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Der soeben erschienene Amnesty-Jahresbericht 2024/2025 zur weltweiten Lage der Menschenrechte ist erschütternd. Schon frühere Berichte zur globalen Menschenrechtssituation waren keine geeigneten Gute-Nachtgeschichten für Kleinkinder. Doch dieser Report stellt vieles in den Schatten. Wenn Julia Duchrow, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, von einem „epochalen Bruch“ spricht, dann ist das kein Alarmismus. Schließlich haben sich mittlerweile verheerende negative Synergien eingestellt. Die sich verschärfende Klimakrise fällt mit großen Kriegen und einem globalen Anstieg des Autoritarismus zusammen. Auffällig ist zudem, dass Menschenrechtsverletzungen immer öfter nicht mehr verschleiert, sondern ausdrücklich gerechtfertigt werden. Der erneute Machtantritt von Donald Trump in den USA hat diese desaströse Ausgangslage noch einmal deutlich verschärft.
Wie aus dem Amnesty-Jahresbericht hervorgeht, wurden in jüngster Zeit zehntausende Menschen Opfer von Kriegsverbrechen und anderen schweren Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht. Dies betrifft den israelischen Genozid an den Palästinenser:innen im Gazastreifen. Es betrifft aber ebenso Russland, das laut Bericht 2024 mehr ukrainische Zivilist:innen getötet hat als noch im Jahr zuvor und weiterhin die zivile Infrastruktur angreift. In den von Russland völkerrechtswidrig annektierten Gebieten der Ukraine werden die Menschen Opfer schwerster Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Gefangene werden gefoltert oder verschwinden. Unter den Augen der Weltöffentlichkeit spielt sich zudem die größte humanitäre Krise im Sudan ab. „Die internationale Gemeinschaft reagierte auf diese Krisen mit Untätigkeit und Doppelstandards“, kritisiert Amnesty zurecht.
Denn tatsächlich prägt diese Doppelmoral die gesamte Debatte über die Konflikte. Überdeutlich wird dies etwa, wenn der „Wertewesten“ Putins Verbrechen in der Ukraine kritisiert. So berechtigt und richtig diese Kritik auch ist – aufrichtig ist sie nicht, wenn dieselben Staatsführungen den Genozid in Gaza nicht nur schulterzuckend hinnehmen, sondern durch ihre Waffenlieferungen an Israel überhaupt erst ermöglich. Auch der Sudan bleibt lieber unbeachtet – zu eng sind die wirtschaftlichen Beziehungen zu den Kriegstreibenden in den Golfstaaten.
Aber auch etliche Kritik von „links“ ist traurigerweise von Doppelstandards geprägt. Während die einen es aus „historischen Gründen“ prinzipiell mit Israel halten, so „wissen“ die anderen, das der „Hauptfeind“ prinzipiell „im eigenen Land“ steht oder ersatzweise in den USA. Solcherlei aus dogmatischen Glaubenssätzen abgeleitete Argumentationen sind nicht nur töricht, sondern fatal. Die drängenden ökologischen und sozialen Krisen lassen sich nur in einer internationalistischen Perspektive lösen. Ein Universalismus, der durch Dogmen eingeschränkt wird, Ausnahmen macht oder Bedingungen stellt, verdient seinen Namen nicht.
Eine emanzipatorische Perspektive, die den Herausforderungen des Kampfes gegen soziale und ökologische Verwerfungen gerecht werden will, kann sich keine Doppelstandards leisten. Sie muss deshalb die Verantwortlichen für die Zustände in Gaza genauso beim Namen nennen wie die in der Ukraine oder im Sudan. Ebenso selbstverständlich muss sie sich grundsätzlich gegen autoritäre Tendenzen wie Versammlungsverbote und Polizeigewalt aussprechen. Der Amnesty-Bericht tut all dies. Die politische Linke hingegen tut sich damit oft schwer. Das ist bitter. Denn es bräuchte dringend eine politische Bewegung, die nicht nur alle Menschenrechtsverletzungen anprangert, sondern auch die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse und den ihnen inhärenten Zwang zur Profitmaximierung ins Visier nimmt. Schließlich sind es diese Verhältnisse, die die permanenten ökologischen, ökonomischen und sozialen Krisen und Unsicherheiten produzieren und damit den Nährboden, auf dem der Autoritarismus gedeiht und mit ihm die von Amnesty dokumentierten Verbrechen.