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Der Krieg in der Ukraine hat bislang vermutlich an die 300.000 Tote gefordert, dazu eine wahrscheinlich viel höhere Zahl von Verletzten, Verstümmelten und Traumatisierten. Menschen wurden von russischen Kräften verschleppt, gefoltert, und ermordet, Frauen vergewaltigt. Millionen von Menschen mussten fliehen, ihre Häuser und Wohnungen, die Infrastruktur wurden zerstört. Linke Solidarität hat daher zuerst der ukrainischen Zivilbevölkerung zu gelten.
Die wichtigste Aufgabe ist es, den Krieg und das Leiden zu beenden. Alle Appelle zum Frieden haben sich an die russische Regierung zu richten, die den Krieg begonnen hat. Die russische Regierung als Aggressor muss einen Waffenstillstand ausrufen und ihre Truppen zurückziehen. Darüber hinaus kann man an andere Regierungen appellieren, die russische Regierung zu einer solchen Waffenruhe zu bewegen sowie an die russische und die ukrainische Regierung, Friedensverhandlungen aufzunehmen.
Ein dauerhafter Frieden setzt einerseits voraus, dass die russische Regierung die Existenz, Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine akzeptiert. Die Ukraine andererseits muss ihre militärische und bündnispolitische Neutralität erklären, um russischen Sicherheitsinteressen entgegenzukommen.
Auf der Krim sowie in den Gebieten von Donezk und Luhansk sollten freie Abstimmungen unter internationaler Aufsicht stattfinden, in denen alle Einwohner*innen, die vor der russischen Okkupation von 2014 dort lebten, das Recht haben, sich für die Zugehörigkeit zur Ukraine oder der Russischen Föderation zu entscheiden. Das Ergebnis solcher Abstimmungen muss von beiden Seiten akzeptiert werden.
Nach Lage der Dinge kann das Blutvergießen beendet werden, wenn die russische Seite ihren Angriffs- und Eroberungskrieg einstellt. Denn dieser Krieg ist nichts anderes als ein Überfall, ein grausamer und brutaler Versuch, mit massiver Gewalt völkerrechtlich anerkannte Grenzen einseitig zu verändern. Die russische Regierung setzt damit eine Politik fort, die sie bereits 2014 mit dem ersten Überfall auf die Ukraine begonnen hat. Ideologisch basiert die Aggression darauf, dass die russische Führung die Existenz der Ukraine schlicht nicht anerkennt, diesen Staat zerstören, besetzen und sich einverleiben will.[1]
Ich halte nichts von nationaler Selbstbestimmung und nationaler Unabhängigkeit, denn sie bedeuten bloß Selbstbestimmung für die jeweilige nationale Bourgeoisie. Als Befreiung vom kolonialen Joch Europas bedeuteten Staatsbildungen in Afrika und Asien in den 1960er- und 1970er-Jahren noch einen relativen historischen Fortschritt. Immer weitere staatliche Zersplitterung zeigt bloß an, wie weit verbreitet der nationale Wahn ist und wie marginal eine universalistische Vorstellung von Befreiung, die die Konkurrenz der Nationen überwindet. Deshalb bin ich ein Gegner von Bestrebungen wie der baskischen oder katalanischen oder schottischen Unabhängigkeit. Im Falle der Sowjetunion, Jugoslawiens oder der Tschechoslowakei wäre mir die Umwandlung in Föderationen lieber gewesen. Entscheidet sich jedoch eine eindeutige Mehrheit in freier Abstimmung für die nationale Unabhängigkeit, muss man als Linker zwar weiter dagegen agitieren, aber das Ergebnis mit Waffengewalt zu revidieren, kann keine emanzipatorische Politik sein.
Die ukrainische Bevölkerung hat 1991 mit 90 Prozent für die staatliche Unabhängigkeit votiert (die Krim mit ihrem hohen russischen Bevölkerungsanteil ist ein Sonderfall, dort stimmten nur 54 Prozent bei geringer Wahlbeteiligung für die Unabhängigkeit). Der russische Überfall im Februar 2022 zielte zumindest anfangs darauf ab, die Ukraine komplett zu kontrollieren, entweder durch eine Besatzung oder ein Marionettenregime, wahrscheinlicher durch eine Kombination aus beidem. Die russische Seite ging von einem schnellen militärischen Erfolg aus, in dieser Hinsicht war der Begriff Spezialoperation nicht bloß Propaganda. Der Westen (oder zumindest die öffentliche Meinung) erwartete ebenfalls, dass die Ukraine nicht lange standhalten würde.
Es kam anders, die russische Armee wurde zurückgeschlagen und erlitt schwere Verluste. Ähnlich wie in Algerien oder Vietnam kämpft eine Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung gegen einen ausländischen Aggressor, Invasoren und Besatzer bzw. unterstützt diesen Kampf, trotz des Leidens und Sterbens. Im Falle eines Erfolges wird in der Ukraine nicht der Sozialismus ausbrechen, sondern es bleibt beim Kapitalismus, wobei allerdings das Gewicht des westlichen und chinesischen Kapitals gegenüber den heimischen Oligarchen stärker werden dürfte.[2] Unabhängig davon hat die ukrainische Bevölkerung das Recht auf Selbstverteidigung, die nach Lage der Dinge nicht gewaltfrei zum Erfolg führen kann. Ob es uns als antimilitaristischer Linker gefällt oder nicht, ohne eine ukrainische Armee, die von westlichen Staaten ausgerüstet und ausgebildet wurde und wird, hätte die russische Armee das Land binnen weniger Wochen besetzt. Ohne Waffenlieferungen aus den westlichen Staaten könnte der bewaffnete Widerstand der Ukrainer*innen nicht lange durchhalten.
Die Folge wäre ein brutales Besatzungsregime. Brutal schon deswegen, weil in Russland selbst längst eine Despotie herrscht, die offene Opposition im Keim erstickt, ihre Vertreter*innen schikaniert und einsperrt und kritische Journalist*innen ermordet, aber auch, weil russische Politiker*innen mehrfach und wahrheitswidrig erklärt haben, dass die Ukraine von einem faschistischen Regime befreit und gesäubert, die Bevölkerung entsprechend umerzogen werden müsse. [3]
Das ist kontrafaktisch, weil in der Ukraine kein faschistisches Regime herrscht, sondern verschiedene Fraktionen oligarchischer Kapitalist*innen im Rahmen eines parlamentarischen Systems versuchten, mithilfe von Seilschaften in Verwaltung, Parlament und Regierung maximale Macht und Einfluss auszuüben. Das ist kein Zustand, der für Demokrat*innen oder Linke erstrebenswert ist, aber besser als eine Diktatur.
Vor allem hat die russische Regierung, deren Anführer Putin schon vor Jahren die chilenische Pinochet-Diktatur als Modell gepriesen hat, anhand des Vorgehens in besetzten Gebieten der Ukraine gezeigt, wie ihre Herrschaft aussehen würde: Es wäre nackte Repression, Verschleppung von tausenden von Menschen, Friedhofsruhe und Friedhofsfrieden.
Dagegen wehrt sich die ukrainische Bevölkerung zurecht und damit muss eine emanzipatorische Linke prinzipiell solidarisch sein und zugleich die ukrainische Regierung wegen ihres neoliberalen Kurses kritisieren, wegen der Demontage von Arbeiter*innen und Gewerkschaftsrechten. Zu kritisieren sind auch die Illusionen, die sich weite Teile der Bevölkerung in Bezug auf eine Mitgliedschaft in der EU machen. Selbstverständlich gilt es, nationalistische Stimmungen zu bekämpfen und nicht zuletzt faschistische Milizen. Zu ihrer Auflösung könnte die ukrainische Regierung im Rahmen eines Friedensabkommens verpflichtet werden.
Aus emanzipatorischer Perspektive ist nicht zu übersehen, dass die russische Führung ihrerseits im eigenen Land und im Rahmen ihrer imperialistischen Außenpolitik eine reaktionäre Agenda verfolgt, antisozialistisch, antidemokratisch, antifeministisch, homophob, mit positiven Bezügen auf die christliche Orthodoxie. Was das russische ebenso wie das chinesische Regime am Westen ablehnen, ist nicht der Kapitalismus, sondern sind die zivilisatorischen Errungenschaften, die Freiheiten, für die demokratische Bewegungen, Arbeiter-, Frauen- und Schwulenbewegungen jahrzehntelang kämpften. Darum sind Putin und Russland das leuchtende Vorbild der Rechten und sein Regime unterstützt faschistische Bewegungen und griff 2016 zugunsten von Donald Trump in den US-Wahlkampf ein. Die russische Führung stützt im Bündnis mit dem iranischen Regime die syrische Diktatur. Sie paktiert also mit einem Regime, das nach Atomwaffen strebt und Israel vernichten will. Ein russischer Sieg in der Ukraine würde die faschistische Rechte in aller Welt beflügeln und die iranische Oppositionsbewegung schwächen.
Es gibt verschiedene Formen bürgerlicher Herrschaft, das liberal-demokratische System, verschiedene Spielarten der autoritären Diktatur bis hin zum Faschismus. Für die Linke und die Mehrheit der Lohnabhängigen bietet das liberal-demokratische System die besten Chancen, um sich zu organisieren, Rechte zu erkämpfen und zu verteidigen, so eine Erkenntnis von Rosa Luxemburg.
Marx und Engels haben aus einer solchen republikanischen Perspektive die Kriege ihrer Zeit zwischen bürgerlich-kapitalistischen Mächten bewertet und jeweils Partei ergriffen (etwa für die Nordstaaten im US-Bürgerkrieg) für jene Seite, die relativ den meisten Fortschritt versprach. Weder ein abstrakter Pazifismus noch Äquidistanz waren damals und sind heute angemessen, von „revolutionärem Defätismus“ mag schwadronieren, wer Kräfteverhältnisse und Bewusstseinslagen komplett ignoriert.
Der Ukrainekrieg ist selbstverständlich auch Ausdruck einer internationalen Staatenkonkurrenz, die immer wieder zu Kriegen führt. Der Ukrainekrieg hat darum auch den Charakter eines innerimperialistischen Konflikts. Während Russland den sogenannten postsowjetischen Raum als seinen Hinterhof ansieht und sich Teile davon direkt einverleiben will, verfolgen die westlichen Staaten das umgekehrte Ziel, die Ukraine möglichst in ihre jeweilige Einflusszone einzubeziehen. Eine emanzipatorische Linke hingegen akzeptiert keine Hinterhöfe von Großmächten, weder den US-amerikanischen in Lateinamerika, noch einen russischen im postsowjetischen Raum, einen deutschen in Europa oder einen chinesischen Hinterhof in Asien. Wir müssen uns gegen alle Imperialismen wenden.
Der russische Angriff hat zwar dazu geführt, dass der Westen in Gestalt der NATO, vom französischen Präsidenten noch 2019 als „hirntot“ geschmäht, einigermaßen einheitlich reagiert, allerdings sind die unterschiedlichen Interessen der einzelnen Staaten deutlich erkennbar, die auch unterschiedliche Interessen ihrer nationalen Kapitale wiedergeben. Dass der Westen den Krieg vorbereitet und gewollt hat, ist falsch. Es war vielmehr lange Zeit das Interesse, Russland einzubinden, ökonomisch, politisch und militärisch (G 8, NATO-Russland-Grundakte, NATO-Russland-Rat), schon um Russland in dem sich verschärfenden Gegensatz zur VR China auf die eigene Seite zu ziehen. Die NATO, insbesondere die Bundeswehr, rüstete seit den frühen 1990er-Jahren auf, um Interventionen im globalen Süden vorzunehmen. Einen konventionellen Landkrieg in Europa hatten die NATO-Staaten vor dem russischen Überfall gar nicht auf dem Schirm, daher auch die Abschaffung der Wehrpflicht in der Bundesrepublik.
Der Fokus europäischer Aufrüstung und Kriegspolitik lag im globalen Süden, insbesondere auf Interventionen in Afrika, auch zu einer weit vorgelagerten Abschottung gegen Flüchtlinge, zum Schutz der Seewege vor Piraten. Dabei sind die Interessen der imperialistischen Mächte, die in der EU verbunden sind, gegensätzlich. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass die deutsche Regierung teilweise Frankreich in seinem ehemaligen Hinterhof ausstach, etwa in Mali. Das ist auch ein Zeichen der deutschen Dominanz innerhalb der EU und der relativen Schwäche Frankreichs.
Die EU möchte die Ukraine möglichst zum eigenen ökonomischen Hinterland machen, zum Reservoir für billige Arbeitskräfte, Rohstoffe und landwirtschaftliche Produkte, als Werkbank und Leihmütterzentrum. Das war der Hintergrund der Debatten über ein EU-Assoziierungsabkommen, das gleichzeitig bedeutete, Teile der ukrainischen Wirtschaft von Verbindungen zum russischen Markt abzuschneiden. Als die ukrainische Regierung 2010 Freihandelsabkommen mit Russland und anderen GUS-Staaten abschloss, warnte der damalige EU-Kommissar José Manuel Barroso, solche Verträge seien unvereinbar mit Aufnahme in die Freihandelszone der EU.
Das deutsche Kapital hat ein massives Interesse an guten Beziehungen zu Russland, an billiger fossiler Energie, die eine der Grundlagen deutscher Exportweltmeisterschaft und einen gravierenden Faktor für Treibhausgasemissionen darstellt. Das Zögern der deutschen Regierung mit Waffenlieferungen an die Ukraine von Anfang an und bis heute, ist auch diesem Interesse geschuldet. Die Politik von CDU/CSU und SPD orientierte sich jahrzehntelang an diesem Interesse, daher der Ausbau der Handelsbeziehungen, der Nordstream-Pipelines, trotz der Warnungen osteuropäischer Staaten und der US-Regierung, solche Gaslieferungen bedeuteten eine Abhängigkeit und das könnte politisch verwendet werden. Solche Warnungen haben sich als berechtigt herausgestellt.
Die Osterweiterung der NATO und die Versuche der EU, die Ukraine in ihre Sphäre einzubinden, gehören mit zu den Kriegsursachen. Als Preis für die Einbeziehung des Gebietes der ehemaligen DDR hatten 1990 nahezu alle großen westlichen Staaten der Sowjetunion mündlich zugesagt, die NATO nicht weiter nach Osten auszudehnen. Die Zusagen wurden gebrochen, als die NATO ab 1997 nach Osten erweitert wurde, auch wenn zu berücksichtigen ist, dass diese Erweiterung den Wünschen der jeweiligen Beitrittsländer entsprach, von denen einige aufgrund ihrer Geschichte russische imperiale Ansprüche fürchteten.
Damit haben westliche Mächte zum Konflikt beigetragen, aber sie haben den Krieg nicht begonnen. Um einen jener beliebten historischen Vergleiche anzustellen: Alle imperialistischen Staaten haben vor 1914 dazu beigetragen, dass die Spannungen wuchsen, aber Hauptschuldiger ist jener Staat, der den Krieg ausgelöst hat (Deutschland damals, Russland heute). Die russischen Überfälle von 2014 und 2022 stellen obendrein Brüche des Budapester Protokolls von 1994 zwischen Ukraine, Russland, USA und Großbritannien dar: Damals verzichtete die Ukraine auf alle sowjetischen Atomwaffen, vernichtete diese und verkleinerte ihre Armee im Gegenzug für Sicherheitsgarantien.
Wer auf die NATO-Osterweiterung als Kriegsursache verweist, auf ein vermeintliches Schutzbedürfnis der Bevölkerung im Donbass vor der Regierung in Kiew oder wer die Maidan-Bewegung von 2013/14 als Machwerk westlicher Geheimdienste darstellt, der bewegt sich auf der abschüssigen Bahn des Verschwörungsdenkens. Die Maidan-Bewegung war Ausdruck einer originären Unzufriedenheit weiter Teile der ukrainischen Bevölkerung, auch wenn westliche Politiker*innen und Geheimdienste auf den fahrenden Zug aufsprangen und neonazistische Gruppen an Einfluss gewannen und dezidiert linke Gruppen attackierten.[4] Dass die Zentralregierung eine vermeintlich prorussische Bevölkerung im Donbass unterdrückt hätte, ist ein Märchen, die Installierung von sogenannten Volksrepubliken war ein Putsch kleiner lokaler Gruppen, unterstützt von Russland.
Was sich hierzulande als neue Friedensbewegung geriert, der „Aufstand für den Frieden“ von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, greift den Wunsch nach Frieden auf, zielt jedoch auf eine Kapitulation der Ukraine ab. Ihr Manifest beginnt zwar pflichtschuldigst mit einer Verurteilung des russischen Angriffs, fokussiert die Vorwürfe dann jedoch auf den ukrainischen Präsidenten und den Westen. Die Forderungen des Wagenknecht-Spektrums laufen darauf hinaus, dass die Ukraine den Kampf einstellt. Das bedeutet:1. Objektiv unterstützt diese Bewegung den russischen Eroberungskrieg und 2. Tut sie dies, weil sie im Kern antiamerikanisch und mehr oder weniger offen deutschnational ist. Sie entspricht den Interessen bestimmter Kapitalkreise, insbesondere jener, die gerne wieder fossile Energien aus Russland importieren wollen.
Kein Wunder also, dass Wagenknecht wie die AfD und Teile der deutschen Wirtschaft die Aufhebung der Sanktionen gefordert haben, mit dem Argument, „wir“ würden uns damit selbst schaden oder „unseren Wohlstand“ gefährden. Das „wir“ meint Deutschland, „wir“ ist das nationale Kapital. Das entspricht der nationalistischen Linie, die Wagenknecht seit bald 15 Jahren verfolgt. Diese Haltung findet sich auch im Berliner Ostermarschaufruf 2023 wieder. Sanktionen gegen Russland „schaden uns“, heißt es darin. Im Hamburger Aufruf ist zu lesen, in Form steigender Preise müssten „wir alle“ die Kosten der Sanktionen bezahlen. Haben nicht viele deutsche Unternehmen im Vorjahr Rekordgewinne verzeichnet und diese mit gestiegenen Energiekosten begründet? Wer vom „wir“ ausgeht, denkt in Volksgemeinschaftskategorien und begreift diese Gesellschaft nicht als Klassengesellschaft.
Daher der große Zuspruch aus dem rechten Lager bis hin zur AfD für Wagenknecht und Schwarzer. Und daher ist es kein Zufall, wer als Erstunterzeichner*innen ihres Manifests auftritt: der Abtreibungsgegner Franz Alt, der CSU-Rechtsaußen Peter Gauweiler, der ehemalige Bundeswehrgeneral Ulrich Vad, der in extrem rechten Blättern publizierte, dazu Jürgen Todenhöfer, der einst Waffen für die islamistischen Mudjaheddin in Afghanistan forderte und heute antizionistische und antiamerikanische Positionen vertritt, sowie die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, die wie die Querdenkerszene argumentiert.
Das Thesenpapier der Initiative Frieden-links, das von Politiker*innen der Linkspartei wie Norman Paech, Wolfgang Gehrke oder Ulla Jelpke sowie Winfried Wolf von der Zeitschrift Lunapark unterzeichnet wurde, verteidigt die Offenheit nach rechts mit verschwörungsideologischem Geschwurbel: Die „herrschenden Eliten und ihre Medien“ würden Druck auf „friedensliebende Kräfte jeglicher Art ausüben“, um die Friedensbewegung als rechts zu diffamieren und zu spalten. Unterstellt wird damit, wer nicht die antiamerikanische und prorussische Linie teilt, sei ein gehirngewaschener Bellizist. Die „Abgrenzeritis“ nach rechts und gegenüber Pandemieleugner*innen sei falsch, willkommen seien vielmehr alle, „die ehrlichen Herzens für Frieden eintreten“, heißt es in dem Papier weiter. Mit dieser wachsweichen Formel hatten Wagenknecht und Oskar Lafontaine vor der Kundgebung des „Aufstands für den Frieden“ auf Fragen nach Zuspruch der extremen Rechten reagiert.
Was sich abzeichnet, ist die Formierung einer national-sozialen Bewegung, als Ausdruck der Interessen bestimmter Fraktionen des deutschen Kapitals, einer nationalistisch-rassistischen Stimmung (die sich gegen Geflüchtete aus der Ukraine und von anderswo richtet) oder die Juden hinter allem Übel walten sieht (George Soros und Bill Gates als Drahtzieher der Corona-Pandemie).
Die national-soziale Bewegung, die sich aktuell um die Friedensfrage formiert, ist eine Neuauflage. Die Kooperation von Linken und Nazis reicht zurück bis in die 1950er-Jahre, als man gemeinsam gegen Remilitarisierung und Westbindung kämpfte und dabei Konrad Adenauer und Franz-Josef Strauß als Lakaien der US-Besatzer schmähte.[5] Stets wurde und wird dabei die wachsende Macht des (west-)deutschen Imperialismus heruntergespielt.
Das führt zu Aussagen wie jener des früheren DKP-Chefideologen Willi Gerns, der 2015, in einer Analyse der Lage in Russland nach dem ersten Überfall auf die Ukraine, zu dem Schluss kam, der Hauptfeind seien die USA (Karl Liebknecht würde sich im Grabe umdrehen). Wenn Wagenknecht und andere ein vermeintlich deutsches Vasallentum gegenüber den USA beklagen, klingen sie wie der gemeine Reichsbürger.[6] Aber sie verweisen auf das eigentliche Motto und Ziel dieser national-sozialen Linie: „Ami go home – Deutschland zuerst“. Der Antiamerikanismus, in Deutschland immer schon schlecht kaschierter Deutschnationalismus und Revanchismus, ist eine politische Pest, die bekämpft und in der Linken überwunden werden muss.[7] Diese national-soziale Linke ist als politischer Gegner zu bekämpfen, eine Zusammenarbeit ist unmöglich.
Dabei sind schon der Mangel an Empathie mit den Opfern, Ignoranz oder Gefühlskälte oder beides, die sich bei Wagenknecht und ihrem Anhang zeigen, Grund genug, sich mit Grausen abzuwenden. Alice Schwarzer antwortete nach ihrer Friedenskundgebung in Berlin auf die Frage eines Reporters nach Vergewaltigungen: „Reden wir nicht von den vergewaltigten Frauen, reden wir nicht von den traumatisierten Kindern“.[8] Wagenknecht verharmloste einen Tag später im Fernsehen, in der Sendung „Hart aber fair“, die brutale Vergewaltigung einer älteren ukrainischen Frau als Übergriff.[9]
Analytisch gilt es, den Imperialismusbegriff neu zu fassen. Die Ansätze von Rosa Luxemburg und Lenin sind wenig ergiebig. Insbesondere Lenins Ansatz, der vom Monopolkapitalismus ausgeht, von Machenschaften des Finanzkapitals, ist falsch, verwirft die Mehrwertproduktion als nachrangig und führt in seinen platten Varianten auf die schiefe Ebene des Verschwörungsdenkens.
Ausgangspunkt einer Imperialismustheorie auf der Höhe der Zeit wäre die Marxsche Analyse der grundsätzlich expansiven Tendenz nationaler Kapitale und Engels‘ Konzept des Staates als ideellem Gesamtkapitalisten. Sonst verharrt man auf nebensächlichen Aspekten kurzfristiger Interessen von Einzelkapitalen, etwa der Frage nach Ölquellen oder den Profiten der Rüstungsindustrie. Schon der Falklandkrieg passte nicht in dieses Raster, denn dort gibt es nur Schafe. Das materielle Interesse auf britischer Seite war der Anspruch auf Hoheitszonen im Ozean und etwaige Bodenschätze auf dem Meeresgrund sowie eine Position in der Nähe der Antarktis, dazu das Interesse eines Staates, sein Ansehen in der internationalen Staatenkonkurrenz zu wahren.
Eine emanzipatorisch Linke hält mit Liebknecht daran fest, dass der Hauptfeind im eigenen Land steht. Wenn Sanktionen dem deutschen Kapital schaden, ist das kein Grund zu Jammern. Die Aufrüstung der Bundeswehr und der deutsche Anspruch, Führungsmacht zu sein, sind zu bekämpfen. Deutlich zu widersprechen ist FDP- und Grünen-Politiker*innen, die die Möglichkeit einer atomaren Eskalation kleinreden oder die Mahnung von Jürgen Habermas zu Friedensverhandlungen diffamieren, wie Daniel Cohn-Bendit, der sich schon beim deutschen Jugoslawienkrieg 1999 als Kriegspropagandist profiliert hat. Cohn-Bendit und der grünen-nahe Politikwissenschaftler Claus Leggewie torpedieren Friedensbemühungen, wenn sie eine Aufnahme der Ukraine in die NATO zur Bedingung machen.[10]
Eine emanzipatorische Linke unterstützt gleichgesinnte Linke und Gewerkschaften in Russland und der Ukraine, Geflüchtete, Kriegsdienstverweigerer und Deserteure und fordert demokratische und gewerkschaftliche Grundrechte in beiden Ländern. Eine solche Linke akzeptiert, dass die ukrainische Bevölkerung in ihrer Mehrheit den bewaffneten Kampf gegen eine russische Besatzung mit trägt und verhält sich bei aller Kritik grundsätzlich solidarisch dazu.
Anmerkungen & Referenzen
Bildquelle: Die Eisenbahnbrücke die Irpin, Ort russischer Massaker an der ukrainischen Zivilbevölkerung, mit Kiev verbindet – noch wenige Monate vor dem Krieg. Später wurde sie durch russische Angriffe zerstört, nach Wiedereroberung jedoch schnell neu aufgebaut. Foto von Viktoria Niezhentseva auf Unsplash.
[1] Der russische Präsident selbst erklärte in einer Rede kurz vor dem Überfall, die Ukraine sei „nicht nur ein Nachbarland für uns“, sondern „ein unveräußerlicher Teil unserer eigenen Geschichte, unserer Kultur und unseres geistigen Raums“. Die moderne Ukraine sei „vollständig von Russland geschaffen“ worden, sagte Putin weiter, „genauer gesagt, vom bolschewistischen, kommunistischen Russland. Dieser Prozess begann praktisch unmittelbar nach der Revolution von 1917, und Lenin und seine Mitstreiter taten dies auf eine für Russland äußerst harte Art und Weise – durch die Abtrennung, die Abtrennung des historisch russischen Landes.“ Der Präsident ließ keinen Zweifel daran, dass er diesen Prozess für falsch hält. Sowohl konservative Slawophile wie Alexander Solschenizyn als auch der Chef der russischen KP, Gennadij Zjuganov (1997) lehnten eine unabhängige Ukraine im Prinzip ab (Andreas Kappeler, Kleine Geschichte der Ukraine, 7. Auflage, München 2022, S.277)
[2] Die algerische FLN hat sich von Anfang an positiv auf den Islam und eine arabische Identität bezogen. Zum algerischen Unabhängigkeitskampf gehörten terroristische Akte gegen Zivilist*innen, von Frantz Fanon ideologisch überhöht, der Gewalt als Akt psychischer Dekolonisation feierte. Innerhalb der Befreiungsbewegung gab es eine blutige Liquidierung fortschrittlicher Kräfte. In Vietnam herrschte von Anfang an eine neostalinistische Parteidiktatur, heute ist das Land eine staatskapitalistische Entwicklungsdiktatur. All das hat die westliche Linke nicht an ihrer Solidarität gehindert. Sie hat in diesen Auseinandersetzungen auch nicht Frieden, sondern Freiheit für die besetzten Länder gefordert.
[3] Beispielhaft dafür ist der Beitrag von Timofej Sergejzew, der am 3.4.2022 in der staatlichen Russischen Agentur für internationale Informationen von einer „Entnazifizierung“ und „Entukrainisierung“ der ukrainischen Gesellschaft sprach, die „auf keinen Fall“ kürzer sein könne „als eine Generation“. Er schrieb von einem „Ukronazismus“, der „keine geringere, sondern eine größere Bedrohung für den Frieden und für Russland“ darstelle, „als Hitlers Version des Nationalsozialismus. Das ist barer Unsinn und eine Relativierung und Verharmlosung des Nationalsozialismus. Weiter schreibt der Kreml-Propagandist: „Das Ukrainertum ist eine künstliche antirussische Konstruktion ohne eigenen zivilisatorischen Inhalt, ein untergeordnetes Element einer fremden und entfremdeten Zivilisation“. Lediglich die Westukraine könne als selbständiges Gebilde erhalten bleiben, wahrscheinlich mit ständiger russischer Militärpräsenz (Timofej Sergejzew, Was Russland mit der Ukraine tun sollte, https://www.blaetter.de/ausgabe/2022/mai/dokumentiert-was-russland-mit-der-ukraine-tun-sollte).
[4] Die Ignoranz von Teilen der antiamerikanischen Linken zeigt sich auch gegenüber der Opposition in Weißrussland, Kasachstan oder Hongkong, Syrien und Libyen. So ist stets von einem NATO-Angriff auf Libyen die Rede, dabei wurde der Diktator Muammar al-Gaddafi 2011 durch eine Revolte der Bevölkerung gestürzt. Die NATO-Staaten hatten sich längst mit dem Regime partnerschaftlich arrangiert, das Öl lieferte und Flüchtlinge von der Mittelmeerküste abhielt. Heute unterstützen verschiedene NATO-Partner unterschiedliche Warlords in Libyen, von einheitlichem Vorgehen kann keine Rede sein. Die Oppositionsbewegung im Iran ist derzeit vermutlich zu stark und populär, um von der national-sozialen Linken einfach als CIA-gesteuert diffamiert zu werden.
[5] Renate Riemeck, die Galionsfigur der Ostermarschbewegung, war eine ehemalige Nationalsozialistin und Anthroposophin. In den frühen 1960er-Jahren publizierte sie eine Serie, wonach der Erste und der Zweite Weltkrieg jeweils eine Verschwörung des Westens gegen Deutschlands geistige Mission gewesen sei. Eine publizistische Plattform für die Kooperation von Linken und Nazis damals war die Zeitschrift „Neue Politik“, herausgegeben von alten Nazis, in der Linke und Rechte gegen den Vietnamkrieg und Franz Josef Strauß, für Che Guevara und gegen Israel agitierten, neben Anzeigen, in denen Freiheit für Rudolf Heß gefordert wurde. Antiamerikanismus und Antizionismus sind die gemeinsamen Grundlagen.
[6] Ingar Solty, Referent für Friedens- und Sicherheitspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, fürchtet, dass aufgrund des Ukrainekrieges das Ziel einer „strategischen Autonomie“ Europas von den USA nicht erreicht werde, stattdessen werde „eine stärkere Vasallenrolle Deutschlands“ die Folge sein. Die Formulierung beinhaltet, dass Solty die Bundesrepublik schon bisher als Vasallen einschätzt und eine eigenständige imperialistische Supermacht Europa favorisiert. Ersteres ist faktisch falsch, letzteres kein Ziel für Linke, sondern zu bekämpfen (Ingar Solty, Auf dem Weg in eine neue Blockkonfrontation, in: Luxemburg, Heft 3/2022, S.66). Sevim Dagdelen, „We are engaged in a dangerous game of one-upmanship on weapon supplies to Ukraine“, Global Times, 14.2.2023, https://www.globaltimes.cn/page/202302/1285454.shtml.; Wagenknecht antwortet im Interview auf den verschwörungsideologischen Nachdenkseiten auf die Frage nach einer „Hörigkeit“ der Bundesrepublik gegenüber den USA, es brauche einen „Bundeskanzler mit Rückgrat“, https://www.nachdenkseiten.de/?p=94067
[7] Zur Lektüre empfohlen zu diesem Thema: Andrei S. Markovits, Amerika, dich haßt sich’s besser. Antiamerikanismus und Antisemitismus in Europa, Hamburg 2008, vierte Auflage.
[8] https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/vergewaltigte-frauen-in-der-ukraine-diese-aussagen-von-alice-schwarzer-bei-berlin-demo-sorgen-f%C3%BCr-entsetzen/ar-AA17Wuq6?ocid=sf
[9] https://www.spiegel.de/kultur/tv/sahra-wagenknecht-irritiert-bei-hart-aber-fair-mit-aussagen-zum-russland-ukraine-krieg-a-52c716d3-7eec-45dc-bf27-4989b77adcd8
[10] Daniel Cohn-Bendit / Claus Leggewie, Habermas unterschlägt die Risiken, Tageszeitung 18.2.2023.