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Das Land lahmlegen. Das ist die Strategie der französischen Gewerkschaften im Kampf gegen die Anhebung des Renteneintrittsalters. Könnte ein längerer Streik der Zerstörung der Welt Einhalt gebieten? Eine Fabrik zu schließen, eine Infrastruktur zurückzubauen oder einen ganzen Wirtschaftszweig abzuschaffen muss nicht heißen, dass man einem früheren Zustand nachtrauert. Es heißt im Gegenteil die Welt von morgen vorbereiten.
Seit dem 19. Januar sind ganze Wirtschaftszweige in den Demonstrationszügen vertreten: Transport und Verkehr, Energie, Metallverarbeitung, Lebensmittel- und Agrarindustrie, Tourismus. Die Arbeiterinnen und Arbeiter aus der Industrie sind ebenso dabei wie die Beschäftigten des Dienstleistungssektors. Unter den Transparenten und Schildern hört man Lärm, Rufe, Gelächter und Gesang. Aber viele Lebewesen und unsere Ökosysteme bleiben unhörbar: die schmelzenden Gletscher, der ansteigende Meeresspiegel, das Wasser, das die Felder nicht mehr bewässert, die Insekten, die aussterben, die Luft, die von Feinstaub vergiftet wird.
Das Land lahmzulegen ist die Strategie der Gewerkschaften gegen die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters. Könnte ein längerer Streik der Zerstörung der Welt Einhalt gebieten? Über die Rentenreform denkt man nach – allerdings indem man den Klimawandel ignoriert. Auch die Slogans und Parolen der Mobilisierung gegen den Renteneintritt mit 64 sagen dazu nicht viel.
Bei der ersten Lockerung der coronabedingten Einschränkungen im Jahr 2020 war in Frankreich ein Aufruf gegen die Wiedervergiftung der Welt lanciert worden, damit die „Höllenmaschine“ der Ausbeutung von Mensch und Natur nicht wieder in Gang käme. Die Verbände und Gewerkschaften, die den Aufruf unterzeichnet hatten, ermutigten Einwohner:innen und Arbeiter:innen dazu, giftige Produktionsstätten in ihrer Gegend zu besetzen („Zementfabriken, Pestizidfabriken oder Produktionsstätten für die Herstellung von Gas und Granaten für die Polizei, die Flugzeugindustrie, den Werbesektor oder Amazon-Auslieferungslager auf Ackerland, Massentierhaltungsanlagen oder Installationen für neue 5G-Masten“) und zusammenzukommen, um Lösungen zu diskutieren, wie man diese ersetzen könnte: Welche Tätigkeiten sind wünschenswert? Was brauchen wir wirklich?
Die Arbeitswelt neu organisieren
Aufgrund ihres Umfangs und der Diversität ihrer Teilnehmer:innen erschüttert die Mobilisierung gegen die Rentenreform von 2023 die Gesellschaft weit über die Kritik an der Regierung hinaus. Sie hat dazu geführt, dass überall über die Arbeit und über den Platz, der ihr in unserem Leben zukommt, diskutiert wird. Sie lässt die Hoffnung wiederaufleben, dass man sein Leben nicht damit verschwendet sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Dieses kollektive Gespräch kennzeichnet einen außergewöhnlichen Moment, in dem sowohl Persönliches als auch Gemeinsames, Politisches wie Gefühlvolles zum Ausdruck kommt.
Die Empörung bezieht sich nicht nur auf die Verlängerung der Arbeitszeit, die die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters auf 64 Jahre zwangsläufig mit sich bringt. Überall bricht sich eine Wut auf die Rentenreform Bahn und auf die Welt, der sie entstammt. Was ist das für eine Welt? Die einer Produktion, die kein anderes Ziel hat als wirtschaftliche Produktivität und finanzielle Rentabilität. Im Januar lobte der Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire die “außergewöhnlichen Widerstandskräfte“ der französischen Wirtschaft und verkündete ein positives Wachstum. Der Kapitalwert als einziges Kriterium für die Bemessung von Wohlstand.
Im Juni 1968 haben Filmstudent:innen den Zorn einer Arbeiterin der Wonder-Werke in Saint-Ouen (Seine-Saint-Denis) gefilmt, als sich die Gewerkschaft CGT nach einem dreiwöchigen Streik für die Wiederaufnahme der Arbeit aussprach: “Nein, ich gehe nicht wieder da rein. Ich setzte keinen Fuß mehr in diesen Knast.“
Vor 55 Jahren war der Knast die Fabrik und die Herrschaft der Bosse. Im Jahr 2023 steht der Knast auch für die Klimazerstörung. Nicht zurückzugehen bedeutet nicht mehr nur, seinen Platz in der Produktionskette aufzugeben. Das reicht nicht mehr. Da das Klima unseren Lebensraum ausmacht, ist es unmöglich, ihm zu entkommen.
Die Welt der Lohnabhängigen liegt an der vordersten Front der schädlichen Folgen der Öl-, Gas- und Kohleindustrie – sowohl als Arbeitskräfte als auch als Anrainer:innen der fossilen Infrastruktur. „Wir wohnen neben unserer Raffinerie. Wir sind die ersten, die ein Interesse an einem Standort haben, der für die Umwelt, für die Seine [den Fluss], für den Wald von Fontainebleau möglichst wenig schädlich ist“, sagte Adrien Cornet gegenüber Mediapart, Arbeiter und CGT-Vertreter in der Raffinerie von TotalEnergies in Grandpuits im Département Seine-et-Marne. „Unsere Wochenenden verbringen wir im Wald oder beim Angeln in den Flüssen und unsere Kinder spielen auf den umliegenden Feldern.“
Anfang 2021 streikte er mit vierhundert anderen Beschäftigten der Raffinerie anderthalb Monate lang gegen einen Sozialplan (ein Verlust von 150 Arbeitsplätzen) im Rahmen der Umstellung der Raffinerie auf eine “Null-Öl-Plattform für Biokraftstoffe und Biokunststoffe”.
Die durch den Streik gewonnene Zeit gab den Beschäftigten Gelegenheit, sich in Selbstverwaltung ihre Produktionsstätte wieder anzueignen und kollektiv darüber nachzudenken, wie man an diesem Standort sichere Arbeitsplätze und eine ökologische Wende verbinden könnte. Seitdem arbeiten die Arbeiter:innen in Grandpuits gemeinsam mit Umweltaktivist:innen daran, wie man sich die Konversion der Raffinerie vorstellen könnte – anhand eines Fahrplans der drei Schwerpunkte enthält: Erfüllung gesellschaftlicher Bedürfnisse, Nutzung lokaler Ressourcen und Sicherung von Arbeitsplätzen. Sie versuchen, ihre Jobs zu erhalten, indem sie ihre Tätigkeit ändern.
Einen Teil des Produktionssystems stilllegen
„Nicht mehr in diesen Knast gehen“ bedeutet heute, bestimmte Fabriken zu schließen, ihre Büros zu verriegeln, ihre Chefs vor die Tür zu setzen und den Schlüssel auf den Grund einer für alle Zeiten verfemten Ölquelle zu werfen. Das bedeutet der Finanzwelt ein Ende zu setzen, die durch die Ausbeutung fossiler Brennstoffe wächst und gedeiht; ebenso der Chemieindustrie, die sich an Pestiziden bereichert; dem Baugewerbe, das Flächen zubetoniert, der Automobilindustrie, die die Luft mit Schadstoffen belastet; und dem Online-Handel, der das Klima zerstört.
Zwischen 1988, dem Gründungsjahr des Weltklimarats (IPCC), und heute haben die Energiekonzerne mehr Treibhausgase in den Himmel gespien als zwischen 1750, dem Beginn der industriellen Revolution, und 1988. Weit davon entfernt ihre Produktion zu drosseln oder gar eine Energiewende einzuleiten, planen die fossilen Giganten ganz im Gegenteil, die fossile Energieproduktion bis 2030 um durchschnittlich 20 Prozent zu steigern.
Das Ergebnis: Die weltweiten energiebedingten CO2-Emissionen sind 2022 um weitere 0,9% gestiegen und haben damit einen neuen Rekord erreicht, wie die Internationale Energieagentur (IEA) am 2. März bekannt gab. Und das, obwohl sich die reichen Länder dazu verpflichtet haben, ihre Wirtschaft bis 2050 zu dekarbonisieren.
Der Automobil- und die Luftfahrtindustrie hat Bruno Le Maire [Wirtschafts- und Finanzminister Frankreichs] im Jahr 2020 23 Milliarden Euro zukommen lassen – ohne die geringsten ökologischen Auflagen.
Weit davon entfernt, einen echten Wandel zu vollziehen, erlebt die Automobilindustrie ein starkes Wachstum. Von allen im Jahr 2022 weltweit ausgelieferten Neufahrzeugen waren fast die Hälfte SUVs, diese extrem umweltschädlichen städtischen Geländewagen. Ende 2021 enthüllte die IEA, dass SUVs, wenn sie ein Land wären, das Land mit dem sechstgrößten Treibhausgas-Ausstoß wären. Am 5. März machte der Anthropologe und Ökonom Jason Hickel auf dieses verheerende Größenverhältnis aufmerksam: „Im Kapitalismus wird auf die Produktion von SUVs viermal mehr Produktionskapazität verwendet als für die Produktion von öffentlichen Verkehrsmitteln. Und das inmitten einer ökologischen Notlage.“
Während der Pandemie führte die CGT Aéronautique [Luftfahrtsektor] eine Umfrage unter den 1.200 Beschäftigten von Airbus und seinen Zulieferern durch. “Drei Viertel der Beschäftigten waren sich dessen bewusst, dass die Branche gegen die Wand fährt“, betont Maxime Léonard, Beschäftigter in der Luftfahrtindustrie und Mitglied des Toulouser Kollektivs „Pensons l’aéronautique de demain“ [die Luftfahrt von morgen denken], gegenüber Mediapart. In der Gas- und Ölindustrie möchten weltweit 43 % der Beschäftigten die Branche in den nächsten fünf Jahren verlassen.
Von 2016 bis 2020 haben die französischen Banken ihre Finanzierung fossiler Energieträger um durchschnittlich 19% pro Jahr erhöht. Zwischen dem Beginn der Coronakrise und März 2021 haben BNP Paribas, Société Générale, Crédit Agricole und die Gruppe Banque Populaire-Caisse d’Epargne Unternehmen, die in den klimazerstörenden Branchen Kohle, Öl und Gas tätig sind, mit 100 Milliarden US-Dollar finanziert.
In Frankreich ist Amazon der größte Online-Händler für Kleidung und der zweitgrößte für elektronische Geräte. Die Herstellung und der Transport dieser Waren sind für fast ein Viertel der Treibhausgas-Emissionen der Menschen in Frankreich verantwortlich. Um die globale Erwärmung in Frankreich bis 2030 auf 1,5 °C zu begrenzen, müsste der Absatz von Kleidung um den Faktor 10 und der von elektronischen Geräten um den Faktor 3 reduziert werden.
Niemand kann sich dem Klimawandel entziehen. Kein Rentensystem wird in einer Welt mit +4 °C Bestand haben. Keine massive Reduzierung der Treibhausgase (Frankreich muss seine Wirtschaft innerhalb von 25 Jahren dekarbonisieren) wird ohne eine Neugestaltung der Arbeitswelt möglich sein – und ohne die Stilllegung eines Teils des derzeitigen Produktionssystems.
Der Arbeiter und CGT-Delegierte in der TotalEnergies-Raffinerie in Grandpuits, Adrien Cornet, warnt: „Der ökologische Übergang wird nicht ohne die Arbeiter:innen machbar sein.“ Wie kann man ein Kohlekraftwerk schließen oder einen Skiort, der nicht mehr genug Schnee für seine Pisten hat? Wie können wir uns Heizstoff- und Logistiklager wieder aneignen? Was machen wir mit den Pipelines, den Atomkraftwerken und den Tausenden Hektar Land, die nach Jahren der stark von fossilen Brennstoffen abhängigen industriellen Agrarproduktion unfruchtbar geworden sind?
Um unsere Vorstellung von Emanzipation zu bereichern und zu nähren, müssen wir schon heute eine „Ökologie des Rückbaus“ erfinden, wozu uns der Forscher Alexandre Monnin auffordert. Der Kampf gegen die Rentenreform ermöglicht es, freie Zeit zu gewinnen, um die Produktionsinfrastruktur neu zu überdenken. Nicht mehr als Arbeitsstätten zur Schaffung von Konsumgütern, die unseren unhaltbaren Lebensstil befeuern, sondern als „negative Commons“, von denen man sich befreien muss, um sie sich angesichts des Klimas, das alles auf den Kopf stellt, besser kollektiv wiederaneignen zu können.
Diese bevorstehenden wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen sind nicht nur zum Schlechten. Eine Fabrik zu schließen, eine Infrastruktur zurückzubauen oder einen ganzen Wirtschaftszweig abzuschaffen muss nicht heißen, dass man einem früheren Zustand nachtrauert.
Es heißt im Gegenteil die Welt von morgen vorbereiten. Seinen Beruf zu verändern bedeutet, seinen Platz in der Wertschöpfungskette neu einzunehmen. Seine Erfahrung und sein Wissen einzubringen und aufzuwerten. Ein Gegenmittel herzustellen gegen Sinnverlust, Langeweile und Bullshit-Jobs. Es bedeutet, als Arbeiterin und Arbeiter die wertvollsten Werkzeuge zu gewinnen, die es gibt: Autonomie und Freiheit.
Der Artikel ist im Original auf Französisch bei Mediapart erschienen und wurde von H.L. für emanzipation ins Deutsche übersetzt.
Foto von Eric Christian King auf Unsplash.