Share This Article
Feministische Grundsätze verpflichten uns, sowohl den palästinensischen Frauen, die in Gaza abgeschlachtet werden, als auch den israelischen Frauen, die sexualisierte Gewalt bezeugen, beizustehen.
Die beiden wichtigsten Kämpfe in meinem Leben sind der Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt und der Kampf gegen die israelische Besatzung. Für mich waren diese Kämpfe immer untrennbar miteinander verbunden, denn beide streben nach Befreiung und Gleichheit für unterdrückte Gruppen: Frauen und Palästinenser:innen. Aber zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass diese beiden Welten aufeinanderprallen.
Seit dem Beginn des Krieges werden wir alle dazu gedrängt, uns für eine Seite zu entscheiden – zu unterstützen oder zu verurteilen, dafür oder dagegen zu sein. Diese Sprache, die wir als Instrument des Patriarchats so gut kennen, ist auch in die feministischen Bastionen eingedrungen. Noch unter Schock stehend, waren jüdische und palästinensische Feministinnen gezwungen, Stellung zu beziehen: zu glauben oder zu leugnen, dass jüdische Frauen während des von der Hamas geführten Angriffs auf den Süden Israels am 7. Oktober Opfer sexualisierter Gewalt wurden. Diese Frage wurde nach dem Angriff und inmitten der anhaltenden Bombardierung des Gazastreifens durch Israel Teil der verbalen Kriegsführung.
Ich glaube, dass am 7. Oktober geschlechtsspezifische Verbrechen begangen wurden.
Auch wenn wir nicht genau wissen, was an diesem Tag geschah, oder in welcher Form und in welchem Ausmaß sexualisierte Gewalt begangen wurde – obwohl wir einige Hinweise haben – glaube ich, dass es geschah, weil ich die Situation von Frauen in Kriegsgebieten untersucht habe.
Wir wissen, dass systematische Vergewaltigungen und sexueller Missbrauch von Mädchen und Frauen ein häufiges Phänomen in Kriegsgebieten sind. Bewaffnete Männer, die sich an der Macht berauschen, sehen die Körper von Frauen als Teil des Schlachtfelds. Diejenigen, die Zivilisten:innen angreifen, um zu morden, einzuschüchtern, zu kontrollieren und ihr Land zu besetzen, und diejenigen, die unschuldige Menschen als Geiseln nehmen, werden den Frauen wahrscheinlich nicht nur eine Waffe an den Kopf halten.
Wir wissen zum Beispiel, was im ehemaligen Jugoslawien geschah, als serbische Soldaten Tausende von bosnischen Frauen vergewaltigten, deren Geschichten erst ans Licht kamen, als ungewollte Kinder in Flüchtlingslagern entdeckt wurden. Es dauerte viele Monate, bis das ganze Ausmaß der systematischen Vergewaltigungen deutlich wurde. Wir wissen, was Frauen während der Kämpfe in der Demokratischen Republik Kongo widerfahren ist; wir wissen, was Boko Haram-Soldaten Mädchen in Nordafrika angetan; und wir wissen, was britische und amerikanische Soldaten Frauen im Irak angetan haben. Wir wissen, was mit jesidischen Frauen geschah, die vom IS gefangen genommen wurden; wir wissen vom Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung, dem syrische Frauen und Mädchen während des Krieges ausgesetzt waren; und wir wissen, dass indigene Frauen in Kanada in Wäldern vergewaltigt und ermordet wurden.
Ähnliche Gräueltaten wurden auch in Algerien, Myanmar, Darfur und Ruanda an Frauen verübt. Und ja, auch hier in diesem Land gibt es Horrorgeschichten über sexuelle Gewalt gegen palästinensische Frauen während der Nakba. Diese Verbrechen wurden nicht fotografiert, dokumentiert oder untersucht, und übrig bleiben nur die Geschichten der Überlebenden – unserer Großmütter.
Es ist wichtig, dass eine gründliche Untersuchung durchgeführt wird, gleichzeitig dürfen wir aber nicht vergessen, dass geschlechtsspezifische Verbrechen in Kriegsgebieten im Allgemeinen nur sehr langsam ans Licht kommen. Viele Überlebende sexualisierter Gewalt brauchen Jahre, wenn nicht sogar ein ganzes Leben, um über das zu sprechen, was ihnen widerfahren ist. Allzu oft wird die Wahrheit jedoch vom Patriarchat totgeschwiegen, verharmlost oder geleugnet, und deshalb ist es wichtig zu sagen: Wir glauben den Frauen.
Auf der Grundlage dieser feministischen Grundsätze müssen wir auch auf der Seite der palästinensischen Frauen stehen, die seit dem 7. Oktober im Gazastreifen unsägliches Leid durch die israelische Armee ertragen müssen. Unser Kampf für die Befreiung der Frauen darf auf keiner Seite des Gaza-Zauns enden.
Der israelische Feminismus geht in die Offensive
Mit der Behauptung, internationale Frauengruppen hätten sich nach dem 7. Oktober nicht mit den israelischen Frauen solidarisiert, geht der zionistische Mainstream-Feminismus in die Offensive. Er nimmt nicht nur diejenigen ins Visier, die schweigen, sondern auch diejenigen, die es gewagt haben, eine externe Untersuchung der am 7. Oktober begangenen geschlechtsspezifischen Verbrechen zu fordern. Sie wurden als Rassist:innen bezeichnet, die sich auf die Seite der Palästinenser:innen geschlagen und die israelischen Frauen im Stich gelassen haben.
UN Women (UN Frauenorganisation) ist die zentrale Zielscheibe dieser Rhetorik. Sie wird von israelischen feministischen Organisationen beschuldigt, sexualisierte Gewalt gegen israelische Frauen zu leugnen – natürlich als ein Produkt des „Antisemitismus“ der UN. Die Wahrheit ist viel einfacher: UN Women ist eine Organisation des gigantischen Dinosauriers UN und arbeitet damit sehr, sehr langsam.
In der Tat hätte UN Women schneller auf die Berichte über sexualisierte Gewalt am 7. Oktober reagieren müssen. Ihre erste Erklärung vom 13. Oktober war fade und vage und enthielt einen Aufruf, die Kämpfe einzustellen und Leid von unschuldigen Menschen, insbesondere Frauen und Kindern, abzuwenden. Eine zweite Erklärung, die am 1. Dezember veröffentlicht wurde, ging weiter: Sie drückte ihre Besorgnis aus über „zahlreiche Berichte über geschlechtsspezifische Gräueltaten und sexualisierte Gewalt während dieser Angriffe“ und wies darauf hin, dass die Organisation die breit angelegte UN-Untersuchungskommission zu Kriegsverbrechen, einschließlich sexualisierter Gewalt, auf beiden Seiten unterstützt.
Die Forderung, die Schrecken des 7. Oktober zu untersuchen und zu dokumentieren, auch durch die Sammlung von Zeugenaussagen Überlebender, schmälert nicht die Schwere der Ereignisse. Auch der Angriff auf die weltweite Frauenbewegung zeugt nicht von einer größeren Solidarität mit den Opfern. Im Gegenteil, er bringt Feministinnen in eine abwehrende und zögernde Haltung und verlangt unnötigerweise eine Loyalitätsprüfung, bei der die feministischen Werte der Schwesternschaft, das Engagement für die Befreiung aller Frauen, unabhängig von Ethnie und Nationalität, sowie die Verpflichtung, die Würde der Opfer zu unterstützen und zu bewahren, nachzuweisen sind.
Zehntausende Frauen wurden getötet oder verwundet, ihre Kinder zerstückelt und ihre Frühgeburten ohne Sauerstoff zurückgelassen. Frauen haben in Zelten entbunden, gestillt und menstruiert, ohne Zugang zu sauberem Wasser, Hygieneprodukten, Privatsphäre oder sauberer Kleidung.
Diese Zahlen und Bilder erreichen die Frauen in Israel nicht, aber der Rest der Welt sieht, was geschieht, und muss sich auch mit dem feministischen Aspekt des israelischen Angriffs auf Gaza befassen. Die Waagschale mit Blutvergießen und Grauen neigt sich jetzt zur palästinensischen Seite; das darf nicht ignoriert werden, jedoch darf das Leid der Frauen in Israel und Gaza kein Wettbewerb sein.
Unser Kampf muss gemeinsam weitergehen
Es wäre für mich viel einfacher, mich in Videos von getöteten Frauen in Gaza zu vertiefen und zumindest bis zum Ende des Krieges eine klare Palästinenserin und eine unklare Feministin zu sein. In dieser Hinsicht kann ich die israelischen Frauen verstehen, für die es einfacher war, in ihr eigenes nationales Lager zurückzukehren und sich in die Reihen der Kriegsbefürworter:innen einzureihen. Aber sich in dieser Zeit nach innen zu wenden, verrät die feministischen Werte, für die wir so viele Jahre lang gemeinsam gekämpft haben, und schadet letztlich dem Wohl der israelischen und palästinensischen Frauen gleichermaßen.
Vor fünf Jahren gehörte ich zu einer Gruppe palästinensischer und jüdischer Feministinnen, die gemeinsam gegen Pläne kämpften, den Erwerb eines Waffenscheins in Israel zu erleichtern, denn wir wussten, dass dies zu mehr häuslichem Missbrauch und Gewalt gegen Frauen führen würde. Diese Reform wurde von Gilad Erdan vorgeschlagen, der damals Israels Minister für öffentliche Sicherheit war und heute Israel bei der UN vertritt. Traurigerweise sehen einige israelische Feministinnen Erdan jetzt als Partner in ihrem Kampf an, weil er im Zuge des 7. Oktobers UN Women attackierte.
Ebenso wenig können wir Premierminister Benjamin Netanjahu, der dem Leben israelischer und palästinensischer Frauen auf mehr als nur eine Art und Weise geschadet hat, als Partner betrachten, nur weil er der Welt verkündet: „Wo seid ihr? Ihr seid still, weil es jüdische Frauen sind.“
Als palästinensische Feministin stehe ich in dieser zutiefst erschütternden Zeit an der Seite meiner jüdischen feministischen Kolleginnen und Partnerinnen, und ich erwarte von ihnen, dass sie auch mir und der Sache des palästinensischen Feminismus beistehen, wenn Israel unsere Schwestern in Gaza abschlachtet. Ich erwarte, dass sie den Mut haben, aufzustehen und einen sofortigen Waffenstillstand fordern, der das Leben zahlloser Mütter und Kinder retten wird, die andernfalls getötet oder verwundet würden.
Der Kampf gegen Militarismus und Militarisierung ist seit Jahren ein gemeinsamer Kampf von jüdischen und palästinensischen Feministinnen. Gerade jetzt ist dieser Kampf wichtiger denn je.
So wie ich die Erfahrungen israelischer Frauen nicht leugne, erwarte ich von jüdischen Feministinnen und dem Rest der Welt, dass sie die Auswirkungen der langjährigen geschlechtsspezifischen Gewalt Israels gegen palästinensische Frauen anerkennen: sexuelle Gewalt durch Soldaten an Kontrollpunkten, Missbrauch weiblicher Gefangener und die Art und Weise, in der israelische Soldaten in Gaza derzeit palästinensische Frauen sogar in ihrer Abwesenheit erniedrigen und sich daran erfreuen, ihre intimen Habseligkeiten zu durchwühlen, nachdem sie gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben wurden.
Ich bin stolz auf meine Freund:innen in den palästinensischen Frauenorganisationen und ihre Erklärung, die auch ich unterzeichnet habe. Hier steht klar: „Wir setzen uns weiterhin entschieden gegen sexuelle Übergriffe, Belästigung und Vergewaltigung ein und unterstützen jede Frau, die ihre Stimme erhebt, unabhängig von ihrer Nationalität, Religion oder ethnischen Zugehörigkeit.“
„Wir stellen die Berichte israelischer Organisationen, die sexuelle Übergriffe gegen israelische Frauen im Zusammenhang mit den Ereignissen vom 7. Oktober untersuchen, nicht in Frage“ heißt es in der Erklärung weiter. „In diesem Sinne rufen wir […] diejenigen, die in Frauenorganisationen in Israel aktiv sind und ihre Stimme gegen die sexuellen Übergriffe am 7. Oktober erhoben haben, dazu auf, alle Übergriffe, einschließlich der Tötungen, Zerstörungen und Vertreibungen im Rahmen des unerbittlichen Krieges gegen das palästinensische Volk, von denen besonders Frauen und Kinder in Gaza betroffen sind, entschieden zu verurteilen.“
Sexuelle Übergriffe dürfen keinen politischen Nutzen haben. Unsere Kämpfe als palästinensische und jüdische Feministinnen sind miteinander verflochten und müssen jederzeit und allerorts den Widerstand gegen Besatzung, Rassismus, Diskriminierung, Patriarchat und Fundamentalismus einschließen. Wir werden nicht erfolgreich sein, wenn wir gespalten sind; unser Kampf muss gemeinsam weitergehen.
Referenzen
Bildquelle: Foto von Oscar Mackey auf Unsplash
Eine Version dieses Artikels wurde zuerst auf Hebräisch auf Local Call veröffentlicht, auf Englisch am 22. Dezember 2023 im + 972 Magazine. Deutsche Erstübersetzung durch emanzipation.