Share This Article
Nur eine reaktionäre Verteidigung des Status Quo der Intensivlandwirtschaft oder ein Arbeitskampf, mit dem sich auch die Klimagerechtigkeitsbewegung beschäftigen sollte?
Bäuerliche Proteste werden nur selten als das verstanden, was sie sind: Arbeitskämpfe. Auch die aktuellen Proteste in den Niederlanden scheinen vor allem ein verbreitetes linkes Vorurteil zu bestätigen: Bäuerinnen und Bauern sind mehrheitlich, vor allem wenn sie den Status Quo der Intensivlandwirtschaft verteidigen, reaktionär. Sie können daher keine Verbündeten im Kampf um Klimagerechtigkeit sein. Ein genauerer Blick auf die Entwicklungen, die zur aktuellen Krise geführt haben, offenbart, wie die Landwirtschaft nach dem 2. Weltkrieg vom Kapital “durchdrungen” wurde. Eine historisch-kritische Analyse dieser “Agrarmodernisierung” macht nicht nur verständlich, mit welchen ökonomischen und agrarpolitischen Sachzwängen und Abhängigkeiten die meisten Landwirt:innen heute konfrontiert sind. Sie liefert auch Ansatzpunkte, um die Landwirtschaft aus der Sackgasse der einseitigen Produktivitätssteigerung zu befreien, die sich nur auf Kosten von Mensch, Tier und Umwelt realisieren läßt.
Seit 2019 finden in den Niederlanden immer wieder grosse “Bauernproteste” statt. Hintergrund dieser Proteste ist die so genannte Stickstoffkrise: Der niederländische Stickstoffausstoß ist relativ gesehen der höchste in Europa. Der Agrarsektor mit seiner intensiven Viehhaltung ist für den größten Anteil verantwortlich, gefolgt von Verkehr und Industrie. Seit gut 30 Jahren ist die Problematik bekannt, da jedoch kaum wirksame Maßnahmen ergriffen wurden, hat sich die Situation immer weiter verschärft. Die “Notbremse”, die die Politik aktuell ziehen muss, ist das vorläufige Endergebnis dieses über Jahrzehnte forcierten, einseitig auf Produktivitätssteigerung ausgerichteten Modells. Zum Handeln gezwungen wurde die Politik durch ein Urteil des höchsten Verwaltungsgerichts der Niederlande, das niederländische Umweltorganisationen angestrengt hatten. Danach muss der Stickstoffausstoß bis 2030 um durchschnittlich 50 % gesenkt werden, in den Regionen mit intensiver Tierhaltung bedeutet dies eine Reduktion von bis zu 70 %. Angrenzend zu Naturschutzgebieten wurde sogar eine Reduktion von 95 % vorgegeben, was in den über hundert besonders belasteten Gebieten dazu führen dürfte, dass viele Betriebe aufgeben müssen.
In den letzten Monaten nahmen die Proteste noch einmal an Schärfe zu. 2022 eskalierte die Situation, nachdem die Politik ankündigt hatte, Höfe mit hohen Emissionen aufzukaufen und notfalls zu enteignen: Die Landwirt:innen blockierten daraufhin mit ihren Traktoren Autobahnen oder die Zufahrten von Supermärkten, sie setzten Heuballen in Brand, beschädigten Polizeiautos, bedrohten Politiker:innen oder kippten Mist, Müll und Asbest auf die Strassen. Neben der Existenzangst, treibt viele Landwirt:innen der Ärger zu den Demonstrationen: Sie sehen sich als Opfer der (Agrar-)Politik und fühlen sich zu Sündenböcken abgestempelt, weil andere emissionsreiche Industriezweige kaum Einschränkungen oder Auflagen erhalten. (Die Kritik ist durchaus berechtigt, denn während die Landwirtschaft mit verschärften Auflagen konfrontiert ist, kann etwa der bei Amsterdam gelegene Flughafen Schiphol ungestraft gegen die Stickstoffregeln verstoßen. Um diesen zu entsprechen, müsste die Zahl der Flüge, laut einem Bericht des öffentlich-rechtlichen Senders NOS, um ein Fünftel reduziert werden).
Eine Folge der Proteste war der überraschende Wahlerfolg der sozial-konservativen Bauer-Bürger-Bewegung (BBB) bei den Provinzwahlen im März diesen Jahres. Die BBB lehnt die Enteignungen der landwirtschaftlichen Betriebe strikt ab. Um den Stickstoffausstoß zu reduzieren, setzt sie, genauso wie viele landwirtschaftliche Interessenvertretungen, auf verschiedene Technologien. Neben den Landwirt:innen scheint die Partei auch andere anzusprechen, die sich von “Den Haag” vernachlässigt fühlen. So ist rund um die Bauernproteste inzwischen eine Bewegung entstanden, in der es um weit mehr geht als die “Stickstoffkrise”. Gruppierungen und Parteien aus dem rechtspopulistischen und identitären Spektrum sind dazu gestossen. Dies zeigte sich z. B. bei einer Großdemonstration in Den Haag, die kurz vor den Provinzwahlen im März diesen Jahres stattfand. So versammelten sich unter dem Protestsymbol der umgedrehten Landesfahne, Bäuerinnen und Bauern, Querdenker:innen, Klimawandelleugner:innen bis zu Anhänger:innen verschiedener Rechtsparteien. Hauptorganisatorin der Proteste war die Farmers Defense Force (FDF), eine 2019 gegründete Bauernaktionsgruppe.
Die Bauernproteste in den Niederlanden sind kein Einzelfall. Die Liste von Protesten und Kämpfen von Bäuerinnen und Bauern ist lang und aktuell scheinen sie in vielen Teilen der Welt wieder zuzunehmen. Registriert werden sie vor allem dann, wenn sie als rechtspopulistische Bewegungen auftreten oder als solche eingeordnet werden. Linke Bewegungen oder Parteien nehmen diese Proteste, wenn überhaupt, nur selten als das wahr, was sie sind: Arbeitskämpfe.
Bauernproteste = Arbeitskämpfe?
Bäuerliche Protestaktionen werden nicht nur übersehen. Sie werden, wie der Agrarhistoriker Peter Moser schreibt, vielfach gar nicht gesehen. Sie “können bei einer in den gängigen Mustern verlaufenden Thematisierung gar nicht als relevante historische Phänomene wahrgenommen werden, wodurch sie eher aus der Geschichte herausgeschrieben als diskutiert werden.” (Moser, P. 2020: Boykottieren, protestieren, demonstrieren, streiken – und bestreikt werden, 163) So lässt sich mit Begriffen wie Streik oder Aussperrung das Protestverhalten von Arbeiter:innen und Unternehmen im Industriebereich relativ präzise beschreiben, zur Charakterisierung bäuerlich-agrarischer Protestaktionen (z. B. Lieferboykotte, Brandstiftungen, Sachbeschädigungen, Einschüchterungen, Flugblattaktionen, Demonstrationen, Blockaden usw.) hingegen eignen sich diese Begriffe kaum. (Ebd.)
Landwirt:innen passen auch deshalb nicht in das gängige Schema des/der Industriearbeiter:in, weil sie – je nachdem, wie ihr Betrieb organisiert ist – oft gleichzeitig als selbstständige Unternehmer:in und Arbeiter:in agieren. Eine Art Lohnabhängigen-Status haben sie vor allem in vertikal integrierten Sektoren: dort sind sie formal zwar noch unabhängig, haben aber nahezu alle “unternehmerischen Freiheiten” verloren.
Die Nichtbeachtung des Bäuerlichen hängt schließlich auch mit einem engen Verständnis von “fortschrittlicher” Wirtschaftsentwicklung zusammen. Nicht überraschend propagieren viele Linke das Agrarmodell der “unternehmerischen” oder “industrialisierten” Landwirtschaft bis heute als alternativlos. Angesichts der prekären sozialen Arbeitsbedingungen, die mit diesem Modell verbunden sind und seinen massiven Umwelt- und Klimafolgen, wäre es allerdings an der Zeit, sich intensiver mit der Entwicklung und Funktionsweise dieses Produktionssektors zu beschäftigen.
Die Überzeugung, dass nur eine großflächige, spezialisierte, unter hohem Einsatz von externen Inputs und fossilen Brennstoffen produzierende Landwirtschaft auf den Weltagrarmärkten erfolgreich sein könne, wurde auch in den Niederlanden spätestens ab den 1960er Jahren zum Dogma: sowohl in der Politik, als auch in den (stark agrarökonomisch dominierten) Agrarwissenschaften, in den Lehrinhalten der landwirtschaftlichen Fachschulen bis hin zu den (Agrar-)Medien. Auch in der Landwirtschaft selbst fand diese Doktrin viele Fürsprecher:innen. Die ökonomischen Erfolge, die sich rasch einstellten, schienen die Entscheidung für diesen Weg zu bestätigen. Heute sind die Niederlande nach den USA (wertmäßig) der zweitgrößte Agrarproduzent der Welt.
Allerdings weisen die Proteste der Landwirt:innen darauf hin, dass sich die Widersprüche der “industrialisierten” Landwirtschaft (auch)in den Niederlanden gerade rapide zuspitzen. Höchste Zeit also, sich mit den Mechanismen und Dynamiken zu beschäftigen, die zu diesen Widersprüchen geführt haben.
Die kapitalistische Umgestaltung der Landwirtschaft
Bis weit ins 20. Jahrhundert war die Landwirtschaft Sand im Getriebe der kapitalistischen Akkumulation (Auderset, J., Moser, P. 2018: Permanenz des Unbehagens. Epistemischer Wandel und agrarpolitische Re-Regulierung im Zeitalter des Neoliberalismus, 59). Ein entscheidender Grund war und ist die “unauslöschliche Autonomie der Natur” (Mau, S. 2021: Stummer Zwang. Eine marxistische Analyse der ökonomischen Macht im Kapitalismus, 249), mit der man es in der landwirtschaftlichen Produktion zu tun hat: Anbauzyklen lassen sich in der Regel nur schwer verkürzen und äußere Einflüsse wie Wetter, Klima und Krankheiten verursachen plötzliche Unterbrechungen. Hinzu kommt, dass die landwirtschaftliche Produktion räumlich fixiert ist, hohe Investitionen von Kapital in den Boden erfordert, kaum Möglichkeiten für Skaleneffekte bietet und Arbeitsprozesse notwendig macht, die schwer zu überwachen und zu kontrollieren und in vielen Bereichen auch kaum zu rationalisieren sind. Attraktiv für das Kapital wurde die Agrarproduktion daher erst, als sich nach dem Zweiten Weltkrieg diejenigen Produktionsprozesse, die bisher in die bäuerliche Familienökonomie eingebettet waren, in spezialisierte, der bäuerlichen Wirtschaft vor- und nachgelagerte Produktions- und Dienstleistungszweige abspalten liessen. In den vorgelagerten Industrien stieg damit die Kapitalintensität mit der wachsenden Abhängigkeit der bäuerlichen Betriebe von Saatgut, Futtermitteln, Agrarchemie und motorisierter Technologie, während in den nachgelagerten die Ernährungsindustrie die Verwertung der zunehmend als Rohstoff für die Verarbeitung interpretierten Agrarprodukte in einem industriellen Setting vorantrieb (Auderset, Moser, Permanenz des Unbehagens, 59).
Besonders ausgeprägt und weit entwickelt zeigt sich dieses Modell in der Fleischproduktion: Der landwirtschaftliche Betrieb, am Beginn der Wertschöpfungskette, wurde “vertikal integriert”: Er agiert als Subunternehmer für einen Konzern, der den gesamten Produktionsprozess beherrscht. Die Großen der Branche bündeln Schlachtung, Zerlegung, Verpackung und Logistik unter einem Dach. Den Landwirt:innen bieten sie Rundum-Pakete von der Anlieferung des Spermas bis zum Abholen des Schlachtviehs. Sie legen fest, wie viele Tiere aufgezogen werden, welches Futter verwendet wird und zu welchem Preis die Tiere abkauft werden. Aufgrund ihrer Marktmacht können sie gegenüber den Tierproduzent:innen niedrige Preise durchsetzen. Mit der Tierproduktion wird der unprofitabelste Bereich ausgelagert, die Landwirt:in, die kaum Entscheidungsbefugnis über den Produktionsprozess hat und ständig zur Kostensenkung gedrängt wird, trägt die Risiken möglicher Preissteigerungen bei den Rohstoffen (z. B. Futtermitteln). So sind am Anfang der Wertschöpfungskette, in der konventionellen Tiermast, nur noch Betriebe konkurrenzfähig, die in großem Stil und möglichst billig Lebewesen für die Schlachtung produzieren.
Lange Zeit waren die Niederlande, aufbauend auf diesen vertikalen Wertschöpfungsketten, das Schweine- und Milchviehzentrum Europas, wohin Berater:innen, Expert:innen und Landwirt:innen aus anderen EU-Staaten pilgerten. Busweise gab es z. B. Lehrfahrten für deutsche Bäuerinnen und Bauern; es galt von den hochproduktiv wirtschaftenden Nachbarn zu lernen und es ihnen gleichzutun. Höchst beeindruckt zeigte man sich von den Stickstoffmengen, die in Form von mineralischem Dünger und Gülle auf den Wiesen und Äckern ausgebracht wurden. Mit Staunen wurden auch die Ställe begutachtet – so viele Tiere und in Relation dazu so wenig Futterfläche; ein Großvieh-Besatz, der für viele Landwirt:innen außerhalb der Niederlande Neuland war. Bis heute machen Selbstversorgungsgrade von 330% bei Schweinefleisch und von 170% bei Milch den ökonomischen Erfolg dieses Modells sichtbar.
Eine Schlüsselposition im Intensivierungsprozess nahmen (und nehmen) auch in den Niederlanden die Banken ein, allen voran die Rabobank. Entstanden aus einem Verbund lokaler Genossenschaftsbanken (Raiffeisen-Boerenleenbank) ist sie inzwischen zur zweitgrößten Bank der Niederlande herangewachsen; auch international ist sie ein bedeutender Finanzdienstleister der Agrar- und Lebensmittelindustrie. Nach eigenen Angaben finanziert die Rabobank 85 % der niederländischen landwirtschaftlichen Betriebe und hält ca. 40 Milliarden Euro an Krediten im heimischen Agrarsektor. Das Geschäftsgebaren der Bank und ihre Rolle im Intensivierungsprozess wurde weiten Teilen der Öffentlichkeit erst im Zusammenhang mit der Stickstoffkrise bewusst: In verschiedenen niederländischen Zeitungen erschienen Berichte von Landwirt:innen, die beschreiben, wie Vertreter:innen der Bank sie zur Erweiterung ihrer Betriebe drängten oder gar eine Kreditvergabe von der Aufstockung ihrer Viehbestände abhängig machten. Berichte der niederländischen NGO Follow the money belegen, dass die Rabobank im Zuge der Stickstoffkrise massive Lobbyarbeit leistete, um Beschränkungen der intensiven Tierhaltung durch die Politik zu verhindern. Ein Blick in die Bilanzen der landwirtschaftlichen Betriebe liefert den Hintergrund für dieses Verhalten: Parallel zum Wachstum der Ställe, der Tierbestände und der Emissionen wuchs auch die Schuldenlast der Landwirt:innen. Betrugen die Verbindlichkeiten eines durchschnittlichen Milchviehbetriebs im Jahr 2000 noch gut 660.000 Euro, sind es heute bereits über 1,3 Millionen. Nach Schätzungen von Follow the money kassiert die Rabobank allein durch diesen Schuldenberg jedes Jahr Zinseinnahmen in dreistelliger Millionenhöhe.
Die niederländische Regierung sieht nach aktuellem Stand vor, bis zu 17 Milliarden Euro für den Aufkauf der “Spitzenverschmutzer” auszugeben. Das Geld, das die Betriebe erhalten sollen, bliebe allerdings in den seltensten Fällen auf den Konten der Bäuerinnen und Bauern; es würde vielmehr zum größten Teil wieder an die Rabobank gehen, um die ausstehenden Schulden zu begleichen. Der Auskauf der Betriebe zur “Lösung” der Stickstoffkrise bestünde also v. a. in einem Transfer von Steuergeldern an die Rabobank.
Folgen für Umwelt und Gesundheit
Die mit der intensiven Produktion verbundenen Umweltschäden sind seit Jahrzehnten bekannt: In der Nutztierhaltung werden immer noch zu viele Antibiotika verwendet. Die Gülle von Kühen und Schweinen belastet durch Ammoniakemissionen die Luft und kontaminiert in Form von Nitrat Böden und Grundwasser. Im Ackerbau sind durch Monokulturen und den Einsatz von Pestiziden ökologische Wüsten entstanden. Die Biodiversität hat in den letzten 20 Jahren um bis zu 40 % abgenommen.
Auch die Gesundheit von Menschen und Tieren ist betroffen. In der besonders viehreichen Provinz Nordbrabant kam es in der Vergangenheit immer wieder zu Ausbrüchen von Seuchen, bei denen jeweils Millionen von Tieren präventiv getötet werden mussten. 2009 breitete sich das auch für Menschen gefährliche Q-Fieber aus, rund 36.000 Ziegen wurden gekeult,100 Menschen starben, über 1.500 Menschen leiden bis heute an den Folgeschäden.
Dazu ist die Luft in der stark urbanisierten Provinz Nordbrabant so schlecht wie nirgendwo sonst in den Niederlanden. Sie ist doppelt belastet durch die Massentierhaltung sowie durch Verkehr und Industrie. Dadurch ist die Feinstaubkonzentration extrem hoch und durch die Kombination aus primärem[1] und sekundärem[2] Feinstaub besonders gesundheitsschädlich. Die Folge: In Nordbrabant haben überdurchschnittlich viele Menschen Atem- und Lungenprobleme. Das Risiko, an Lungenkrebs zu sterben, Herzkranzgefäßerkrankungen oder die chronische Lungenkrankheit COPD zu bekommen, liegt deutlich höher als im Rest des Landes. Schon vor Jahrzehnten haben sich betroffene Bewohner:innen deshalb zu Bürgerinitiativen zusammengeschlossen.
Effektive Maßnahmen, um die Probleme einigermaßen in den Griff zu bekommen, wurden immer wieder aufgeschoben. Die Regelungsdichte, sowohl von nationalen, als auch EU-Vorschriften, hat seit den 1980er Jahren dennoch kontinuierlich zugenommen. Damit stiegen auch die finanziellen Belastungen der Landwirt:innen, die über bauliche Maßnahmen (Stallneu-/umbauten), Fütterungsvorschriften bis hin zum Erwerb von Emissionsrechten angehalten waren, ihre Produktion laufend anzupassen. Während die Stickstoffbelastung auf diese Weise kaum zurück ging, stieg der Schuldenberg der landwirtschaftlichen Betriebe.
Ökonomische Sachzwänge und epistemische Risse
Aus heutiger Perspektive ist kaum noch vorstellbar, wie radikal und grundlegend die Landwirtschaft ab den 1950er Jahren umgebaut wurde. Die Sozialstruktur der bäuerlichen Familienbetriebe blieb zunächst noch erhalten, bildete aber immer mehr nur noch eine Art Hülle, innerhalb derer sich ein radikaler Wandel weg von der spezifisch bäuerlichen Produktions- und Lebensweise vollzog (Baumann, W., Moser, P. 1999: Bauern im Industriestaat. Agrarpolitische Konzeptionen und bäuerliche Bewegungen in der Schweiz, 426). Zum wichtigsten Triebmittel und zur Grundlage der gewaltig zunehmenden Produktivitätsgewinne (aber auch der ökologischen Zerstörungen) wurde – gut 150 Jahre nach Beginn der thermoindustriellen Revolution – die fossile Energie: “Das Fundament des bäuerlichen Familienbetriebs bestand fortan, bildlich gesprochen, aus Erdölfässern.” (Ebd.) Diese Ausweitung der Ressourcengrundlage machte eine weitgehende (wenn auch keine vollständige) Angleichung der Agrarproduktion an industrielle Herstellungsweisen möglich, wobei “Prozesse der Motorisierung, Chemisierung, Hybridisierung, Patentierung und Künstlichen Besamung” nicht nur die Enteignung der Produzent:innen von ihren Re-Produktionsmitteln beschleunigten, sondern auch die reelle Subsumtion der landwirtschaftlichen Natur (Pflanzen, Tiere) vorantrieben (Mau, Stummer Zwang, 261).
In diesem Agrarmodell entstanden hoch spezialisierte Betriebe, die sowohl stark mit agrarindustriellen Unternehmen des vor- und nachgelagerten Bereichs, als auch mit Banken verflochten und zugleich hochgradig von ihnen abhängig waren. Diese Betriebsform wurde über Jahrzehnte als beste (wenn nicht einzige) Möglichkeit propagiert, um auf dem Weltmarkt erfolgreich zu sein. In der Praxis erwiesen sich jedoch gerade diese spezialisierten und integrierten Betriebe als äußerst anfällig für die auf den Agrarmärkten herrschenden Preisschwankungen. So sahen sich viele von ihnen bald mit niedrigen oder sogar negativen Einkommen konfrontiert. Die in der Vergangenheit, auch durch Agrarberater:innen und Banken forcierten Entscheidungen und eingegangenen Verpflichtungen, führten viele Betriebe in ökonomische Pfadabhängigkeiten, die es ihnen immer schwerer machte, die Richtung zu ändern.
Von staatlicher Seite wurde dieses System, trotz der wachsenden Widersprüche (Überproduktion, Umweltschäden), mit öffentlichen Subventionen und technischer Unterstützung gefördert und am Leben erhalten: Um die volkswirtschaftliche Konsumfunktion des Agrarsektors (z. B. Einkauf von Dünge-, Futtermitteln, Nachfrage nach Krediten) zu stabilisieren und gleichzeitig die Produzentenpreise sowohl für die verarbeitenden inländischen Industrien (z. B. Schlachtbetriebe), als auch für die Lohnabhängigen niedrig zu halten, “wurde das wegen den relativ bescheidenen Einkommen fehlende Kapital durch staatliche Transferzahlungen in Form von Direktzahlungen zugehalten.” (Auderset, Moser, Unbehagen, 59 – 60). Subventionen und Direktzahlungen sind also weder “Almosen noch Geschenke, die eine vermeintlich erfolgreiche Agrarlobby dem Steuerzahler abpresst (…). Vielmehr handelt sich dabei um Massnahmen zur Modellierung des Agrarischen am Industriellen und zur Integration der kontinuierlich schrumpfenden Land-Wirtschaft in die industriekapitalistische Wachstumswirtschaft.” (Ebd., 60)
Die mit diesem Modell verbundenen ökonomischen Sachzwänge und staatlich flankierten Pfadabhängigkeiten sind einer der Gründe dafür, warum sich viele Landwirt:innen (nicht nur) in den Niederlanden so vehement gegen Umweltauflagen wehren, anstatt das System als Ganzes in Frage zu stellen, obwohl es nicht nur die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt schädigt, sondern letztlich auch das Überleben ihrer Betriebe bedroht.
Es soll an dieser Stelle noch ein weiterer Grund genannt werden, der zeigt, dass sich der Prozess der Agrarmodernisierung nicht nur auf die ökonomische und staatliche Ebene reduzieren lässt. Mit der zunehmenden Dominanz der neoklassisch inspirierten Agrarökonomie ab den 1960er Jahren wurden die “besonderen Merkmale» des Agrarischen – die Arbeit mit Sonnen-, statt fossiler Energie, die Nutzung biotischer Ressourcen (Pflanzen, Tiere), die sich aufgrund ihrer Eigenlogiken und Eigenzeiten einer vollständigen industriekapitalistischen Verwertung entziehen – von “epistemischen Homogenisierungs- und Hierarchisierungsprozessen verdrängt”. Dabei wurde die Ausweitung der Ressourcengrundlage auf fossile Energieträger im “agrarökonomischen Wissensregime” nur selten als das thematisiert, was sie auf der Ebene der Stoffflüsse effektiv war: die Substitution biotischer durch mineralische Ressourcen. Stattdessen wurde dieser Prozess im neoklassischen Denkgebäude einfach als Ersetzung von Arbeit durch Kapital gedeutet. Die Landwirtschaft, so die herrschende Ansicht, holte nun endlich jenen Prozess nach, der in der Industrie schon mit der thermoindustriellen Revolution eingesetzt hatte. (Auderset, Moser, Unbehagen, 43)
Der bereits von Marx identifizierte “Stoffwechselriss“ in den Ressourcengrundlagen wurde in der Nachkriegszeit also von einem “epistemischen Riss” im Nachdenken und Sprechen über das Agrarische begleitet: “In separating agriculture from its natural foundations, the metabolic rift informs the episteme through which we analyse the value relations organise agriculture, and it comes to be understood in these terms. (…) We are constrained to ’see like capital‛, our understanding of the processes and consequences of agro-industrialisation being governed by its application of the economic calculus to environmental relations.” (McMichael 2009, 162, zit. nach Auderset, Moser, Unbehagen, 43) In den Denkwelten der Agrarökonomie und in der darauf aufbauenden Agrarpolitik wurde es nun möglich, die bäuerliche Landwirtschaft und die Ökologie als voneinander getrennte monofunktionale Bereiche der Waren- und Güterherstellung auf der einen und der Landschaftsgestaltung und -erhaltung sowie der Produktion von Biodiversität auf der anderen Seite zu denken und beide neoliberalen Effizienz- und Wachstumsimperativen zu unterstellen (ebd.).
Es ist dieses Denkmodell, das auch den Maßnahmen zugrunde liegt, die die niederländische Regierung nun zur “Lösung” der Krise vorschlägt: Anstatt die landwirtschaftliche Produktion insgesamt zu ökologisieren, werden mit Hilfe der erzwungenen Betriebsaufgaben “ökologische Ausgleichsflächen” geschaffen, die vollständig aus der Produktion genommen werden sollen. Die Kehrseite dieser “Ausgleichsflächen” besteht in einer Auslagerung der ökologischen Schäden durch eine Ausdehnung der Importe sowie in sozialer Hinsicht einem intensivierten Strukturwandel (Rückgang der Betriebe, weitere Intensivierung der Produktion auf den verbleibenden Flächen). Weder die mit der “Stickstoffkrise” verbundenen sozialen, noch die ökologischen Probleme werden sich mit diesem Denkansatz und der daraus folgenden Politik also lösen lassen. Im Gegenteil; eine weitere Zuspitzung der Widersprüche und eine Intensivierung der Proteste sind vorprogrammiert.
Um ein “neues” Agrarmodell zu entwickeln, ist also zunächst ein umfassendes Verständnis der mit der kapitalistischen Agrarmodernisierung verbundenen Sackgassen und Widersprüche notwendig. Damit liesse sich der labor turn in der Klimagerechtigkeitsbewegung auch für den Bereich der Landwirtschaft vorantreiben. Gleichzeitig könnte vielleicht auch das Verständnis für einen eco turn (über alternative Agrarbewegungen hinaus) unter Landwirt:innen gefördert werden.
Eine Auseinandersetzung mit der alles andere als linear verlaufenden Geschichte der Agrarmodernisierung lohnt sich. Denn die bäuerliche Landwirtschaft, die sich grundlegend von der “unternehmerischen» Landwirtschaft unterscheidet, existiert trotz aller “Modernisierungsbestrebungen” immer noch. Es ist diese Produktionsweise mit ihren lange verdrängten und unsichtbar gemachten Eigenheiten, die wichtige Anhaltspunkte dafür liefert, wie sich ein “vernünftiger Stoffwechsel von Mensch und Natur“ organisieren liesse.
Ein über “klassische” (“industrielle”) Lohnarbeitsverhältnisse hinausgehendes Verständnis von “Arbeit“ und eine Erweiterung des Subsumtionsbegriffs auf das Verhältnis zwischen Kapital und Natur (Mau, Stummer Zwang, 249f), würde darüber hinaus nicht nur bäuerliche Proteste – in ihrer ganzen politischen Vielfalt – als Arbeitskämpfe sichtbar machen. Es liesse sich, wie Søren Mau ausführt, auch zeigen, dass und wie das Kapital, wenn es sich Arbeit und Natur in der Landwirtschaft aneignet und sie reell subsumiert, in erheblicher Weise seinen Zugriff auf die gesellschaftliche Reproduktion festigen kann (ebd., 266). Unabhängig davon, wie gering ihr prozentualer Anteil am Bruttoinlandsprodukt oder ein wie geringer Anteil der gesamten gesellschaftlichen Arbeit für sie erforderlich ist – auch dies waren bis jetzt Gründe, die Landwirtschaft “von links” weitgehend zu ignorieren – ; die landwirtschaftliche Produktion bleibt der Sektor, in dem die grundlegendsten für das Leben notwendigen Güter produziert werden. Sie ist nichts weniger als ein notwendiger Bestandteil des Stoffwechsels zwischen menschlichen Gesellschaften und der Natur. Und deshalb viel zu wichtig, als sie der Macht und dem Zugriff des Kapitals zu überlassen.
Referenzen & Anmerkungen
Der Artikel wurde im November 2023 bei der Berliner Gazette erstveröffentlicht.
Bildquelle: Colnate Group, 2023 (cc by nc)
[1] Feinstaub, der durch Dieselautos und Abrieb von Autoreifen produziert wird.
[2] Wird auch als chemischer Feinstaub bezeichnet. Er entsteht, wenn die Ammoniakemissionen der Gülle in der Luft mit den Stickstoffoxiden des Verkehrs reagieren.