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Matan Kaminer, politischer Aktivist und Anthropologe in Israel, der in der israelischen Kriegsdienstverweigerungsbewegung und Palästina-Solidaritätsarbeit aktiv war, berichtet im Interview mit Tibor T. Meszmann, Redaktionsmitglied von LeftEast, über die massive Zunahme der Repression in Israel. Er zeichnet die grundlegenden Konfliktlinien und plädiert für eine alternative Vision eines Staates, in dem Menschen verschiedener Nationalitäten und Religionen in Frieden und Gleichheit leben können.
Tibor T. Meszmann: Der Kreislauf der Gewalt sowohl in Israel als auch in den besetzten Gebieten hat massiv zugenommen. Können Sie beschreiben, was die Positionen und Herausforderungen für die israelische Linke nach dem 7. Oktober sind?
Matan Kaminer: Wenn man von der “israelischen Linken” spricht, ist es wichtig, zunächst zu klären, wer damit gemeint ist. Für einige Leute, vor allem in der israelischen Rechten, sind mit “links” alle gemeint, die bereit sind, irgendeine Art von Verständigung mit den Palästinenser:innen zu erreichen. In den letzten Jahren wurde dies sogar noch weiter ausgedehnt, auf alle – auch wenn sie in irgendeinem anderen Sinne des Wortes “rechts” sind – die gegen die fortgesetzte Herrschaft von Benjamin Netanjahu sind. Aber ich verstehe “links” in dem Sinne, in dem es weltweit verwendet wird: es geht um ein Engagement für bürgerliche Gleichheit und soziale Gerechtigkeit. In diesem Sinne sind die meisten Linken in Israel eigentlich palästinensische Bürger:innen, die am stärksten in der Kommunistischen Partei Israels vertreten sind. Innerhalb der jüdisch-israelischen Gesellschaft ist die Linke, wie in vielen Teilen Osteuropas, recht klein und war schon vor Kriegsbeginn politisch marginal.
Die konsequente Linke in Israel – palästinensisch und jüdisch – hat die von der Hamas am 7. Oktober begangenen Verbrechen unmissverständlich und lautstark angeprangert und sich ebenso unmissverständlich gegen den brutalen Krieg ausgesprochen, den Israel im Gazastreifen entfesselt hat, einen Krieg, der durch eine grausame Rhetorik legitimiert wurde, der absichtlich auf Zivilist:innen abzielt und der bereits zum Tod von vielen Tausenden geführt hat. Wie alle anderen wurden auch wir von der israelischen Linken am 7. Oktober überrascht. Aufgrund von Besonderheiten der israelischen Sozialstruktur, auf die ich nicht näher eingehen werde, waren besonders viele Linke unter den Opfern – unter den Ermordeten an diesem Tag waren mein Genosse Hayim Katsman und die altgediente Aktivistin Vivian Silver. Aber die Ereignisse dieses Tages haben nichts an unserer tief verwurzelten Überzeugung geändert, dass es, solange das palästinensische Volk nicht frei ist, auch für Israelis keine sinnvolle Freiheit oder Sicherheit geben kann.
Wie interpretieren Friedensaktivist:innen und antimilitaristische Organisationen die Situation? Gelingt es den Gruppen, eine differenzierte Analyse der Situation zu formulieren, die auch das palästinensische Selbstbestimmungsrecht unterstützt? Gibt es Vorschläge und konkrete Aktionen, Proteste, Initiativen?
Es wäre ein wenig tautologisch und oberflächlich zu sagen, dass alle konsequenten Linken die Position unterstützen, die ich oben skizziert habe, weil dies die konsequente linke Position ist. Sicherlich gibt es viele Menschen, die in der Vergangenheit auf die eine oder andere Weise mit der Linken in Verbindung gebracht wurden, die nun behaupten, durch den Hamas-Angriff “ernüchtert” worden zu sein und das wahre Wesen des Feindes erkannt zu haben usw. Ich bin mir nicht sicher, wie ernst ich diese Behauptungen nehmen soll: Für mich haben sie den Beigeschmack von Opportunismus. Konsistente Linke wissen natürlich, dass die Hamas in keiner Weise eine linke Organisation ist. Wie andere islamistische Bewegungen im Nahen Osten ist ihr Aufstieg das Ergebnis des völligen Versagens der säkularen Linken, die unter den Palästinenser:innen durch Parteien wie die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) vertreten wird.
Antistalinistische Linke aus der Zeit des Kalten Krieges wussten sehr wohl, dass es durchaus möglich ist, sich für einen nationalen Befreiungskampf einzusetzen, ohne die politischen Kräfte zu unterstützen, die ihn gerade anführen. Viele in unserer Generation scheinen dies vergessen zu haben. Viele Kommentator:innen haben darauf hingewiesen, dass die Hamas nicht deshalb beliebt ist, weil die Palästinenser:innen besonders an einem islamischen Staat interessiert sind. Sie ist populär, weil sie als einzige politische Kraft wahrgenommen wird, die eine ernsthafte Herausforderung für die israelische Besatzung und Apartheid darstellt – ein krasser Gegensatz zur Kollaboration der Fatah und der Palästinensischen Autonomiebehörde unter Mahmoud Abbas. Die einzige sinnvolle Möglichkeit, der sich abzeichnenden Hegemonie der Hamas auf der palästinensischen Seite etwas entgegenzusetzen, besteht daher darin, eine Position zu formulieren, die sich entschieden gegen die Besatzung und natürlich gegen den derzeitigen Krieg wendet und gleichzeitig die alternative Vision eines Staates entwirft, in dem Menschen verschiedener Nationalitäten und Religionen in Frieden und Gleichheit leben können.
Was die Vorschläge betrifft, so ist dies nicht der Zeitpunkt, um detaillierte Pläne für die Zukunft zu unterbreiten. In den letzten Wochen lautete der Ruf der Stunde “Waffenstillstand jetzt!”, und jetzt, da eine vorübergehende Waffenruhe in Kraft ist, wird gefordert, diese zu verlängern und die Freilassung aller Gefangenen und Geiseln auf beiden Seiten sicherzustellen. “Alle für alle” lautet der Slogan der Familien der Geiseln; es ist ein ziemlich radikaler Slogan, ein inhärent abolitionistischer Slogan, um einen nordamerikanischen Begriff zu verwenden. Darüber hinaus spricht einiges dafür, sich weiterhin mit der Volksbewegung gegen die Regierung Netanjahu zu engagieren, auch wenn ein Großteil dieser Bewegung den militaristischen und sogar chauvinistischen Weg weiterverfolgt, den sie bereits vor dem Krieg eingeschlagen hat, und sie weiterhin argumentiert, dass die Regierung und nicht das Militär für den Hamas-Angriff verantwortlich ist usw.
Welche Haltung nehmen Regierung und Polizei gegenüber pazifistischen Demonstrant:innen und Äußerungen zur Unterstützung der palästinensischen Selbstbestimmung ein? Wie wird pro-palästinensische Meinungsäußerung als pro-terroristisch definiert, und gibt es andere Formen des Protests (z. B. antifaschistische), die ebenfalls ins Visier genommen werden?
In dieser Hinsicht hat sich die Situation seit Beginn des Krieges ernsthaft verschlechtert. Die Linke ist seit vielen Jahren an den Rand gedrängt worden, und für die palästinensische Bevölkerung haben die Sicherheitsdienste immer bedrohlich im Hintergrund gelauert, zum Beispiel im Bildungssystem. Palästinensische Parlamentarier:innen wurden aufgrund politischer Anschuldigungen ins Gefängnis gesteckt, andere mussten ins Exil gehen. Aber im Gegensatz zu den besetzten Gebieten, die unter Militärherrschaft stehen, war es in Israel möglich, zu protestieren: individuell, in den sozialen Medien und im alltäglichen Umgang miteinander, aber auch organisiert auf der Straße.
Seit Beginn des Krieges hat es eine wahre Flut von Repressionen gegeben, die sich vor allem gegen palästinensische Bürger Israels, aber auch gegen jüdische Dissident:innen richten. Hunderte von Menschen, wenn nicht noch mehr, wurden entlassen, vom Studium suspendiert, mit Drohungen belegt und körperlich bedroht, weil sie so harmlose Äußerungen wie “es gibt Kinder in Gaza” gemacht haben, und insbesondere die Polizei hat ein Spektakel daraus gemacht, demütigende Fahndungsfotos von solchen ruchlosen “Täter:innen” zu veröffentlichen, von denen viele junge palästinensische Frauen sind. Die Polizei, die dem faschistischen Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, untersteht, hat auch keinen Hehl aus ihrer Intoleranz gegenüber Protesten gemacht, und ihr Chef hat gedroht, Kriegsgegner:innen “in einen Bus nach Gaza” zu setzen. Vier prominente palästinensische Politiker:innen wurden festgenommen, weil sie versucht hatten, an einer Mahnwache teilzunehmen, und eine Solidaritätskundgebung am selben Abend in Tel Aviv, an der ich teilnahm, wurde mit einer solch brutalen Gewalt aufgelöst, wie ich sie in Israel noch nie erlebt habe.
Auf Drängen des Obersten Gerichtshofs hat die Polizei am 18. November eine Antikriegsdemonstration in Tel Aviv genehmigt. Die Demonstration selbst, die auf Anordnung der Polizei in einem eingezäunten Bereich in einem Park in der Nähe des Strandes stattfinden sollte, also an einem nicht sehr zentralen Ort, verlief problemlos, obwohl die Gegendemonstrant:innen mit lauter Musik versuchten, die Lautsprecher zu übertönen. Nach dem Ende der Demo waren einige dieser Gegendemonstrant:innen jedoch sehr nahe daran, Demonstrant:innen zu schlagen, darunter auch meine Mutter, die keine junge Frau ist. Die Polizei reagierte sehr zurückhaltend; es gab natürlich keine Verhaftungen.
Abschließend möchte ich noch etwas ausführlicher auf die Unterdrückung im akademischen Bereich eingehen, zum einen, weil ich dort arbeite, zum anderen aber auch, weil ich der festen Überzeugung bin, dass der akademische Bereich eine wichtige Rolle bei der Verbreitung von Ideologien spielt, die entweder progressiv oder regressiv sein können. Offensichtlich glaubt die Rechte daran, sonst würde sie nicht kritische Akademiker:innen ins Visier nehmen, was sie schon seit Jahren tut. Academia for Equality, eine Organisation, in der ich aktiv bin, hat den Schutz von Akademiker:innen und Student:innen vor solchen Repressionen zu einem ihrer Hauptziele gemacht. Doch seit Beginn des Krieges waren wir mit einer Lawine von Angriffen konfrontiert, die in einem Bericht unserer Genossin Yara Shahin-Gharable festgehalten sind. Der vielleicht sichtbarste dieser Angriffe war, als die Leitung der Hebräischen Universität, an der ich arbeite, eine Professorin mit Lehrstuhl, Nadera Shalhoub-Kevorkian, angriff, weil sie eine Erklärung unterzeichnet hatte, in der sie die Offensive auf Gaza als Völkermord bezeichnete. Da die Universitätsleitung sie nicht entlassen konnte, haben sie sie in den Medien und dann in einer E-Mail an die gesamte Universitätsgemeinschaft “zum Rücktritt aufgefordert“.
Wie bewerten Sie die öffentliche Diskussion, das Niveau und die Qualität der Medienberichterstattung? Was sind hier wichtige und/oder kritische Punkte?
Der gegenwärtige Zustand des öffentlichen Diskurses in Israel ist düster. In der Öffentlichkeit hat sich die Lage seit den ersten Tagen des Krieges, als überall von Völkermord die Rede war, vielleicht etwas gebessert, aber es hängen immer noch Schilder an den Balkonen in Tel Aviv, auf denen steht: “Das Bild des Sieges: Null Einwohner in Gaza” und dergleichen. Der Großteil der Medien hat sich an diesem blutrünstigen Rachediskurs beteiligt. Die wichtigsten Ausnahmen sind die unabhängige Website Local Call/+972 und die ehrwürdige liberale Zeitung Haaretz, die hervorragend über den Krieg berichten, aber nur ein vergleichsweise kleines Publikum erreichen. Aber selbst in Haaretz ist der vorherrschende Ton auf den Meinungsseiten ein endloses Gejammer über den angeblichen Verrat der internationalen pro-palästinensischen Linken, eine Haltung, die mein Genosse Itay Snir kritisch kommentiert hat.
Welches Licht wirft die Perspektive aus dem Inneren Israels auf die globale Strategie der Palästina-Solidaritätsbewegung? Gibt es bestimmte Themen, denen die Bewegung mehr Aufmerksamkeit schenken sollte?
Ich denke, die globale Linke und insbesondere die Palästina-Solidaritätsbewegung muss sich immer noch mit dem auseinandersetzen, was am 7. Oktober geschehen ist. Die Gewalt, die Israel seither ausgeübt hat, ist zwar immens verschärft worden, ähnelt aber im Wesentlichen der Art von Gewalt, die das Land seit Jahrzehnten gegen die Palästinenser:innen ausübt. Dies ist die psychopathische, instrumentelle “Rationalität”, die von der Frankfurter Schule analysiert wurde, die “Rationalität” von Hiroshima und Nagasaki, bei der die “saubere” Tötung von Zivilist:innen aus der Luft mit der Behauptung gerechtfertigt wird, dass jeder andere Weg den Verlust von mehr Menschenleben zur Folge gehabt hätte.
Aber der 7. Oktober war meiner Meinung nach etwas ganz Neues. Er war eine komplizierte und verwirrende Kombination aus drei Dingen: ein verblüffender, mutiger militärischer Umsturz, der von einem offensichtlichen Außenseiter gegen einen überheblichen Goliath unternommen wurde; eine strategisch verständliche, wenn auch moralisch verwerfliche Geiselnahme; und ein monströser Ausbruch sadistischer, pogromartiger Gewalt, der Hunderte von wehrlosen Zivilist:innen, darunter Babys und alte Menschen, das Leben kostete und Leichenschändung, massenhafte sexuelle Gewalt und andere Obszönitäten umfasste. Es ist nicht genau dasselbe wie die antikoloniale Gewalt des 20. Jahrhunderts, die von Fanon so scharfsinnig analysiert wurde; sie hat etwas noch nie Dagewesenes an sich, und es wird Zeit brauchen, sie intellektuell zu verarbeiten.
Wie ich bereits erwähnt habe, ist die differenziertere Herangehensweise an nationale Befreiungskriege früherer Generationen in der Linken in einigen Kreisen durch einen simplen Manichäismus ersetzt worden, so dass jede Kritik an der Hamas als Unterstützung für Israel angesehen wird. Nach Ansicht derjenigen, die diese Haltung vertreten, “sieht die Dekolonisierung so aus”, und wenn man damit ein Problem hat, muss man gegen die Dekolonisierung sein. Dieser Dualismus dürfte den osteuropäischen Linken vertraut sein, denen wiederholt gesagt wurde, dass jede Kritik an Teilen der ukrainischen Kriegsanstrengungen einer Unterstützung der russischen Invasion gleichkommt. Anspruchsvolle Autor:innen, darunter viele bei LeftEast, haben diese Logik zurückgewiesen, und es ist möglich, dasselbe in Bezug auf die Hamas zu tun. Es schmälert in keiner Weise die Gerechtigkeit der palästinensischen Sache – im Gegenteil, es stärkt sie –, wenn diese Sache sorgfältig von den in ihrem Namen begangenen Gräueltaten unterschieden wird.
In Osteuropa, wo der größte Völkermord der Geschichte an den Jüd:innen (und anderen) verübt wurde, ist diese Klarheit besonders wichtig. Die Palästina-Solidaritätsbewegung hat es im Allgemeinen recht gut verstanden, die Opposition gegen Israel von Jüd:innenhass und Antizionismus von Antisemitismus zu unterscheiden. Aber seit dem Nazi-Holocaust und noch mehr seit dem Exodus des postsowjetischen Judentums in den 1990er Jahren ist Israel neben den USA zum größten Zentrum jüdischen Lebens in der Welt geworden. Heute haben die meisten Jüd:innen irgendeine Art von persönlicher oder familiärer Verbindung zu Israel, und dies gilt insbesondere für die osteuropäischen Jüd:innen. Zwischen der Legitimation von Gewalt gegen israelische Zivilist:innen und der Legitimation von Gewalt gegen einheimische Jüd:innen liegt in der Region also nur ein schmaler Grat, der – wie wir bei den Ereignissen in Dagestan gesehen haben – mit erschreckender Geschwindigkeit überwunden werden kann. Gerade in Osteuropa sollten Linke deutlich machen, dass Solidarität mit den Palästinenser:innen keineswegs Feindseligkeit gegenüber Jüd:innen oder Israelis als Individuen oder als Gemeinschaften bedeutet. Vielmehr sollten wir deutlich machen, dass der einzige Weg zu dauerhafter Sicherheit für Palästinenser:innen und Israelis – aber angesichts der Tatsache, dass die Region ein Pulverfass ist, eigentlich für die ganze Welt – darin besteht, für die Befreiung Palästinas zu kämpfen.
Referenzen & Anmerkungen
Der Artikel erschien am 30. November 2023 auf der Seite von Left East. Aus dem Englischen übersetzt von Eva Gelinsky.
Bildquelle: Foto von Dewang Gupta auf Unsplash