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Navigieren zwischen Solidarität und Leichtfertigkeit
Über die Lieferung von schweren Panzern an die Ukraine wurde sowohl in Deutschland als auch in den Vereinigten Staaten lange nachgedacht – aus guten Gründen. Beide Regierungen waren bislang darauf bedacht, nicht den Anschein zu erwecken, als würden sie von der ukrainischen Führung proklamierte Kriegsziele unterstützen, die über das legitime Recht des Landes auf Selbstverteidigung gegen die unprovozierte und offensichtlich vorsätzliche russische Aggression hinausgehen. Sie hatten nur geringe Bedenken gegen die Lieferung von Waffen, die im Wesentlichen Defensivwaffen sind, wie Panzerabwehr-, Flugabwehr- und Raketenabwehrwaffen sowie Artillerie mit kurzer bis mittlerer Reichweite. Und obwohl auch schwere Panzer auf defensive Ziele beschränkt werden könnten, haben Washington und Berlin wahrscheinlich deshalb mit deren Lieferung gezögert, weil sie mit hochentwickelter Ausrüstung ausgestattet sind, die eine lange Ausbildung erfordert. Und das Risiko, dass sie auf dem Schlachtfeld in russische Hände fallen, kann nicht auf die leichte Schulter genommen werden.
Der Widerstand der Ukraine gegen die russische Invasion ist oft als Stellvertreterkrieg dargestellt worden, den die NATO gegen Russland führe. Dies ist zu sehr vereinfacht. Es gibt zwar keinen Zweifel daran, dass die NATO das Ziel verfolgt, die am 24. Februar 2022 begonnene russische Aggression zurückzuschlagen und die russischen Truppen dorthin zurückzudrängen, wo sie vor diesem Tag standen. Dass die Allianz dieses Ziel unterstützen würde, war unschwer vorherzusehen. Das Widerstandspotential der Ukraine und die Bereitschaft der NATO, die Ukraine zu unterstützen, unterschätzt zu haben, ist in der Tat ein gewaltiger Fehler Wladimir Putins. So hat ein Krieg, der mit dem erklärten Ziel begonnen wurde, den Beitritt der Ukraine zur NATO zu verhindern, zu einer wesentlich intensiveren und schnelleren Integration des Landes in deren Militärsystem geführt.
Im Ergebnis steht die Ukraine zwar nicht unter dem Schutz von Artikel 5 des NATO-Vertrags, ist aber in jeder anderen Hinsicht praktisch ein NATO-Mitglied geworden. Das bedeutet, dass – auch wenn die Ukraine offiziell nicht als Teil des NATO-Gebiets angesehen wird, so dass ein Angriff auf sie als Angriff auf alle Mitglieder gewertet würde – die Interoperabilität der ukrainischen Streitkräfte mit denen des Bündnisses [die Fähigkeit beider, nahtlos zusammenzuarbeiten] enorm zugenommen hat. Die NATO wird die militärischen Fähigkeiten der Ukraine nach dem jetzigen Krieg sicherlich weiter ausbauen, so dass das Abschreckungspotential der Ukraine gegenüber einer möglichen russischen Aggression künftig noch erheblich gesteigert werden wird. Das Land wird damit de facto zu einem wertvollen Erfüllungsgehilfen der NATO in der Konfrontation mit Russland.
Im Gegensatz zu den Behauptungen, mit denen gewöhnlich die Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine gerechtfertigt werden soll, führt die NATO jedoch keinen umfassenden Stellvertreterkrieg gegen Russland selbst. Sie hat sich noch nicht einmal dazu bereit erklärt, der Ukraine dabei zu helfen, das gesamte Territorium wiederzugewinnen, das sie seit 2014 verloren hat, darunter Teile von Donezk und Luhansk sowie die gesamte Krim. Bislang gibt es keinen ernsthaften Hinweis darauf, dass dies Washingtons Ziel war oder geworden wäre, während es viele Hinweise auf das Gegenteil gibt, unter anderem die Weigerung Washingtons, der Ukraine grünes Licht für die Bombardierung russischen Territoriums oder auch nur der Krim zu geben und Kiew zu diesem Zweck mit angemessenen Mitteln auszustatten. Joe Bidens Weigerung, die von der ukrainischen Regierung angeforderten F-16-Kampfjets zu liefern, ist ein Beispiel dafür.
Gewiss wurde schon über eine mögliche Änderung der Haltung Washingtons in der Zukunft spekuliert, sowohl hinsichtlich der Krim als auch hinsichtlich der Bereitstellung von F-16-Kampfjets. Und es gibt Leute, wie etwa Philip Breedlove, ein pensionierter Vier-Sterne-General der US-Luftwaffe, der 2014 bei Russlands Invasion der Krim NATO-Oberbefehlshaber für Europa war, die von Anfang an für eine grenzenlose Unterstützung der Ukraine, einschließlich einer von der NATO durchgesetzten Flugverbotszone über dem Land, eingetreten sind – in einer Art und Weise, die einen unwillkürlich an Stanley Kubricks Dr. Seltsam denken ließ. Auch überrascht es niemanden, dass Boris Johnson, der sich als britischer Premierminister inmitten des „Partygate“-Skandals, bei dem er erwischt wurde, als Russland mit seiner Invasion begann, mit übergroßem Eifer für die Ukraine stark machte und damit dem Drehbuch des Films Wag the Dog folgte, nun seinen Nachfolger dazu drängt, Kampfjets an die Ukraine zu liefern und sich für die offizielle Aufnahme des Landes in die NATO einzusetzen.
Es überrascht auch niemanden, dass Lockheed Martin für die Lieferung von F-16-Jets an die Ukraine ist. Die Rüstungsindustrie reibt sich in der Tat in allen NATO-Ländern die Hände und setzt sich für eine massive Erhöhung der Militärausgaben ein, mit bemerkenswertem Erfolg, obwohl Russland durch den andauernden Krieg stark geschwächt ist und die „Glaubwürdigkeit“ seiner Streitkräfte stark gelitten hat. Ein aktuelles Beispiel ist die massive Erhöhung des Militärhaushalts, die der französische Präsident Emmanuel Macron eben zu der Zeit ankündigt, in der sich seine Regierung in einem Tauziehen mit der Arbeiter:innenbewegung und einer Mehrheit der öffentlichen Meinung um die Durchsetzung zwei weiterer Arbeitsjahre vor der Rente befindet. In den Augen des französischen Präsidenten ist anscheinend für alle das „Ende des Überflusses“ erreicht, nur nicht fürs Militär.
Mit Ausnahme der Regierung Großbritanniens, die sich seit Johnson in Wichtigtuerei gegenüber der Ukraine ergeht, und der rechtsgerichteten Regierung Polens, die die legitimen Sorgen der Bevölkerung des Landes ausnutzt – Sorgen, die von den baltischen Staaten geteilt werden –, sind die meisten NATO-Regierungen hinsichtlich einer Verschärfung der indirekten militärischen Konfrontation des Bündnisses mit Russland zurückhaltend, wenn sie sie nicht gar ablehnen. Das liegt nicht etwa daran, dass sie befürchten, dass Russland der NATO den Krieg erklären würde: So groß die Bedenkenlosigkeit, die Putin mit dem Einmarsch in die Ukraine an den Tag gelegt hat, auch immer war, so hat ihm diese Erfahrung gezeigt, dass seine Streitkräfte weitaus schwächer sind, als sie sein müssten, um gegen die NATO kämpfen zu können. Und das liegt auch nicht nur daran, dass sie fürchten, dass Putin auf Atomwaffen zurückgreifen könnte, wie er es zur Verteidigung von Russlands sakrosanktem Territorium feierlich gelobt hat, zu dem in seinen Augen – und offenbar auch in den Augen der meisten Russen – die Krim gehört.
Es ist auch deshalb so, weil Putin auf jede zusätzliche Unterstützung der NATO für die Ukraine mit einer Eskalation seiner mörderischen Angriffe auf deren Territorium reagiert, so wie er es nach der Entscheidung der USA und Deutschlands, schwere Panzer nach Kiew zu liefern, erneut getan hat. Für die westlichen Regierungen ist dies eine sehr besorgniserregende Perspektive, nicht zuletzt wegen der massiven Zunahme der Fluchtbewegung aus der Ukraine nach Europa, die das womöglich nach sich zieht. Eine Ausweitung des Kriegs auf die Krim und auf russisches Territorium würde es Putin zudem ermöglichen, die nationalistischen Gefühle einer russischen Bevölkerung zu schüren, die seiner „Spezialoperation“ bisher eher lauwarm als begeistert gegenübersteht. So wäre er in der Lage, in viel größerem Umfang mobilzumachen. Es geht also nicht nur darum, der Ukraine die Mittel an die Hand zu geben, um ihren Aggressor zu besiegen, wie es manche darstellen. Putin erzählt gern, wie er in seiner Jugend von der Aggressivität einer Ratte beeindruckt war, die er in die Enge getrieben hatte. Und die Mittel, um die Zerstörung der Ukraine erheblich weiterzutreiben, hat er gewiss noch nicht alle ausgeschöpft. Deshalb wäre eine Eskalation durch die NATO über die oben genannten Grenzen hinaus leichtfertig und sollte abgelehnt werden.
Die offizielle Annexion von vier ukrainischen Oblasten durch Russland im vergangenen September sowie die Annexion der Krim im Jahr 2014 gelten zu Recht als null und nichtig. Aber die Rückgewinnung der im Minsk-II-Abkommen von 2015 genannten Teile der Ostukraine oder der Halbinsel Krim kann eigentlich nicht als ukrainisches Kriegsziel betrachtet werden, das man unterstützen sollte. Niemand, auch nicht die NATO, hätte die Ukraine dabei unterstützt, einen Krieg gegen Russland anzufangen, um diese Gebiete zurückzuerobern, wenn Kiew das vor dem Einmarsch Russlands getan hätte. Die Wahrheit ist, dass es legitime Gründe dafür gibt, den Status dieser Gebiete im Lichte der Wünsche ihrer Bevölkerung zu hinterfragen, und die einzig akzeptable Lösung solcher Streitigkeiten besteht darin, die ursprüngliche Bevölkerung der umstrittenen Gebiete frei und demokratisch für ihre Selbstbestimmung votieren zu lassen.
Eine friedliche Beendigung des Krieges kann es ohne ein solches Abkommen nicht geben, ein Abkommen, das an sich immer noch eine offensichtliche Niederlage für Putin wäre, der diesem denn auch nicht zustimmen würde, wenn nicht die militärische Situation vor Ort und/oder die wirtschaftliche Lage Russlands ihn dazu zwingen. Aber in Ermangelung eines Zusammenbruchs des Putin-Regimes, der die Situation radikal verändern würde, besteht die einzige Möglichkeit, Moskau dazu zu bringen, sich auf Dauer an die Bedingungen einer politischen Lösung zu halten, darin, dass diese über die UNO geregelt würde, wo sie sowohl Russlands als auch Chinas Zustimmung erforderte. Echte Selbstbestimmungsreferenden müssen von einem Gremium mit UNO-Mandat organisiert werden, zusammen mit der Stationierung von UN-Truppen in den umstrittenen Gebieten. Jeder andere Weg, den Krieg zu beenden, wäre höchstens eine kurze Pause in einem sich lange hinziehenden Konflikt, in dem nationalistische Ambitionen gegeneinanderstehen.
Der Artikel ist im Original auf Englisch in The Nation und auf der Website von Anticapitalist Resistance erschienen. H.L. hat ihn übersetzt und emanzipation zur Verfügung gestellt.
Bildquelle: Foto von Dmitry Bukhantsov auf Unsplash
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