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Am 28. Juni erschien auf der Webseite von Labour Hub, einer Webseite, die einer radikalen und sozialistischen Ausrichtung einer künftigen Labour Regierung im Vereinigten Königreich verpflichtet ist, ein Artikel des renommierten linken Politikwissenschafters Gilbert Achcar zu den radikal gegensätzlichen Positionen der britischen Linken zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine [1]. Achcar versucht in dem Artikel die Fehler und Schwachpunkte beider Positionen zu kritisieren, um dann anschließend seine Positionen, die dem eines konsistenten Antiimperialismus entsprächen, gegenüberzustellen. Es lohnt sich, Achcars Darstellung der gegensätzlichen Positionen der britischen Linken zu folgen, da sie auch ihre kontinentaleuropäischen Entsprechungen – nicht zuletzt im deutschsprachigen Raum – haben. Entsprechend hat sich emanzipation entschlossen, den Text zu veröffentlichen. Doch nicht alle Mitglieder der Redaktion stimmen dem Text in seiner Analyse und seinen Schlussfolgerungen gänzlich zu. Warum? Das argumentiert Christian Promitzer im Anschluss an Achcars Text. Gilbert Achcar antwortet auf Christian Promitzers Kritik. Er verdeutlicht einige seiner Positionen und Argumente.(Red.)
Der Untergang der Sowjetunion und das Ende des Kalten Krieges bereiteten dem “Campismus”, dem Lagerdenken, das bis dahin für einen Großteil der internationalen Linken und der Arbeiterbewegung typisch war, beinahe ein Ende. Der englische Begriff “Campism“ war während des Kalten Krieges geprägt worden, um die systematische Ausrichtung der Elemente dieses Spektrums entweder nach Washington oder nach Moskau zu bezeichnen. Während es immer noch politische Gruppen gibt, die sich grundsätzlich hinter Kuba oder (im Fall unverbesserlicher Stalinist:innen, deren Verbundenheit mit der Sowjetunion sich in eine Verbundenheit mit allem verwandelt hat, was russisch ist) sogar hinter Putin-Russland stellen, ist ein neues Phänomen aufgekommen, das des Neo-Campismus. Dieses Phänomen erfuhr durch die unter eklatanter Verletzung des Völkerrechts betriebene, von den USA angeführte Besetzung des Irak gewaltigen Auftrieb. Dieser bei weitem unpopulärste US-Krieg seit Vietnam löste in der ganzen Welt einen heftigen Aufschrei aus und gab der antiimperialistischen Gegnerschaft zur US-Regierung einen kräftigen neuen Impuls.
Im Neo-Campismus wurde die systematische Ausrichtung an Moskau durch eine reflexartige Positionierung gegen Washington ersetzt, eine Haltung, die die starke Neigung mit sich bringt, nach der Logik “Der Feind meines Feindes ist mein Freund” zu handeln und somit Regierungen und Kräfte, die sich in (militärischer oder anderer) Opposition zu den Vereinigten Staaten befinden, kaum noch zu kritisieren. Eine solche Haltung wurde 2011 gegenüber Libyens Gaddafi an den Tag gelegt (wenngleich dieser seit 2004 mit Washington zusammengearbeitet hatte), danach gegenüber Syriens Assad und Putins Russland, dies insbesondere seit der Annexion der Krim und der Einmischung im ukrainischen Donbass 2014, gefolgt von der massiven Intervention in den Krieg in Syrien ab 2015.
Eine grobe Illustration dieses Neo-Campismus ist eine Konferenz, die im Januar 2022 – nach mehreren Monaten der Verlegung russischer Truppen an die Grenzen der Ukraine und weniger als zwei Monate vor deren Einmarsch – unter dem Slogan “Hände weg von Russland und China” in Deutschland organisiert wurde.
Der russische Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 hatte jedoch eine ähnliche unmittelbare Wirkung wie die US-Invasion im Irak 2003. Er löste im Globalen Norden, wo es seit 1945 keinen solch großen Krieg mehr gegeben hatte, breite Empörung aus. Die aus dem Kalten Krieg übernommene Parteinahme für den Westen wurde in einem Teil der Linken (der Linken im breiten Sinn) wiederbelebt: an der NATO ausgerichteter Atlantizismus bei Sozialdemokraten und insbesondere den Grünen sowie in Teilen der Arbeiterbewegung.
Die russische Invasion förderte desgleichen eine entgegengesetzte Version von Neo-Campismus, die sich dadurch auszeichnet, dass das Putin-Regime (und in zunehmendem Maße auch die chinesische Regierung) als die größte Gefahr wahrgenommen wird, mit der damit einhergehenden Tendenz, gegenüber dem Vorgehen der westlichen Mächte gegen Russland in der Ukraine (oder gegen China in der Taiwan-Frage) eine nachgiebige Haltung zu beziehen bzw. sie kaum zu kritisieren.
Großbritannien bietet ein gutes Beispiel für die neue Polarisierung, die es in den Reihen der Linken und der Arbeiterbewegung zwischen den beiden Arten des Neo-Campismus gibt, dem anti-westlichen und dem anti-russischen. Die meisten Anhänger:innen des gegen die NATO positionierten Neo-Campismus in Großbritannien sind in der [2001 im Gefolge des 11. Septembers gegründeten] Stop the War Coalition (StWC) aktiv. Seit Februar 2022 hat diese Koalition Lippenbekenntnisse für die Sache der Ukraine abgegeben, die russische Invasion lauwarm verurteilt und den Rückzug der russischen Truppen dorthin gefordert, wo sie sich vor dem Überfall befanden, ohne jedoch irgendetwas in dieser Richtung zu unternehmen.
Zur gleichen Zeit hat sie den größten Teil ihrer Bemühungen darauf verwendet, die Einstellung der Waffenlieferungen Großbritanniens und anderer NATO-Staaten an die Ukraine zu fordern, mit dem Argument, der Krieg in der Ukraine sei ein Stellvertreterkrieg zwischen zwei imperialistischen Lagern. Indem sie sich ausschließlich auf eine Dimension des laufenden Krieges konzentrierte und die Eigenverantwortung der Ukrainer für die Verteidigung ihres Volkes und ihres Territoriums herunterspielte, wenn nicht gar gänzlich leugnete, konnte die StWC ihre Neigung zum Neo-Campismus als Ablehnung beider Lager bemänteln. Dies führte zu der äußerst widersprüchlichen Haltung, einerseits die Ablehnung der russischen Invasion zu proklamieren und andererseits den Ukrainern das Recht abzusprechen, sich die Waffen zu beschaffen, die sie für den Widerstand gegen eben diese Invasion benötigen.
Ein aktuelles Beispiel für diese Inkonsequenz ist der Antrag von Mitgliedern der Stop-the-War Coalition auf dem Gewerkschaftstag der University and College Union (UCU) Ende Mai. Der Antrag wurde mit einer knappen Mehrheit von neun Delegierten (mit 130 Für- und 121 Gegenstimmen bei 37 Enthaltungen) angenommen. Unter dem Titel “Stop the war in Ukraine – Peace Now” zieht der Antrag alle Register. Er kombiniert vorbehaltlosen Pazifismus (“Kriege werden von den Armen und Arbeitslosen eines Landes geführt, die die Armen und Arbeitslosen eines anderen Landes töten und verstümmeln”) mit der unbeholfenen Untertreibung, dass “die NATO keine fortschrittliche Kraft ist”, und fordert die Gewerkschaft auf, “sich mit den einfachen Ukrainern zu solidarisieren und einen sofortigen Rückzug der russischen Truppen zu fordern”, um dann in einer “Aufforderung an Russland“ zu gipfeln, „seine Truppen zurückzuziehen, und an die [britische] Regierung, die Bewaffnung der Ukraine einzustellen”, als ob Russlands Überfall auf die Ukraine und die britischen Waffenlieferungen an die Ukraine gleichermaßen verwerflich wären.
Für die Stop-the-War Coalition ist die “Alternative” zum Widerstand der Ukraine gegen die russische Invasion ein “Waffenstillstand und Friedensgespräche”. Um mehr Rücksicht auf die ukrainische Bevölkerung zu demonstrieren hielt es eine der Hauptkomponenten der Koalition für nötig, eine andere Alternative zu formulieren. Sie sprach sich für eine Kombination von vier Elementen aus: “Russlands Antikriegsbewegung, Meuterei im Militär, ukrainischer Widerstand von unten, Antikriegs-Agitation in den NATO-Ländern”. Vielleicht hätten die Ukrainer Russland erst in ihr Land einmarschieren lassen sollen, um einen “Widerstand von unten” zu leisten (was in diesem Zusammenhang gezwungermaßen “im Untergrund” bedeutet), und auf eine Neuauflage der russischen Revolution von 1917 zu setzen. Eine solche Fantasie ist aber in der Tat ziemlich ineffektiv, wenn es darum geht, eklatante Widersprüche zu kaschieren.
Am anderen Ende des linken Spektrums haben zentrale Teile der britischen Arbeiter:innenbewegung den Atlantizismus aus den Zeiten des Kalten Krieges wiederbelebt, der für die Labour Party charakteristisch war und den die Parteiführung um Keir Starmer bis zum Punkt der Identifikation mit der Großmäuligkeit der Tories getrieben hat. Der Trades Union Congress (TUC) hat beispielsweise auf seinem letzten Gewerkschaftstag im Oktober des vergangenen Jahres einen die Ukraine betreffenden Antrag mit dem Titel “Wirtschaftliche Erholung und Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe” angenommen. Wie der Titel bereits anzeigt, entspringt der Antrag eher engen branchenspezifischen Sorgen um Arbeitsplätze als einer internationalistischen Solidarität mit den Ukrainern. Er rühmt die Rüstungsindustrie als “unverzichtbar”, bedauert, dass diese in den letzten Jahren verkleinert wurde, und beteuert, dass “Kürzungen in der Rüstungsproduktion die Fähigkeit des Vereinigten Königreichs eingeschränkt haben, dem von Putins Regime brutal angegriffenen ukrainischen Volk zu helfen”. Mit der Behauptung, dass “die Welt immer unsicherer wird”, unterstützt der Antrag “Kampagnen für die sofortige Erhöhung der Verteidigungsausgaben im Vereinigten Königreich”.
Die wichtigste Gewerkschaft im britischen militärisch-industriellen Komplex, die GMB [Abk. für General, Municipal, Boilermakers’ and Allied Trade Union], ist die wichtigste Verfechterin dieser Linie. Sie hatte im vergangenen September Rishi Sunak, damals noch Schatzkanzler der Johnson-Regierung, aufgefordert, “die Verteidigungsausgaben massiv zu erhöhen”. Auf ihrem jüngsten Gewerkschaftskongress Anfang Juni verabschiedete die GMB einen Antrag, in dem sie das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung verteidigte und Widerstand gegen Waffenlieferungen der britischen Regierung, wie ihn die Stop-the-War Coalition befürwortet, zurückwies:
“Der Kongress ist der Auffassung, dass die Behauptungen, eine solche Reaktion der britischen Regierung käme einer Kriegstreiberei gleich, würde den Krieg verlängern oder die Eskalation eines Krieges mit Russland riskieren, in Wirklichkeit Hintertürchen sind, um die Ukraine sich selbst überlassen zu können und die erzwungene Annexion großer Teile ihres Territoriums in Kauf zu nehmen. Dass diese Behauptungen mit dem Ruf nach Friedensgesprächen bemäntelt werden, ändert nichts an der Tatsache, dass die Politik, für die jene stehen, in Wirklichkeit eine Duldung des russischen Angriffs darstellt und eine Beschwichtigung ist.”
Der GMB-Antrag beschränkt sich indessen nicht darauf, die Bereitstellung von Mitteln zur Selbstverteidigung für die Ukraine zu befürworten. Er fährt fort:
“Die Ukraine hat auch das volle Recht, den Import der modernsten und technologisch höchstentwickelten Waffensysteme aus aller Welt anzustreben, um sich gegen die Angriffe zu wehren und ihr Territorium zurückzuerobern. Der Kongress ist der Ansicht, dass die Regierungen des Vereinigten Königreichs und anderer Länder mit einer hoch entwickelten Rüstungsindustrie verpflichtet sind, auf die Anfrage nach Waffen, die die Ukraine braucht, um sich zu verteidigen, positiv zu reagieren.”
Dies heißt nichts anderes, als für quantitativ und qualitativ unbegrenzte Waffenlieferungen einzutreten, die das ukrainische Militär in die Lage versetzen würden, den Krieg zu eskalieren und damit die Risiken für die ukrainische Bevölkerung sowie für die ganze Welt zu erhöhen. In dem GMB-Antrag heißt es weiter, dass “das Fundament der nationalen Sicherheits- und Verteidigungspolitik des Vereinigten Königreichs nach wie vor die Nordatlantikpakt-Organisation (NATO) ist, die nach dem Zweiten Weltkrieg von der Labour-Regierung gegründet wurde”. Folgerichtig kommt der Antrag zu dem Schluss, dass es “zu gut ausgebildeten und gut ausgerüsteten britischen Streitkräften als Teil der NATO … keine Alternative” gibt. “Schritte zur Diversifizierung von Arbeitsplätzen weg von der Rüstungsproduktion” werden abgelehnt, weil sie “unsere lebenswichtige nationale Sicherheit und Verteidigung untergraben”. Die legitime Sache der Ukraine wird mithin benutzt, um eine im Grunde durch und durch NATO-freundliche, militaristische Haltung zu rechtfertigen.
Der Ukraine-Krieg hat einige Anti-Putin-Aktivist:innen in der britischen radikalen Linken dazu gebracht, dass sie solchen rechten Positionen nicht energisch entgegentreten. Da sie in der Ukraine-Solidaritätsarbeit engagiert sind und somit in engem Kontakt mit ukrainischen Gewerkschaftern und Sozialist:innen stehen, neigen sie dazu, die maximalistische Perspektive zu übernehmen, die in der ukrainischen Bevölkerung verständlicherweise vorherrscht. Sie nehmen daher Abstand von Stellungnahmen und Aktivitäten wie z.B. der Opposition gegen die Kriegstreiberei der britischen Regierung und die weitere Erhöhung der Militärausgaben in einem Land, das im Jahr 2021 bei den weltweiten Ausgaben auf Platz drei lag.
Paul Mason ist hierfür wohl das prominenteste Beispiel. Mason geht sogar so weit, zur Unterstützung von “erhöhten Verteidigungsausgaben, anhaltender Unterstützung von Waffenlieferungen an die Ukraine, einer gestärkten NATO und nuklearer Abschreckung” aufzurufen, all dies unter dem Deckmantel der Ablehnung von “Campismus”, der hier so definiert wird, dass er nur auf Anti-NATO-Positionen zutrifft.
Der Anti-Putin-Neo-Campismus veranlasst viele Unterstützer:innen der ukrainischen Sache dazu, sich von Forderungen nach einem Waffenstillstand (der nicht bedingungslos sein muss) und Friedensverhandlungen fernzuhalten, in dem Glauben, dass die Zeit für die Ukraine arbeitet. Damit ermöglichen sie es der Gegenseite, sich als alleinige Verfechter:in von Antikriegspositionen und pazifistischen Werten darzustellen, wie der oben erwähnte UCU-Antrag zeigt. Die Unterstützer:innen der Ukraine neigen auch oft dazu, gedankenlos Thesen der NATO zu wiederholen, die in der Ausweitung ihres Aktionsfelds zusätzlich zu Russland immer mehr auch China ins Visier nimmt, indem sie eine angebliche Ähnlichkeit zwischen den Fällen Ukraine und Taiwan betonen – statt den russischen Angriff mit anderen Fällen zu vergleichen, in denen es tatsächlich Invasion und Besetzung gab bzw. gibt, etwa in Vietnam oder Palästina.
Die Linke muss die Fallstricke vermeiden, die diese spiegelbildlichen campistischen und neo-campistischen Haltungen mit sich bringen. Eine konsequente antiimperialistische Haltung zur Ukraine ist eine, die die folgenden Positionen und Forderungen zusammenführt:
1. Opposition gegen die russische Aggression und Verurteilung der anhaltenden verbrecherischen Angriffe;
2. Unterstützung des legitimen Rechts der Ukraine auf Selbstverteidigung und ihrer Fähigkeit, Mittel zu ihrer Verteidigung zu erwerben, aus welcher Quelle sie auch stammen;
3. Sofortiger und bedingungsloser Rückzug der russischen Truppen aus dem Gebiet, in das sie seit Februar 2022 eingedrungen sind;
4. Ablehnung kriegstreiberischer Forderungen nach einer Eskalation des Krieges auf russisches Gebiet, die die Welt und die Menschen in der Ukraine in große Gefahr bringen würde;
5. Für Friedensverhandlungen unter der Schirmherrschaft der UNO auf der Grundlage der Prinzipien der UN-Charta;
6. Für eine friedliche, demokratische Beilegung des Streits um die Krim und die in den Minsker Vereinbarungen von 2015 genannten Teile des Donbass durch von den Vereinten Nationen organisierte Referenden für die Selbstbestimmung der Bevölkerung, die vor der Invasion dort lebte, unter dem Schutz von UN-Truppen;
7. Gegen die NATO-Erweiterung und für die Ersetzung der NATO und anderer Militärbündnisse durch kollektive Sicherheitsorganisationen wie die OSZE und die UNO;
8. Ablehnung aller Erhöhungen der Militärausgaben und fortgesetzte Unterstützung für eine drastische Senkung der Rüstungsausgaben weltweit;
9. Unterstützung der Arbeiter:innenorganisationen und der progressiven Gruppen der Ukraine gegen ihre rechtsgerichtete Regierung;
10. Unterstützung der russischen Antikriegsbewegung und der demokratischen Opposition gegen das Putin-Regime.
Die Fallstricke falscher Konzessionen
Ein Begleittext zum Text von Gilbert Achcar von Christian Promitzer
Achcar bezichtigt die beiden skizzierten gegensätzlichen Positionen eines „Neo-Campismus“ – also einmal eines antiwestlichen Lagerdenkens, das ein Kleinreden der russischen Aggression mit sich bringe, und das andere Mal eines „atlantizistischen“ anti-russischen Lagerdenkens, das den westlichen Imperialismus verharmlose.
Es dürfte an dieser Stelle nicht notwendig sein zu erklären, dass emanzipation – Zeitschrift für ökosozialistische Strategie einerseits einem Lagerdenken solcher Form fernsteht und andererseits den von Achcar ausgesprochenen Grundsatz der „Unterstützung des legitimen Rechts der Ukraine auf Selbstverteidigung und ihrer Fähigkeit, Mittel zu ihrer Verteidigung zu erwerben, aus welcher Quelle sie auch stammen“ vollkommen teilt. Dennoch sind einige Punkte anzusprechen, die eine andere Sichtweise auf den Angriff auf die Ukraine und die Reaktionen der Linken nahelegen können, als sie Achcar im Auge hat:
1.Ist es nicht allzu sehr zugespitzt und problematisch, nur zwei gegensätzliche Positionen herauszugreifen, beide als „neo-campistisch“ zu bezeichnen, gegenüber denen Achcar dann – quasi als Aufhebung in der Synthese – die eigene Position als einzig mögliche präsentiert, die dazu noch einem „konsequenten Antiimperialismus“ verpflichtet ist? – „Antiimperialismus“: Das Ende das kurzen 20. Jahrhunderts hat uns gelehrt, dass Begriffe ihrer Zeit verhaftet sind und zu Leerformeln werden können, wenn sie nicht mit Inhalten gefüllt werden können. Selbst die weiterhin sichere Bezeichnung der USA als imperialistisch macht uns gerade auch im Hinblick auf den von der Russischen Föderation ausgehenden Angriff noch nicht klüger, sondern würde vielmehr nahelegen, sich – so wie im Falle westlicher Kolonialmächte – auch im Hinblick auf das Gebiet der früheren Sowjetunion, die Nachfolgerin des Russischen Zarenreichs war, mit Postkolonialismus und postkolonialen internationalen Beziehungen (so wie jenen zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine) auseinanderzusetzen. Auch ein kritischer Blick auf die von der Volksrepublik China betriebenen internationalen Politik würde den Begriff „Imperialismus“, zumal wenn er „konsequent“ sein soll, in diesem Zusammenhang nicht a priori verwerfen.
2. Mehr als einmal erwähnt Achcar die Bedrohung des Weltfriedens bzw. der Welt infolge einer Eskalation des durch die russische Invasion herbeigeführten Kriegs in der Ukraine. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwieweit diese Erwähnung auf das nukleare Angriffspotential von Putins Russland zurückgeht, mit dem dieser seit dem Beginn seines Angriffs auf die Ukraine mehrmals auf erpresserische Weise gedroht hat, oder bloß eine Konzession an antiwestliche „Neo-Campisten“ ist, um eine Brücke zu ihnen zu schlagen. Das Moment der Bedrohung des Weltfriedens quasi nebenbei einzuflechten, dieses dann aber ohne genauere Erläuterung so stehen zu lassen, reduziert es zu einer beliebig einzusetzenden rhetorischen Bedrohung. Dabei suggeriert der Autor, dass alle wissen sollten, um was es geht, und verzichtet infolgedessen auf eine genaue Darlegung seiner Argumentation.
3. Der Versuch, eine Brücke zu jenem Teil der Linken zu schlagen, die im Ukraine-Krieg in der eigenen antiwestlichen Positionierung ihre Priorität sehen und nicht im gerechten Widerstand der ukrainischen Bevölkerung gegen die Aggression, führt dazu, dass Achcar auch im Rahmen seiner abschließenden Forderungen Konzessionen macht. Dies gilt gerade hinsichtlich der Punkte 3 und 4: Warum sollte es den bewaffneten Kräften der Ukraine in der Zurückweisung der russischen Aggression nicht erlaubt sein, die Logistik der russischen Streitkräfte auf deren Territorium anzugreifen, wenn es militärisch notwendig ist, um die russischen Truppen auf ihre Ausgangsstellungen zurückzutreiben? Und warum sind diese Ausgangsstellungen die von ihnen bis zum 23. Februar 2022 eingenommenen Linien und nicht Positionen jenseits der international anerkannten Grenzen der Ukraine, die vor 2014 auch von der Russischen Föderation mehrmals als solche anerkannt worden sind? Ich denke, dass derartige Konzessionen zu weit gehen: Jenen Personen und Gruppen, die – zumal im deutschen Sprachraum – die Ukraine als „faschistisch“ bezeichnet haben oder in den Raum gestellt haben, sie sei eine „Krüppelnation“, fehlt nämlich einfach jenes minimale Ausmaß an Empathie, das notwendig wäre, sie (wieder) an Bord eines Projektes zu holen, das – jenseits des Ukraine-Kriegs – auf eine Welt ohne Ausbeutung (auch zwischenstaatliche Ausbeutung) abzielt.
4. Eine Linke – und diese Anmerkung gilt nun schon längst nicht mehr Gilbert Achcar, sondern all jenen, die er als antiwestliche Neo-Campist:innen bezeichnet – , eine Linke, die das nach 1945 in der UNO-Charta international anerkannte Völkerrecht im Falle der Ukraine nicht absolut setzt, wird sich zudem nicht wundern dürfen, wenn sie angesichts möglicher künftiger Eroberungszüge der USA dann keine argumentative Handhabe mehr haben sollte – zumal sich darunter auch viele Anhänger:innen jener „souveränistischen“ Linken befinden, die in ihrer Gegnerschaft zur EU in den letzten Jahren Gefallen am Modell des (eigenen) Nationalstaats gefunden hat.
Dessen ungeachtet regt der Text von Gilbert Achcar zum Nachdenken ein, weshalb er hier auch in einer Übersetzung nachzulesen ist.
Gilbert Achcars Antwort an Christian Promitzer
Ich bedanke mich bei Horst Lauscher für die Übersetzung meines Artikels und bei emanzipation – Zeitschrift für ökosozialistische Strategie für dessen Veröffentlichung. Ebenso dankbar bin ich Christian Promitzer für seine kameradschaftlich-kritische Auseinandersetzung mit meinem Artikel. Hier sind meine Anmerkungen zu seinen Kommentaren.
Mein Problem mit dem Kommentar von Christian Promitzer beginnt mit dem Titel, der versucht, den Ball an mich zurückzugeben. Er postuliert, dass ich „Zugeständnisse“ gemacht habe. Christian Promitzer kann jedoch keine Position von mir aufzeigen, die den angeblichen „Zugeständnissen“ vorausging und ihnen widersprach. Keine meiner Positionen ist in irgendeiner Weise ein „Zugeständnis“ an irgendjemanden. Sie entstammen alle meinen eigenen Überzeugungen und waren von Beginn des Krieges an konsequent.
Zum Inhalt der drei Punkte des Kommentars, die meine Positionen diskutieren:
- Ich muss gestehen, dass ich den ersten Punkt von Christian Promitzer nicht verstanden habe. Mein Artikel beschreibt eine Reihe von Positionen, die eindeutig mehr als zwei sind: grober Campismus verschiedener Art und zwei gegensätzliche neo-campistische Positionen – möglicherweise drei, wenn China hinzukommt. Ich habe den Neo-Campismus vor einigen Jahren so definiert, dass er die systematische Orientierung des Campismus auf Moskau (oder Washington) durch eine systematische Opposition gegen jeden Position Washingtons (oder Moskaus oder Beijings) ersetzt. Ich sehe im „Antiimperialismus“ nichts Veraltetes, sofern er konsequent ist, das heißt, sofern er für alle imperialistischen Mächte gilt. Ich habe wiederholt dargelegt, warum ich das heutige Russland als imperialistisch im marxistischen Verständnis des Begriffs betrachte. Bei der Charakterisierung Chinas bin ich aufgrund der besonderen Natur seines Staates und seines Kapitalismus zurückhaltender, aber das ist eine andere Debatte.
- Christian Promitzer fragt sich, ob meine Betonung der „Bedrohung des Weltfriedens bzw. der Welt infolge einer Eskalation“ des Krieges in der Ukraine nicht ein Zugeständnis an die antiwestlichen Neo-Campist:innen sei. Ich muss an dieser Stelle noch einmal gestehen, dass ich von seiner Argumentation verblüfft bin. Es gibt kaum Beobachter:innen des Konflikts, die nicht sehen, dass er das Risiko einer direkten Beteiligung der NATO-Mächte am Krieg birgt und damit das Risiko eines globalen Flächenbrands mit katastrophalen Folgen für die Menschheit – selbst wenn gar keine Atomwaffen eingesetzt werden. Der Rückgriff beider Seiten auf Streubomben, die die USA nun an die Ukraine liefern wollen, ist übrigens nur der jüngste Hinweis auf die Gefahr einer Eskalation.
- Auch hier postuliert Christian Promitzer, ich habe versucht, „eine Brücke zu jenem Teil der Linken zu schlagen, die im Ukraine-Krieg in der eigenen antiwestlichen Positionierung ihre Priorität sehen“. Er erklärt indirekt, was er meint, indem er fragt: „Warum sollte es den bewaffneten Kräften der Ukraine in der Zurückweisung der russischen Aggression nicht erlaubt sein, die Logistik der russischen Streitkräfte auf deren Territorium anzugreifen, wenn es militärisch notwendig ist, um die russischen Truppen auf ihre Ausgangsstellungen zurückzutreiben?“
Aber nirgendwo habe ich gesagt, dass die ukrainischen Streitkräfte kein Recht haben, in den Tiefen des russischen Territoriums zuzuschlagen. Hätte Christian Promitzer einen der Links in meinem Beitrag (Großmäuligkeit der Tories) überprüft, hätte er Folgendes gefunden: „Natürlich ist es für ein Land, dessen Territorium angegriffen wird, „völlig legitim“, militärische Ziele innerhalb des Territoriums des Angreifers anzugreifen, aber ist es klug, dies zu tun, und vor allem, ist es klug, wenn ein britischer Minister dazu ermutigt, dies zu tun? Natürlich nicht – nicht zuletzt, weil dies den russischen Aggressor dazu anstacheln könnte, seine Bombardierungen auf dem gesamten ukrainischen Territorium zu verstärken. Mein Standpunkt ist also nicht schwer zu verstehen: Ich halte es für legitim, dass die ukrainischen Streitkräfte tief in russisches Territorium eindringen.
Doch a) glaube ich, dass sie damit noch verheerendere Angriffe Russlands tief in ihr Gebiet hinein anziehen, und b) lehne ich es ab, dass die NATO ihnen zu diesem Zweck Waffen liefert, da dies eine qualitative und gefährliche Eskalation der NATO-Beteiligung am Krieg darstellen würde. Dies sowie meine Position zu den Gebieten von 2014 habe ich unter Punkt 4 im verlinkten Artikel (Ablehnung kriegstreiberischer Forderungen nach einer Eskalation des Krieges auf russisches Gebiet) erläutert. Ich habe wiederholt erklärt, dass der Versuch, die Gebiete von 2014 mit Gewalt zurückzuerobern, meiner Ansicht nach ein Rezept für mehr Blutvergießen und Zerstörung auf einem immer höheren Niveau ist. Deshalb habe ich mich für die Punkte 5 und 6 ausgesprochen, die von den Punkten 3 und 4 nicht zu trennen sind, obwohl Christian Promitzer sie in seinem Kommentar ignoriert hat.
Gilbert Achcar
Referenzen
Bildquelle: Foto von Jr Korpa auf Unsplash
[1] Der Text ist auf Labour Hub am 28. Juni 2023 erschienen. Horst Lauscher hat ihn für emanzipation übersetzt.