done-help-economy-survive-covid-19
OECD (2021). Economic Outlook 2021 (2) 1 december 2021, S. 225 p. https://www.oecd-ilibrary.org/economics/oecd-economic-outlook/volume-2021/issue-2_66c5ac2c-en
Palmer, James (2021): Why China’s Supply Chains Are Breaking Down. Foreign Policy October 27, 2021. https://foreignpolicy.com/2021/10/27/china-supply-chain-disruption-shipping/
Reich, Robert (2021): We need to talk about the real reason behind US inflation. The Guardian, 11 November. https://www.theguardian.com/commentisfree/2021/nov/11/us-inflation-market-power-america-antitrust-robert-reich.
Roberts, Michael (2020a): The US rate of profit before the COVID. 13 September 2020. https://thenextrecession.wordpress.com/2020/09/13/the-us-rate-of-profit-before-the-covid/
Roberts, Michael (2020b): Marx’s law of profitability at SOAS. 27 February 2020. https://thenextrecession.wordpress.com/2020/02/27/marxs-law-of-profitability-at-soas/
Smith, Alastair (2013): Why global food prices are higher today than for most of modern history. The Conversation, September 27. https://theconversation.com/why-global-food-prices-are-higher-today-than-for-most-of-modern-history-168210.
Smith, Noah (2018): Maybe we have the economic growth equation backward. The assumption that raising productivity is the key to higher GDP looks like it needs a rethink. Bloomberg. 4 December 2018. https://www.bloomberg.com/opinion/articles/2018-12-04/maybe-we-have-the-economic-growth-equation-backward
Valckx, Nico ; Stuermer, Martin ; Seneviratne, Dulani und Prasad, Ananthakrishnan (2021): Metals Demand From Energy Transition May Top Current Global Supply. IMFBlog Insights & Analysis on Economics & Finance. December 8. https://blogs.imf.org/2021/12/08/metals-demand-from-energy-transition-may-top-current-global-supply/?utm_medium=email&utm_source=govdelivery
Wikipedia (2022): 2020–2022 Chinese property sector crisis. January 2022. https://en.wikipedia.org/wiki/2020%E2%80%932022_Chinese_property_sector_crisis
WTO (2021): International organizations, vaccine manufacturers agree to intensify cooperation to deliver COVID-19 vaccines, 16 September 2021, Word Trade Organization. https://www.wto.org/english/news_e/news21_e/covid_16sep21_e.htm.