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Warum die Ukraine ihren Status als wichtiges Agrarexportland verlieren könnte
Der russische Angriffskrieg hat seit dem Februar 2022 11’544 zivile Todesopfer gefordert und verursacht kostspielige Schäden an der essentiellen Infrastruktur der Ukraine. Mit der Kontamination der Böden durch Minen und Sprengkörper gefährdet die russische Invasion auch die Landwirtschaft der Ukraine nachhaltig. Die Ukraine könnte wirtschaftlich noch weiter geschwächt werden und in eine Abhängigkeitsspirale geraten.
Nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums haben die russischen Angreifer allein letztes Jahr täglich zwischen 40’000 und 50’000 Artilleriegeschosse eingesetzt. Dazu kommen zahlreiche Raketenangriffe, der massive Einsatz von Minen und Kleinwaffen. Vladyslav Dudar, Offizier der Hauptdirektion für Minenräumung, Zivilschutz und Umweltsicherheit im ukrainischen Verteidigungsministerium, bereitet dabei vor allem die chemische Zusammensetzung der Munition Sorgen: Sprengstoffmischungen enthalten immer auch TNT und Hexogen. Bei der Explosion einer einzigen 115-mm-Splittermunition mit Hexogen entstehen etwa 4’000 Liter Gas, das die Verbrennungsprodukte dieses Sprengstoffs enthält. Die meisten davon, insbesondere Schwermetalle (Blei, Kupfer, Arsen, Zink usw.), setzen sich im Boden ab. Darauf weist auch der Bericht The Impact of Russia’s War Against Ukraine on the State of the Country’s Soil der Umwelt-NGO Ecoaction hin. Zwar hätten in den USA durchgeführte Studien gezeigt, dass bei explodierender Munition 99 % des Sprengstoffs verbrennen und nur 1 % der Rückstände in den Boden gelangen; diese Zahlen würden jedoch nur für neue Munition gelten. Da Russland Munition einsetzt, die vor mehr als 30 Jahren hergestellt wurde, explodieren bis zu 40 % der Sprengkörper entweder gar nicht oder ihre explosiven Gemische brennen nicht vollständig ab und gelangen in die Umwelt.
Vladyslav Dudar fordert daher, dass in der Ukraine so schnell wie möglich mit Bodenuntersuchungen begonnen werden sollte. Derzeit verfügt die Ukraine jedoch über keine Labore, die die entsprechenden Analysen durchführen können, so dass sie auf die Hilfe ausländischer Partner angewiesen ist. Das Hauptproblem aber ist: Bodenproben können derzeit nur in Gebieten entnommen werden, die bereits entmint wurden. Da die Ukraine aktuell das am stärksten verminte Land der Welt ist, ist also erst eine gewaltige Anstrengung zur Entminung zu unternehmen, bevor mit den Untersuchungen begonnen werden kann. Allein einen Bauernhof mit umliegendem Land zu säubern, kann ohne Weiteres mehrere Monate in Anspruch nehmen.
Geht es mit der Entminung im derzeitigen Tempo voran, dürfte es über 750 Jahre dauern, um das Gebiet der Ukraine vollständig zu säubern. So die Berechnungen der slowakischen Nichtregierungsorganisation GLOBSEC, die im Juli von der Washington Post veröffentlicht wurden. Dabei führt die Minenräumung selbst zu weiteren Umweltproblemen: Ecoaction hält in ihrem Bericht fest, dass die Detonationen bei der Minenräumung den Boden mit Metallfragmenten und Sprengstoffrückständen kontaminieren. Dadurch werde die organische Substanz des Bodens sowie seine physikalischen und chemischen Eigenschaften beeinträchtigt.
Die Weltbank schätzt, dass die Kosten für die Entminung eines Quadratmeters in der Ukraine bis zu 8 Dollar betragen könnten. Nach solchen Prognosen wird die Ukraine allein in den nächsten zehn Jahren mehr als 37 Milliarden Dollar für Entminungsprogramme benötigen. Dazu kommen die hohen Kosten für Massnahmen zur Wiederherstellung der Bodenfruchtbarkeit.
Besonders betroffen ist die Landwirtschaft, einer der wichtigsten Wirtschaftssektoren des Landes. Um ihre Betriebe vor dem wirtschaftlichen Ruin zu bewahren, haben viele Bauern – entgegen allen Warnungen – auch in kontaminierten Gebieten wieder mit der Bewirtschaftung ihres Bodens begonnen. In stark verminten Regionen wie Cherson haben Landwirte bei der diesjährigen Ernte auf Sichtkontrollen und die Ausstattung der Traktoren mit Panzerplatten zurückgegriffen. Oleksiy Vasylyuk von der Ukrainian Nature Conservation Group berichtet, es gäbe trotzdem ständig Meldungen, dass Traktorfahrer oder Mähdrescher Minen auslösen oder dass Granaten während der landwirtschaftlichen Arbeit detonieren. Dass die landwirtschaftliche Produktion in vielen vom Krieg stark belasteten Regionen einfach weiterlaufe, sieht er kritisch, denn so könnten Produkte von zweifelhafter Qualität auf den Markt gelangen. Die Regierung, so seine Forderung, sollte die landwirtschaftliche Nutzung der entsprechenden Gebiete daher so lange verbieten, bis der Boden entmint, untersucht und Dekontaminierungsmassnahmen eingeleitet wurden. Andernfalls drohe die Gefahr, dass die Ukraine ihren wirtschaftlich überlebenswichtigen Zugang zu den globalen Agrarmärkten verliert.
Wieder einmal zeigt sich, wie zerstörerisch der russische Angriffskrieg ist. Denn der lange Schatten der russischen Invasion wird die Ukrainer:innen auch noch in Friedenszeiten verfolgen. Schadstoffeinwirkungen durch Minen und Sprengkörper, sowohl direkt als auch indirekt durch die Räumungsarbeiten, werden den Boden der Ukraine noch auf sehr lange Zeit kontaminieren und schädigen. Die Landwirtschaft der Ukraine trug vor dem russischen Überfall 10,63% zum ukrainischen BIP bei und das Land exportierte bei einzelnen Kulturen einen sehr grossen Anteil der weltweiten Agrarexporte (die Ukraine war weltgrösster Exporteur von Sonnenblumenöl, viertgrösster Exporteur von Mais und siebtgrösster Exporteur von Soja und Weizen. Was den Weizen angeht, sorgte das Land bisher für 15 Prozent der weltweiten Exporte, mit Russland gemeinsam ist es knapp ein Drittel). Durch die Kriegsfolgen droht ein Kernsektor der Ukraine massiv beschädigt zu werden und viele Ukrainer:innen werden ihre Existenzgrundlage verlieren. Die Ukraine dürfte daher in weitere Abhängigkeiten von anderen Staaten sowie multinationalen Banken und Kreditanstalten geraten. Der russische Angriffskrieg ist also auch ein Angriff auf die wirtschaftliche Souveränität der Ukraine. Mit Fortdauer des Krieges werden sich die Folgen für die ukrainische Bevölkerung nur verstärken. Gleichzeitig läuft die Ukraine ohne eine Fortsetzung des bewaffneten Widerstandes Gefahr, dass sie ihre politische Souveränität verliert. Daher muss das Regime um Wladimir Putin seine Kampfhandlungen sofort einstellen und alle russischen Truppen, auch aus den vier besetzten ukrainischen Oblasten, bedingungslos abziehen. Doch auch der Westen ist in der Pflicht: Es ist unerlässlich, dass die Schulden der Ukraine gestrichen und mehr Hilfeleistungen bereitstellt werden. Emanzipatorische Kräfte sollten sich für eine solidarische, sozialökologische Wiederaufbauperspektive des Landes einsetzen.
Der Artikel beruht auf einem Beitrag der ukrainischen gemeinnützigen Organisation hromadske, einer seit 2013 tätigen unabhängigen Plattform für kritischen Journalismus. (Übersetzung und Bearbeitung: Eva Gelinsky). Der Artikel ist bereits auf sozialismus.ch erschienen.