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Wie steht es um die Landwirtschaft in der Ukraine während des Krieges? Welche Auswirkungen hat die Bodenreform auf die Zukunft des Landes? Und wie kann ein sozial und ökologisch gerechter Ansatz für den Wiederaufbau der Landwirtschaft nach dem Krieg aussehen?
Diese und andere Fragen hat das Commons Journal Dr. Natalia Mamonova gestellt. Sie ist Senior Researcher bei RURALIS, Institute for Rural and Regional Research in Norwegen und Mitautorin der Studie Ukrainian agriculture in wartime: resilience, reforms, and markets, die vom Transnational Institute (TNI) veröffentlicht wurde.
In Ihrer Arbeit über die ukrainische Landwirtschaft argumentieren Sie, dass unser Land eine «zweigeteilte Agrarstruktur» aufweise, in der große Agrarunternehmen und kleine landwirtschaftliche Betriebe nicht direkt miteinander um Land und Märkte konkurrieren, so dass sie jahrelang nebeneinander bestehen konnten. Wie kam es dazu und wie funktioniert es in der Praxis?
Ja, es gibt zwei Typen von Agrarbetrieben in der Ukraine. Es gibt eine große Agrarindustrie, die hauptsächlich auf die Produktion von Getreide für den Export ausgerichtet ist. Sie bewirtschaftet etwa 50 % der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche und erzeugt die Hälfte der Bruttoinlandsproduktion. Die andere Hälfte wird von bäuerlichen Familienbetrieben und ländlichen Haushalten erzeugt, die die restlichen 50 % des Landes bewirtschaften. Familienbäuerinnen und -bauern und ländliche Haushalte produzieren 95 % der Kartoffeln, 85 % des Gemüses, 80 % des Obstes und der Beeren, etwa 75 % der Milch und mehr als 35 % des Fleisches für den Eigenbedarf und den Verkauf auf den Binnenmärkten. Neben der Produktion von Lebensmitteln für den ukrainischen Markt sind die Familienbetriebe auch zunehmend an Getreideexporten interessiert, aber es ist schwer für sie, mit der großen Agrarindustrie zu konkurrieren, die dort alle Betriebsketten und Lieferwege kontrolliert.
Diese zweigeteilte Agrarstruktur ist das Ergebnis mehrerer Faktoren. Einer davon ist die Landreform. Sie wurde nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eingeleitet und zielte darauf ab, ehemalig kollektiviertes Land an die Landbevölkerung zu verteilen. Die Reform scheiterte weitgehend, und das Land verblieb in reorganisierten Kollektiven, die sich später in moderne Industriebetriebe und Agrarholdings verwandelten. Das 20-jährige Moratorium für Landverkäufe stellte jedoch sicher, dass ukrainische Dorfbewohner:innen ein Recht auf bestimmte Flächen haben. Viele verpachteten diese Flächen für wenig Geld oder Naturalien an die Agrarindustrie, während sie selbst ihre Grundstücke in Dorfnähe weiter bewirtschafteten.
Daher gibt es in der Ukraine bis heute kein «Land Grabbing» und keine direkte Enteignung von Kleinbäuerinnen und -bauern. Aber es gibt eine Art kontrolliertes «Grabbing»: Die Agrarindustrie kontrolliert die Wertschöpfungskette der Agrar- und Ernährungswirtschaft und erhält die meisten Subventionen, so dass Familienbäuerinnen und -bauern und ländliche Haushalte daran gehindert werden, sich zu entwickeln und rentabler zu werden.
Ein weiterer Grund für die Koexistenz von Groß und Klein ist der weit verbreitete Glaube, dass «groß besser ist». Dieser Glaube ist zum Teil in der sowjetischen Geschichte verwurzelt, zum Teil wurde er von der neoliberalen kapitalistischen Ordnung aufgezwungen, die das Großkapital sowohl strukturell als auch ideologisch begünstigt. Dieser Glaube hat sich in den Köpfen der ukrainischen Politiker:innen festgesetzt und wurde von den Agroholdings viele Jahre lang gefördert. Dadurch wurde die Ukraine zur weltweit führenden Getreideexporteurin. Diese Überzeugung wurde bis vor kurzem auch von den Kleinbäuerinnen und -bauern geteilt; sie betrachteten ihre Art der Produktion als nachrangig und unbedeutend und setzten sich daher nicht für ihre Rechte ein.
Die Situation begann sich nach der Euromaidan-Revolution zu ändern. Damals löste sich die Ukraine von ihrer sowjetischen Vergangenheit und dem damit verbundenen russischen Einfluss und schlug einen unabhängigen Weg in die europäische Zukunft ein. In einem meiner Projekte befragte ich Ukrainer:innen aus ländlichen Gebieten zwei Jahre vor und zwei Jahre nach dem Euromaidan. Ich beobachtete, wie eine neue pro-europäische Identität und ein wachsender Patriotismus die Menschen dazu brachten, über die bäuerliche Familienwirtschaft als Zukunftsmodell der ukrainischen Landwirtschaft zu sprechen, das die Ukraine und Europa mit ökologischen und gesunden Lebensmitteln versorgen könnte. Tatsächlich sind Familienbäuerinnen und -bauern und ländliche Haushalte in der Ukraine ertragsmäßig genauso produktiv wie Großbetriebe, nutzen aber umweltfreundlichere Methoden und lokale Strukturen und könnten, wenn sie ausgebaut würden, eine nachhaltige Alternative zur chemieabhängigen industriellen Landwirtschaft werden.
Darüber hinaus erhofften sich die Kleinbäuerinnen und -bauern, dass die Assoziierung der Ukraine mit der EU und der anschließende Beitritt zur EU die Korruption eindämmen und den Einfluss der Oligarchie auf die ukrainische Wirtschaft schwächen, neue Märkte für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse der Kleinbäuerinnen und -bauern eröffnen und die Entwicklung der bäuerlichen Familienbetriebe in der Ukraine fördern würde. Insgesamt bedeute der EU-Beitritt ein besseres Leben und gerechtere Chancen für viele Ukrainer:innen, nicht nur für die Landbevölkerung.
In dem Bericht wird argumentiert, dass kleine landwirtschaftliche Familienbetriebe in der Ukraine nicht nur für eine ökologisch und sozial verantwortungsvollere Lebensmittelproduktion von entscheidender Bedeutung sind, sondern auch für die Lebensmittelsicherheit und die Ernährungssouveränität in der Ukraine während der umfassenden Invasion durch Russland. Könnten Sie ein wenig darüber sprechen?
Der Krieg hat die systemische Anfälligkeit der globalisierten neoliberalen Landwirtschaft gezeigt, die durch eine enge Spezialisierung der landwirtschaftlichen Produktion, die Abhängigkeit vom internationalen Handel mit Lebensmitteln, Treibstoff und Düngemitteln und die extreme Konzentration auf nur wenige Grundnahrungsmittel für die meisten Menschen gekennzeichnet ist.
Die exportorientierte ukrainische Landwirtschaft war in den ersten Kriegsmonaten lahmgelegt. Entlang der ukrainischen Grenzen wuchsen Berge von Getreide, als die Schwarzmeerhäfen von der russischen Marine blockiert wurden und die Landwege nicht ausreichten, um das gesamte Getreide zu transportieren. Darüber hinaus wurden die Lieferungen von Treibstoff und Düngemitteln gestoppt, die zuvor aus Russland und Weißrussland importiert worden waren. Und natürlich bombardiert Russland weiterhin landwirtschaftliche Felder, zerstört landwirtschaftliche Einrichtungen und Infrastruktur. Die Liste der Zerstörungen ist endlos! Die große Agrarindustrie war nicht in der Lage, sich schnell an die Erschütterungen und Herausforderungen des Krieges anzupassen. Ihre komplexe Logistik, ihre Technologieabhängigkeit und ihr großer Umfang mögen in Friedenszeiten effektiv sein, aber nicht in Kriegszeiten. Familienbäuerinnen und -bauern und ländliche Haushalte, die sich außerhalb der aktiven Kampfgebiete befinden, konnten sich dagegen relativ schnell anpassen und Nahrungsmittel produzieren, um sich selbst, ihre Gemeinden, die Armee und die Menschen in der Ukraine zu ernähren.
Wie haben sie das geschafft? Regionale Lebensmittelsysteme sind im Allgemeinen widerstandsfähiger gegenüber globalen Schocks, da sie weniger von externen Ressourcen und dem internationalen Handel abhängig sind. Als die landwirtschaftlichen Betriebsmittel knapp wurden, setzten die Kleinbäuerinnen und -bauern mehr Handarbeit und weniger Maschinen ein und pflügten die Felder manchmal mit Pferden. Sie ersetzten chemische Düngemittel durch organische, und die exportorientierten Betriebe konnten sich schnell auf den heimischen Markt umorientieren und beispielsweise Buchweizen statt Mais anbauen. Das Wichtigste ist jedoch die Solidarität, die dem ukrainischen Volk hilft, auch in den schwierigsten Zeiten zu überleben. Viele ländliche Gemeinden beherbergen Binnenflüchtlinge, die aus Kriegsgebieten und Großstädten geflohen sind, die häufig von russischen Luftangriffen getroffen werden. Gemeinsam bauen die Menschen Lebensmittel an, teilen ihre Ressourcen und unterstützen sich gegenseitig.
Die Familienbäuerinnen und -bauern und die ländlichen Haushalte sind also diejenigen, die die Ukraine in Friedenszeiten und jetzt in Kriegszeiten ernähren. Dies beeinflusst auch die Einstellung der Öffentlichkeit zur kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Wie ich bereits sagte, glauben immer mehr Menschen, dass das Modell der bäuerlichen Familienbetriebe die Zukunft der Ukraine sein sollte. Jetzt sind es sogar noch mehr Menschen, die so denken.
In Ihrem Bericht weisen Sie darauf hin, dass die Bodenreform, mit der das seit 2001 geltende Moratorium für den Verkauf von Ackerland aufgehoben werden soll, eine der umstrittensten und politisch heikelsten Reformen seit der Unabhängigkeit ist. Welche Absichten und Folgen hat sie bisher gehabt, und welche sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Folgen der Liberalisierung des Bodenmarktes werden wir in naher Zukunft erleben?
Es gibt viele Stimmen für und gegen die Landreform. Und wenn der Krieg nicht gewesen wäre, wäre die Liberalisierung des Bodenmarktes das größte Thema in der ukrainischen Politik geworden. Die Notwendigkeit, den Bodenmarkt zu öffnen, wurde damit begründet, dass dadurch die Rechte der Landnutzer:innen gesichert würden, die Landwirtschaft effizienter werde und mehr Investitionen in die ukrainische Landwirtschaft fließen würden. Die Gegner:innen befürchten einen Landraub durch die große Agrarindustrie und das Verschwinden der kleinbäuerlichen Landwirtschaft.
Die Liberalisierung des Grundstücksmarktes sollte in zwei Stufen erfolgen. Von 2021 bis 2024 durften nur natürliche Personen Land kaufen, jedoch nicht mehr als 100 Hektar pro Person. Nach 2024 dürfen sowohl natürliche als auch juristische Personen bis zu 10 000 Hektar Land erwerben. Die Idee war im Prinzip gut: ein schrittweiser Ansatz, der es Familien- und Kleinbäuerinnen und -bauern ermöglichen sollte, zuerst Land zu kaufen und dann größeren Unternehmen den Marktzugang zu ermöglichen. Doch dann kam der Krieg: In den ersten Monaten des Krieges wurde die Landreform ausgesetzt, dann aber wie geplant durchgeführt.
Dass der Bodenmarkt liberalisiert werden sollte, ist richtig, aber bäuerliche Betriebe sollten beim Kauf von Land mehr Unterstützung erhalten, sonst bekommen wir eine Situation wie in Lateinamerika, wo Latifundien den größten Teil des Bodens kontrollieren (mehr dazu hier). Außerdem sollte die Landreform nicht während des Krieges durchgeführt werden. Wie können wir den Verkauf von Land zulassen, wenn 30 % der ukrainischen Gebiete besetzt sind, wenn 6,2 Millionen Flüchtlinge die Ukraine verlassen haben, 5,1 Millionen Menschen innerhalb des Landes vertrieben wurden und viele Ukrainer:innen, vor allem Männer, an der Front kämpfen? Diese Menschen können sich nicht an Landgeschäften beteiligen. Und ganz allgemein hat der Krieg für viele Ukrainer:innen Unsicherheiten und wirtschaftliche Not mit sich gebracht. Dies führt zu Notverkäufen, bei denen die Menschen ihre Grundstücke verkaufen, weil sie einige grundlegende Dinge benötigen oder eine medizinische Behandlung bezahlen müssen. In besseren Zeiten würden sie ihr Land nicht verkaufen. Außerdem haben viele Familienbetriebe nicht die finanziellen Mittel, um Land zu kaufen, das sie derzeit von ihren Nachbarn pachten. Die großen Agrarunternehmen hingegen verfügen über diese Mittel.
Gegenwärtig gibt es in der Ukraine noch keine nennenswerten Veränderungen beim Grundbesitz. Landtransaktionen, die jetzt stattfinden, wurden meist schon vor langer Zeit getätigt und wurden jetzt nur noch legalisiert. Wenn jedoch Familienbetriebe keine ausreichende Unterstützung für den Landerwerb erhalten, könnte es zu Veränderungen in der Landnutzung kommen. Dabei geht es nicht unbedingt um die Landnahme durch große Agrarbetriebe. Agroholdings werden sicherlich versuchen, sich die Kontrolle über die von ihnen bewirtschafteten Flächen zu sichern. Aber es gibt auch andere Akteure wie Spekulanten, Wirtschaftsmagnaten und andere nichtlandwirtschaftliche Investoren, die in unsicheren Zeiten einen Teil des ukrainischen Ackerlandes kaufen könnten.
All dies wird das Leben für Familienbetriebe und ländliche Haushalte noch schwieriger machen. Dies wird sich auf die Zukunft der ukrainischen Landwirtschaft auswirken; sie kann noch stärker industriell und exportorientiert werden. Dies wiederum wird die Ernährungssicherheit im Land gefährden, da die Familienbäuerinnen und -bauern diejenigen sind, die die Ukraine sowohl im Krieg als auch im Frieden ernähren. Dies wird sich auch auf das soziale Leben in den Dörfern auswirken, da die bäuerlichen Familienbetriebe das Rückgrat eines jeden Dorfes sind. Und natürlich kann die Umwelt darunter leiden, da die industrielle Landwirtschaft weniger umweltfreundliche Methoden anwendet. Aber das ist nichts im Vergleich zu den Auswirkungen des Krieges auf die ukrainische Landwirtschaft, die Umwelt und das Leben der Menschen.
Es wurde viel über die Folgen der Abhängigkeit vieler Länder, z. B. in Afrika von ukrainischen Lebensmittelexporten berichtet. Wer war bzw. ist von den kriegsbedingten Unterbrechungen betroffen und wie? Wie wirkten sich die Unterbrechungen in der ukrainischen Landwirtschaft auf andere Regionen der Welt aus, auf diejenigen, die ukrainische Produkte konsumieren, und auf diejenigen, die mit ihnen konkurrieren?
Vor der russischen Invasion im Jahr 2022 war die Ukraine der weltweit größte Exporteur von Sonnenblumenkernen (die zur Herstellung von Sonnenblumenöl und Futtermitteln verwendet werden), der viertgrößte Exporteur von Gerste und Mais und der siebtgrößte Exporteur von Weizen. Das Getreide aus der Ukraine wurde in die ganze Welt verschifft. Die Hauptempfänger des ukrainischen Getreides waren jedoch die ernährungsunsicheren Länder in Asien, Afrika und im Nahen Osten, die am meisten unter der russischen Blockade der ukrainischen Schwarzmeerhäfen litten, über die 95 % der ukrainischen Getreideexporte ins Ausland gingen. In diesen Ländern haben die Ernährungsunsicherheit und die Unterernährung erheblich zugenommen. Die UNO behauptet, dass der Krieg die Hungersnot im globalen Süden verschärft hat. Ich muss jedoch feststellen, dass dies nicht nur auf den Krieg zurückzuführen ist, sondern auch auf die Klimakrise, die Covid-19-Pandemie und interne Konflikte.
Der Krieg verursachte nicht nur physische Unterbrechungen im Lebensmittelhandel, sondern führte auch zu einem Anstieg der Weltmarktpreise für Lebensmittel. So haben sich die Weltmarktpreise für Getreide, einschließlich Weizen, Gerste und andere Kulturen, fast verdoppelt, als die Ukraine und Russland – die wichtigsten Getreideexportländer – aus dem internationalen Handel ausschieden. Die Preise stiegen auch aufgrund von Faktoren, die nichts mit der Produktion und dem Vertrieb zu tun haben, wie Spekulationen auf den globalen Lebensmittelmärkten, Wechselkursschwankungen und Ausfuhrbeschränkungen, die von einigen anderen Ländern zur Aufrechterhaltung ihrer Ernährungssicherheit verhängt wurden. Heute haben 16 Länder 22 Lebensmittelausfuhrverbote und 8 Länder 15 Ausfuhrbeschränkungen verhängt.
Auch Länder, die nicht direkt von der Einfuhr ukrainischer Lebensmittel abhängig sind, bekamen die schweren Folgen des Krieges zu spüren. Durch den Krieg wurde nicht nur der Lebensmittelhandel unterbrochen, sondern auch der Handel mit Treibstoff und Düngemitteln – Russland und Weißrussland waren früher die Hauptexporteure von Düngemitteln und Treibstoff in viele Länder. Dies führte zu einem drastischen Anstieg der weltweiten Treibstoff- und Düngemittelpreise, was sich wiederum auf die Lebensmittelproduzent:innen in aller Welt auswirkte. Industrielle landwirtschaftliche Erzeuger wurden am stärksten getroffen, da sie in hohem Maße von Brennstoffen und chemischen Einsatzstoffen abhängig sind. In Verbindung mit der Inflation und der sinkenden Kaufkraft der Verbraucher:innen hat dies viele Landwirt:innen an den Rand des Bankrotts getrieben.
In diesen Tagen erleben wir die größten Bauernproteste in der Geschichte der Europäischen Union. Die Proteste haben mehrere Ursachen, aber die Hauptursache ist die beklagenswerte wirtschaftliche Lage der europäischen Landwirt:innen. In Ost- und Mitteleuropa protestierten die Landwirt:innen gegen den Zustrom ukrainischer Lebensmittel, vor allem von Getreide. Wie ich bereits erwähnt habe, hat die russische Blockade der Schwarzmeerhäfen dazu geführt, dass ukrainisches Getreide im Lande eingeschlossen ist. Um dieses Problem zu lösen, hat die ukrainische Regierung gemeinsam mit ihren europäischen Verbündeten «Solidaritätswege» eingerichtet, um ukrainisches Getreide auf dem Landweg und über Flüsse nach Europa zu transportieren und von dort aus in Länder des Nahen Ostens oder Afrikas weiterzuleiten. Ein erheblicher Teil des ukrainischen Getreides und der Ölsaaten wurde jedoch in die EU verkauft. Die Gründe dafür waren logistische Engpässe, steigende Kosten für den Transport außerhalb der EU, nicht eingehaltene Verträge mit den ursprünglichen Käufern und in einigen Fällen zwielichtige Praktiken, die es einigen lokalen Akteuren in Polen, Bulgarien, Ungarn, Rumänien und der Slowakei ermöglichten, vom Verkauf ukrainischen Getreides auf den lokalen Märkten zu profitieren. Der Zustrom von relativ billigem ukrainischem Getreide nach Ost- und Mitteleuropa hat die lokalen Preise gedrückt und dazu geführt, dass die örtlichen Landwirt:innen ihre Ernte nicht mehr verkaufen konnten.
In der EU konzentrieren sich Landwirt:innen und Politiker:innen, die sich gegen die zunehmenden Importe ukrainischer Agrarprodukte aussprechen, auf zwei Punkte: den industriellen Charakter der Produktion in der Ukraine, der sie wirtschaftlich wettbewerbsfähiger macht, und die Gefahren für Umwelt und Gesundheit. Gilt diese Kritik nur für die großen oligarchischen Betriebe, die den Export dominieren, und nicht für die Kleinbäuerinnen und -bauern?
Ja, das ist richtig. Die Kritik an ukrainischen Exportprodukten bezieht sich auf deren Preis und Produktionsmethoden. Das gilt nicht nur für Getreide aus der Ukraine, sondern auch für andere Lebensmittel. In Frankreich zum Beispiel protestieren die Bäuerinnen und Bauern gegen Honig [und Geflügelfleisch, Red.] aus der Ukraine. Die ukrainischen Produkte sind aus verschiedenen Gründen billiger als die in der EU produzierten. Es handelt sich um industrielle Produktionsmethoden und Größenvorteile, die ukrainische Lebensmittel wirtschaftlich wettbewerbsfähiger machen. Die ukrainischen Lebensmittelhersteller müssen keine strengen Umweltauflagen erfüllen, wie dies in der EU der Fall ist. Außerdem sind Land und Arbeitskräfte in der Ukraine billiger. Und vor allem hat die EU zur Unterstützung der Ukraine während des Krieges die Ausfuhrzölle und Zollkontingente für ukrainische Agrar- und Lebensmittelerzeugnisse vorübergehend ausgesetzt. All dies wirkt sich auf den Preis ukrainischer Lebensmittel auf den europäischen Märkten aus.
Ich denke nicht, dass die protestierenden Landwirt:innen und Politiker:innen in Europa ernsthaft glauben, dass ukrainische Produkte eine Gefahr für die Umwelt und die Gesundheit darstellen. Die ukrainischen Lebensmittelexporte sind nicht gefährlich, obwohl die Slowakei im vergangenen Jahr in ukrainischem Weizen Spuren eines in der EU verbotenen Pestizids gefunden hat. Es gab auch schon Fälle, in denen ukrainisches Futtergetreide in einigen Ländern Ost- und Mitteleuropas als Backgetreide verkauft wurde. Meine Kolleg:innen in Polen haben solche Fälle aufgedeckt. Aber da müssen wir die Korruption in Polen verantwortlich machen, nicht die ukrainischen Getreideproduzent:innen.
Zur Frage, ob die Kritik nur für große oligarchische Betriebe oder auch für Kleinbäuerinnen und -bauern gilt: Ich bin mir nicht sicher, ob jeder in Europa versteht, dass sich die ukrainische Landwirtschaft grundlegend von der europäischen unterscheidet und aus zwei verschiedenen Arten von Erzeugern besteht. Im öffentlichen Diskurs in Europa wird der Begriff «Lebensmittelexporte aus der Ukraine» sehr allgemein verwendet. Nur in Polen, dem nächsten Nachbarn der Ukraine, haben die protestierenden Landwirt:innen zu behaupten begonnen, dass sie nicht gegen die ukrainischen Bäuerinnen und Bauern, sondern gegen die in der Ukraine tätigen transnationalen Konzerne protestieren würden. Dies trifft weitgehend zu, da die Agrarindustrie – die wichtigsten Exporteure ukrainischen Getreides – häufig internationalen Holdings oder ausländischen Investmentgruppen gehört. Honig zum Beispiel wird von ukrainischen Familienbäuerinnen und kommerziell orientierten ländlichen Haushalten produziert, die ihre Produkte ins Ausland verkaufen. Leider ist der Unmut der europäischen Landwirt:innen gegenüber den billigeren ukrainischen Exporten jedoch ungebrochen.
Es finden zahlreiche Gespräche über den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg statt. Im Rahmen des Nationalen Rates für den Wiederaufbau erarbeitet eine Gruppe «Neue Agrarpolitik» derzeit Vorschläge für die Wiederherstellung der Landwirtschaft. Die vorliegenden Entwürfe scheinen eine Rückkehr zum Produktions- und Wirtschaftsmodell der globalisierten, exportorientierten Landwirtschaft aus der Vorkriegszeit vorzuschlagen, anstatt die Lebensmittelproduktion unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls und der Umwelt neu zu überdenken. Daher gab es auch Kritik von Seiten der Zivilgesellschaft und aus der Wissenschaft. Wie könnte ein gerechterer Wiederaufbau der Landwirtschaft nach dem Krieg aussehen? Wie kann eine gesunde, kulturell angemessene und mit Respekt und Sorgfalt für das Land erzeugte Lebensmittelproduktion unterstützt werden?
Ich denke nicht, dass wir versuchen sollten, die großindustrielle Landwirtschaft in der Ukraine in ihrem Kern zu beseitigen. Das ist zu extrem und zu unrealistisch. Erstens generiert die Agrarindustrie Haushaltseinnahmen, die für den Wiederaufbau des Landes nach dem Krieg benötigt werden (vor dem Krieg machte der Agrarsektor 45 % der Exporterlöse aus). Sicherlich gibt es genügend Fälle von Steuerhinterziehung im großen Stil durch die Agrarindustrie, aber wir sollten die Rolle des Großkapitals in der ukrainischen Wirtschaft nicht unterschätzen. Zweitens ist die Welt auf das Getreide aus der Ukraine angewiesen, und unser Land hat den Boden, das geeignete Klima und die Ressourcen, um die «Kornkammer der Welt» zu bleiben.
Ich denke jedoch, dass es wichtig ist, den großen Unternehmen mehr Beschränkungen aufzuerlegen, einschließlich Umweltauflagen, und die Agrarwirtschaft transparenter zu machen. Es ist auch wichtig, dass die ukrainische Regierung die Prioritäten in ihrer Agrarpolitik von einem «Big is beautiful»-Ansatz auf die Unterstützung von Familienbetrieben und ländlichen Haushalten verlagert. Das ist natürlich leichter gesagt als getan, denn die zweigeteilte Agrarstruktur, die Kleinbäuerinnen und -bauern gegenüber sehr ungerecht ist, ist im ukrainischen institutionellen System tief verwurzelt. Dies zeigt sich auch in der neuen Agrarpolitik, die weitgehend darauf abzielt, das Vorkriegsmodell einer globalisierten, exportorientierten Landwirtschaft wiederherzustellen.
Und ja, es gibt starke Kritik von Seiten der Zivilgesellschaft, der Bauernverbände und der akademischen Gemeinschaft an den Plänen der Regierung, das alte Agrarsystem wiederherzustellen. Die Kritiker:innen argumentieren, dass die industrielle, exportorientierte Landwirtschaft ihre Anfälligkeit und Nicht-Nachhaltigkeit bewiesen hat und es an der Zeit ist, der familienbasierten Landwirtschaft den Vorrang zu geben, die ökologisch und sozial nachhaltig, wirtschaftlich lebensfähig und in Krisenzeiten widerstandsfähig ist. Letztes Jahr haben Aktivist:innen und Wissenschaftler:innen eine «Resolution an die ukrainische Regierung» mit konkreten Empfehlungen an die verschiedenen staatlichen Behörden ausgearbeitet, wie die ukrainische Landwirtschaft wieder gerechter und nachhaltiger gestaltet werden könnte. Zu den Empfehlungen gehören die Übernahme der Freiwilligen Leitlinien der Vereinten Nationen für eine verantwortungsvolle Bewirtschaftung von Land, Fischerei und Wäldern, der FAO-Prinzipien für verantwortungsvolle Investitionen in die Landwirtschaft und die Ernährungssysteme sowie der UN-Erklärung über die Rechte der Kleinbäuerinnen. Die Autor:innen schlagen außerdem bestimmte Mechanismen zur Unterstützung von Kleinbäuerinnen und -bauern beim Kauf von landwirtschaftlichen Flächen vor und fordern eine 10%-Quote für landwirtschaftliche Kleinerzeuger:innen im internationalen Getreidehandel als Teil des humanitären Programms «Getreide aus der Ukraine». Die Empfehlungen liegt auf Englisch und Ukrainisch vor.
Referenzen
Der Artikel wurde ursprünglich auf commons.com.ua, 23.05.2024, publiziert. Das Interview wurde von Iryna Zamuruieva geführt. Deutsche Übersetzung: E. Gelinsky (Red. emanzipation)
Bildquelle (drehen): Foto von Maria Lupan auf Unsplash