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Destruktivkräfte prägen zunehmend die Dynamik der kapitalistischen Gesellschaften. Die verlockende Verheißung des Neoliberalismus einer friedlichen und durch Märkte global verbundenen Welt glaubt kaum mehr jemand. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass uns die kapitalistische Produktionsweise in eine wirtschaftlich prosperierende, sozial tragbare und ökologisch tragfähige Zukunft führen wird. Im Gegenteil, wovor Karl Marx und Friedrich Engels in der Deutschen Ideologie bereits gewarnt haben, tritt immer deutlicher und für die überwältigende Mehrheit der Menschheit mit katastrophalen Folgen zutage: die Produktivkräfte kehren sich unter der Herrschaft des Privateigentums zu Destruktivkräften und viele produktive Kräfte kommen gar nicht erst zur Anwendung.[1]
Diese Kräfte der Zerstörung sind mittlerweile allgegenwärtig. Die Erderhitzung und die ökologische Zerstörung unserer Lebensgrundlagen sind die allumfassende Grundlage, die alle gesellschaftlichen Auseinandersetzungen prägt. Dazu gesellen sich die der kapitalistischen Produktionsweise eigenen Kennzeichen der selektiven Zersetzung gesellschaftlicher Zusammenhänge, der Spaltung und Abspaltung von Gesellschaften, der Einverleibung unbezahlter Arbeit und der Verwüstung anderer Gesellschaften durch imperialistische Expansion und Kolonisierung. Diese Verheerungen verallgemeinern sich derzeit. Dazu kommen wieder imperialistische Besatzungskriege, die nicht nur die Menschen töten, sondern die besetzten Gesellschaften zersetzen, vertreiben und zerstören. Zugleich degenerieren sie auch die Gesellschaften der Besatzungsmächte moralisch und politisch. Diese Destruktivkräfte und wie die kapitalistische Entwicklung verknüpft mit deren energetischen Grundlagen zu verstehen ist, bilden den Schwerpunkt dieser Ausgabe von emanzipation.
Das Massaker von Hamas am 7. Oktober und der Krieg der israelischen Staats- und Militärführung gegen die Bevölkerung im Gazastreifen, der auf die massenhafte Vertreibung der Menschen aus Gaza zielt, haben uns dazu motiviert, das Heft mit einer aktuellen feministischen Intervention von Samah Salaime und einer Erklärung arabischer Frauenorganisationen in Israel-Palästina zu eröffnen. Für die Palästinenserin Samah Salaime sind der Kampf gegen die geschlechtsspezifische Gewalt und der Kampf gegen die israelische Besatzung untrennbar miteinander verbunden. Doch die Tatsache, dass jüdische Frauen während des von der Hamas geführten Angriffs auf den Süden Israels am 7. Oktober Opfer sexualisierter Gewalt wurden, riss eine Kluft in diese Verbundenheit. Sie erinnert daran, dass systematische Vergewaltigungen und sexueller Missbrauch von Mädchen und Frauen fester Bestandteil von Kriegen sind. Bewaffnete Männer berauschen sich der Macht und machen die Körper von Frauen zum Teil des Schlachtfelds. Diese verbreitete sexualisierter Gewalt schmälere jedoch keineswegs das Trauma und den Schmerz israelischer Frauen und die Solidarität mit ihnen. Samah Salaime wendet sich zugleich an die israelischen Frauen und fordert auch von ihnen Solidarität ein. Denn eine umfassende feministische Kritik müsse sich der israelischen Bombardierung der Menschen im Gazastreifen entgegenstellen. „Zehntausende Frauen wurden getötet oder verwundet, ihre Kinder zerstückelt und ihre Frühgeburten ohne Sauerstoff zurückgelassen.“ So wie sie die Erfahrungen israelischer Frauen nicht leugne, erwartet sie jedoch „von jüdischen Feministinnen und dem Rest der Welt, dass sie die Auswirkungen der langjährigen geschlechtsspezifischen Gewalt Israels gegen palästinensische Frauen anerkennen.“
Nicht nur der israelische Krieg in Gaza, sondern auch der russische Krieg in der Ukraine hat in der Linken in Europa und anderswo zu tiefen Rissen geführt. Der russische Krieg gegen die ukrainische Bevölkerung dauert an. Längst befinden sich die ukrainischen Truppen wieder in der Defensive. Und die mangelnde internationale Unterstützung der Verteidigung lässt Putin hoffen, weitere Gebiete der Ukraine einzuverleiben und die Bevölkerung zu vertreiben. Wir von emanzipation haben uns aktiv in diesen Debatten mit einer profilierten Position zur Unterstützung des ukrainischen Widerstandes, besonders der Selbstorganisation, feministischen Initiativen und Gewerkschaften gegen die russischen Besatzungstruppen eingebracht.
Murray Smith antwortet in seinem Beitrag auf Heinz Bierbaum und Michel Brie von der Rosa Luxemburg Stiftung, die am 19. Juli 2023 in einer Stellungnahme sich abermals für eine Einfrierung des Krieges und eine Übereinkunft des „Westens“ mit dem Putin-Regime auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung aussprachen. Murray Smith spitzt die Debatte zu und argumentiert, dass alle Diskussionen letztlich auf eine Frage hinausliefen: „Auf welcher Seite stehst du?“ Die von etlichen Linken vorgeschlagenen scheinbar „realistischen“ Perspektiven akzeptieren die russische Besatzungsherrschaft über einen großen Teil der ukrainischen Bevölkerung. Murray Smith kritisiert diese Position grundsätzlich. Er geht von der einzigen internationalistischen Position aus: der Unterstützung des Widerstands der Ukraine gegen die russische Aggression.
Um die Erderhitzung entscheidend abzubremsen, ist das globale Energiesystem umzubauen. Doch über 80% der weltweit verbrauchten Primärenergie stammt aus fossilen Energieträgern. Dieser Umbau ist also keineswegs nur eine technische Angelegenheit, sondern erfordert die Neugestaltung ganzer Industrien, Produktionsnetzwerke, Logistiksysteme, letztlich der gesamten Wirtschaft. Auch die Konsumgewohnheiten in den imperialistischen Ländern müssen sich unter den Bedingungen einer Reduktion des Energieverbrauchs grundlegend verändern.
Doch was ist zu beachten, um das Energiesystem grundlegend und rasch auf erneuerbare Energien umzubauen? Dafür braucht es zunächst ein systemisches Verständnis von Energieerzeugung, Umwandlung, Transport und Verbrauch. Unzählige Initiativen haben bereits auf unterschiedliche Weise begonnen, erneuerbare Energie anzuwenden und gesellschaftlich zu verbreitern, beispielsweise auch im Rahmen von Genossenschaften und gemeinschaftlichen Energieprojekten.
Simon Pirani argumentiert, dass die „kollektiven Bemühungen, den Übergang weg von den fossilen Brennstoffen zu erfassen, und zu verstehen, wie er mit dem Übergang weg vom Kapitalismus zusammenhängt“ deutlich verstärkt werden müssen. Er skizziert hierfür einige zentrale Ausgangspunkte. Dabei kritisiert er die unsachgemäßen und von einem reduktionistischen Klassenverständnis ausgehenden Argumente von Matt Huber und Fred Stafford, die erneuerbaren Energien als Aspekte einer neoliberalen Agenda bezeichnen und zugleich die Kernenergie als Antwort auf die Herausforderungen propagieren.
Das fossil gestützte Energiesystem in den reichen kapitalistischen Ländern hat sich in der langen Aufschwungsphase nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit durchgesetzt. Dessen Siegeszug wurde bereits durch die kapitalistische Industrialisierung angelegt. Die Phase und Konfiguration, die Ernest Mandel als „Spätkapitalismus“ bezeichnete, hätte ohne fossile Energieträger nicht entstehen können. Ernest Mandel erklärte Anfang der 1970er Jahre, warum sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine lange Expansionsphase durchsetzte und sich bald erschöpfen werde.
2023 wäre Ernest Mandel 100 Jahre alt geworden. Bietet sein 1972 erschienenes Buch Der Spätkapitalismus über 50 Jahre später noch theoretische Impulse, um die gegenwärtige Phase der kapitalistischen Gesellschaft zu verstehen? Christian Zeller zeigt auf der Grundlage ökomarxistischer Beiträge über den gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur und die Bedeutung der fossilen Energie in der kapitalistischen Produktionsweise, warum Ernest Mandels Theorie des Spätkapitalismus der ökologischen Dimension nicht gerecht wird. Ernest Mandel berücksichtigte die stofflichen, ökologischen und energetischen Grundlagen des Spätkapitalismus nicht. Er realisierte nicht, dass der Aufstieg des Spätkapitalismus auf einer spezifischen Form der Inwertsetzung der Natur und des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur beruhte. Darum vermochte er auch die Tragweite der fossilen Energieträger für die kapitalistische Produktionsweise nicht zu erkennen. Christian Zeller unterbreitet Vorschläge, wie sich Mandels Ansatz mit einem umfassenderen ökologischen Verständnis verknüpfen lässt. Gestützt auf Mandels Theorie der Langen Wellen lässt sich schlussfolgern, dass die zunehmend umfassenderen Destruktivkräfte, die Mandel treffend erkannte und sich gegenwärtig in der Erderhitzung und dem Überschreiten von planetary boundaries zeigen, die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise massiv verschärfen und eine weitere expansive Phase der kapitalistischen Entwicklung unwahrscheinlich machen.
Die alljährlichen Gedenkanlässe an die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 haben eine neue Brisanz erlangt. Wladimir Putin, sein Außenminister Serguei Lawrow und ihre Generäle drohten mehrfach öffentlich, in ihrem Krieg gegen die ukrainische Bevölkerung notfalls auf Atomwaffen zurückzugreifen. Ein rechtsradikaler Besessener in der israelischen Regierung zog öffentlich die Möglichkeit in Betracht, eine Atombombe gegen die Menschen in Gaza einzusetzen.
Robert Lochheads Rückblick auf die Vorbereitungen des Atombombeneinsatzes durch die politische und militärische Führung der USA erinnert uns daran, wie kriegführende Mächte in einer Eskalationslogik den Einsatz ihrer Mittel steigern, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen. Das gilt keineswegs nur bei Atomwaffen, sondern auch bei konventioneller Kriegsführung. Die Bombardierung ukrainischer Städte durch die russische Armee und der gegenwärtige Krieg der israelischen Armee gegen die Bevölkerung in Gaza zeigen das in aller Grausamkeit.
Der Kampf gegen die globale Erhitzung und die Reduzierung des Verbrauchs fossiler Brennstoffe erfordern einen massiven Anstieg der Stromerzeugung. Dies verhilft Kernkraftwerken erneut zu einer Rolle als technische Lösung einer gesellschaftlichen Herausforderung. Die Gefahren der überhitzten Erde werden gegen die Gefahren der Radioaktivität – also Destruktivkräfte gegen Destruktivkräfte – eingetauscht. Die Bearbeitung von Destruktivkräfte durch Destruktivkräfte: das ist die Logik der gegenwärtigen Phase der kapitalistischen Produktionsweise. Wir stehen vor der Wahl: Ökosozialismus oder Barbarei!
Redaktion emanzipation
[1] Marx, Karl und Engels, Friedrich (1846: 60, 424): Die deutsche Ideologie. Karl Marx-Friedrich Engels-Werke (MEW) Band 3. Ausgabe 1969. Berlin: Dietz Verlag. S. 5 – 530.