Share This Article
Im folgenden Artikel geht die kalifornische Schriftstellerin und Aktivistin Raia Small der Frage nach, warum die nordamerikanische Linke in der COVID Pandemie keine umfassende emanzipatorische Perspektive entwickelt und durchzusetzen versucht hat, sondern in kleinteiliger Solidaritätsarbeit verharrte. Eine Antwort sieht sie darin, dass die Linke, insbesondere die Gewerkschaften und die in der demokratischen Partei organisierten Democratic Socialists of America (DSA), den grundsätzlich „gesundheitsextraktivierenden“ und ableistischen Charakter des Kapitalismus nicht ausreichend verstanden und in ihre politische Praxis integriert hätten. Der Fokus auf und die Fetischierung des „arbeitsfähigen Lohnarbeiters“ verstellt den Blick auf all jene, die unter kapitalistischen Arbeits- und Lebensverhältnissen ihre Gesundheit einbüßen. Entscheidend um Raia Smalls Argumentation zu folgen, ist ein umfassendes Verständnis von „disability“, das sie implizit zugrunde legt. Behinderung als Wechselwirkung von körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnes-Beeinträchtigungen mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren, die zu einer eingeschränkten gesellschaftlichen Teilhabe der betroffenen Menschen führt, betrifft gemäß WHO weltweit über einer Milliarde Menschen – 15 Prozent der Weltbevölkerung. Im Artikel bezeichnet der Begriff „disability/Behinderung“ auch Grunderkrankungen, welche gerade unter Corona das Risiko schwerer Krankheitsverläufe deutlich erhöhen, aber auch Langzeitfolgen, wie sie mit LongCOVID einhergehen.
Raia Small wirft eine Frage auf, die es auch für die deutschsprachigen Länder zu beantworten gilt. Mit „ZeroCovid“ gelang es hierzulande zwar Möglichkeiten linker Pandemiepolitik sichtbar zu machen, doch große Teile der deutschsprachigen Linken agierten (und agieren weiterhin) in Opposition dazu. Smalls Überlegungen können einen wichtigen Beitrag leisten und ermöglichen es über den geografischen Tellerrand zu blicken. Der Artikel ist im Original auf Englisch auf Midnight Sun, einem kanadischen Magazin für sozialistische Strategie, Analyse und Kultur, erschienen. (Red.)
Die COVID-19-Pandemie ist die weltweit schwerste Gesundheitskrise seit mindestens 100 Jahren. Die offizielle Zahl der Todesopfer liegt bei 6,5 Millionen Menschen weltweit; die Weltgesundheitsorganisation schätzt die tatsächliche Zahl der Todesopfer auf mindestens 15 Millionen[1] (eine laufend aktualisierte statistische Erhebung der weltweiten Übersterblichkeit der britischen Wochenzeitung The Economist geht aktuell sogar von rund 22,3 Millionen aus[2] – Anm. d. Red.). Wahrscheinlich leiden mehr als 100 Millionen Menschen an Long COVID[3] – und sind auch 12 Wochen nach der akuten COVID Infektion mitunter schwer krank – und wir wissen immer noch nicht, welche Auswirkungen eine COVID-Infektion fünf, zehn oder zwanzig Jahre später hat. In den Vereinigten Staaten, wo ich lebe, haben sich Lebenserwartung und Lebensqualität drastisch verschlechtert: Schwarze und Latinas haben durchschnittlich vier bzw. drei Jahre an Lebenserwartung verloren, und die durchschnittliche Lebenserwartung aller Bevölkerungsgruppen ist um 1,5 Jahre gesunken – der stärkste Rückgang seit dem Zweiten Weltkrieg[4]. Die Todesfälle konzentrierten sich auf bereits unterdrückte Bevölkerungsgruppen, insbesondere auf Schwarze, Latinas, indigene Völker und Arme. Die Sterblichkeitsrate von Landarbeiter:innen war 2,6-mal so hoch wie von “nicht-essentiellen” Arbeiter:innen[5]; die Sterblichkeitsrate von Beschäftigten in der Lebensmittelindustrie war in ähnlichem Ausmaß erhöht. Ältere und behinderte Menschen machen nach wie vor die Mehrheit der COVID-Toten aus. Das von der Regierung unterstützte Narrativ, dass es diesen Menschen “ohnehin nicht gut ging”, verdreht die Tatsache, dass die große Mehrheit von ihnen noch Jahre oder Jahrzehnte länger gelebt hätte, wenn sie sich nicht mit dem Virus infiziert hätten.
Vor dem Hintergrund dieses „sozialen Mordes“[6]– einer Form des verschärften Klassenkampfes, der von den Reichen geführt wird, die ihre Profite steigern, indem sie arme Menschen zwingen, mit unzureichendem Schutz inmitten von Infektionswellen weiterzuarbeiten – hat die organisierte Linke es versäumt zu zeigen, dass eine andere Pandemiebekämpfung möglich ist und dass unser Leben davon abhängt, dafür zu kämpfen.
Fragmentierung und kapitalistische Verstrickung
Die Pandemie berührt jeden Aspekt unseres Lebens als Menschen aus der Arbeiter:innenklasse: Sicherheit am Arbeitsplatz, Zugang zur Gesundheitsversorgung, Sicherheit in der Schule, unsere Fähigkeit, ältere Menschen zu pflegen oder unser Alter zu genießen, oder auch nur die Möglichkeit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, ohne den Tod oder schwere Krankheit zu riskieren. Für Menschen, die ein hohes Risiko für schwere Folgen von COVID haben – dazu gehören nicht nur immungeschwächte Menschen, sondern auch alle über 50-Jährigen, alle, die Bluthochdruck oder Diabetes haben oder übergewichtig sind oder an Asthma oder Depressionen leiden – ist die Teilhabe am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben zu einem täglichen Experiment geworden, bei dem sie den Tod oder einen Krankenhausaufenthalt riskieren. In der Zwischenzeit hat sich die politische Linke in den Vereinigten Staaten und Kanada merkwürdig zurückgehalten, wenn es darum ging, sich mit dem Versagen der Regierung bei der Pandemie auseinanderzusetzen. Ad-hoc-Gruppen zur gegenseitigen Hilfe entstanden im Jahr 2020 und leisteten wesentliche Hilfe, doch nur sehr wenige Gewerkschaften, gemeinnützige oder sozialistische Organisationen haben auf die Pandemie in einer Weise reagiert, die der Schwere und dem Ausmaß der Krise entspricht. Linke Gruppen in den USA haben sich vor allem im Rahmen des Wahlkampfs 2019 weiter organisiert und dabei die Themen Medicare for All, Erlass von Studienkrediten, Klimawandel und Wohnungsbau in den Vordergrund gestellt. Diese Themen bleiben wichtig, aber das umfangreiche Versagen der Linken, sich gegen den „sozialen Mord“ während der Pandemie zu organisieren oder ihn auch nur zu benennen, hat den Kapitalist:innen und ihren politischen Parteien Schützenhilfe gegeben. So konnte die Debatte über die Pandemiepolitik zwischen der extremen Rechten und der rechten Mitte geführt werden, und im Jahr 2022 hat sich die Einigkeit zwischen diesen Kräften darin gezeigt, dass die Maskenpflicht und kostenlose Tests abgeschafft wurden und die öffentliche Gesundheit den Unternehmensprofiten untergeordnet wird.[7]
Obwohl US-Präsident Joe Biden im Wahlkampf versprochen hatte, die Pandemie durch verstärkte staatliche Sicherheitsmaßnahmen wie Masken- und Impfpflicht einzudämmen und die Verteilung von Konjunkturschecks und Hilfsgeldern fortzusetzen, änderte er kurz nachdem die Impfstoffe eingeführt wurden seinen Kurs. Am 4. Juli 2021 (bei seiner Ansprache zum amerikanischen Unabhängigkeitstag – Anm. Red.) erklärte Biden, dass wir die “Unabhängigkeit”[8] von dem Virus fast erreicht hätten und COVID somit zu einer “Pandemie der Ungeimpften”[9] geworden sei. Damit wälzte er die Schuld für die COVID-Todesfälle von seiner Regierung auf die sterbenden Menschen selbst ab. Auch geimpfte Menschen starben, aber diese Daten wurden vom Center for Disease Control (CDC)[10] und der US-Bundesregierung[11] heruntergespielt. Damit begann die Phase der “individuellen Verantwortung” für die Pandemie: Standen bis zum Sommer 2021 noch weitgehend die Bundesstaaten in der Verantwortung für die von ihnen verursachten COVID-19-Todesfälle, wurden diese Todesfälle nun als persönliches Versagen von Einzelpersonen angesehen, die sich nicht richtig geschützt hatten. Die Ungeimpften für die anhaltende Pandemie verantwortlich zu machen, funktioniert rhetorisch ähnlich, wie Einwander:innen für sinkende Löhne verantwortlich zu machen: Es verlagert die berechtigte Wut über einen miserablen Zustand auf ein machtloses Ziel – und weg von der Regierung.
Wenn der Impfstoff das Zuckerbrot war, so war die Peitsche in den USA die Streichung der staatlichen Arbeitslosenunterstützung (die nach Ausbruch der Pandemie ab März 2020 Arbeiter:innen, die sonst keinen Anspruch gehabt hätten, Arbeitslosengeld ermöglichte). Konservative Gouverneur:innen und Unternehmer:innen hatten Monate damit verbracht, Lobbyarbeit gegen diese Beihilfe zu betreiben[12], die Millionen von Menschen aus der Armut befreite[13], vielen als systemrelevant geltenden Arbeiter:innen ermöglichte sich vor Ansteckung und Krankheit zu schützen, und damit unzählige Todesfälle verhinderte. Zugleich sahen die großen Gewerkschaften die Arbeitslosigkeit im Allgemeinen nicht als ihr Problem an. Angesichts fehlender Optionen kehrten die meisten Menschen stillschweigend zur Arbeit zurück, obwohl in den vorangegangenen anderthalb Jahren nichts getan worden war, um ihre Arbeitsplätze sicherer zu machen (die Bereitstellung kostenloser N95-Masken und verbesserte Luftfilter wären einfache, naheliegende Maßnahmen gewesen). Die kapitalistische Regierung bot den US-Arbeiter:innen keine echte Sicherheit, sondern die Teilnahme an einem nationalen Mythos der Unverwundbarkeit. In diesem Tun – dem Drängen auf die Wiederöffnung der Wirtschaft, dem Erklären des Endes eines erschütternden Jahres und der Rückkehr zu einer Art “Normalität” – stieß die Regierung auf wenig Widerstand aus allen Teilen des politischen Spektrums.
Ein Grund für die Schwierigkeiten der Linken, auf nationaler oder internationaler Ebene angemessen auf die Pandemie zu reagieren[14], ist die Verstrickung der Linken mit kapitalistischen politischen Parteien. Obwohl der kanadische Premierminister Justin Trudeau den rechten Trucker-Konvoi[15], der im Winter 2022 Ottawa besetzte, um ein Ende der Impfpflicht und anderer COVID-Schutzmaßnahmen zu fordern, schließlich zum Aufgeben brachte, dauerte es nur wenige Monate, dass alle kanadischen Provinzregierungen ihre COVID-Sicherheitsmaßnahmen beendet oder drastisch reduzierten. Damit haben sie praktisch vor den Forderungen des Konvois kapituliert. Obwohl die kanadische NDP (New Democratic Party) und die US-amerikanische Demokratische Partei die Arbeiter:innen angesichts COVID im Stich gelassen haben, zögerten die großen Gewerkschaften sie dafür zu kritisieren. In den USA haben sich Demokrat:innen wie Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez, die dem zentristischen Mainstream der Partei kritisch gegenüberstehen, seit Bidens Amtsantritt kaum zu COVID-19 geäußert. Damit konnten die Regierung und der Kongress ohne ernsthaften Druck von der linken Flanke der Partei dem Massensterben zusehen. Während eines öffentlichen Gesprächs[16] mit Ashish Jha, dem Coronavirus-Koordinator des Weißen Hauses, sagte Senator Sanders kürzlich: “Wir haben es mit einer COVID-Müdigkeit zu tun – die Leute haben es satt, ihre Masken zu tragen, sie haben es satt, nicht mehr in ein Restaurant oder ins Kino gehen zu können. Was sagen Sie zu diesen Menschen?” Sanders hätte die Schreckensbilanz von über einer Million Todesfällen und vielen Millionen neu erworbener Langzeiterkrankungen und Behinderungen benennen, das Versagen die Impfstoffpatente aufzuheben anprangern oder das Fehlen sozialer Unterstützung in Form von Arbeitslosengeld, universeller Gesundheitsfürsorge oder kostenlosen Tests und Impfstoffen kritisieren können. Doch stattdessen berief sich Sanders auf die von der Biden-Administration bevorzugte amerikanische Wähler:innenschaft: Weiße, aus der Mittelschicht, die nicht an den gesundheitlichen Folgen von COVID oder einer anderen Hochrisikokrankheit leiden, die sich keine Sorgen über ihren unsicheren Arbeitsplatz oder die bröckelnde Gesundheitsinfrastruktur in den USA machen, die es aber leid sind, eine Maske zu tragen, und die sich immer noch darüber ärgern, dass ihr konsumzentrierter Lebensstil im Interesse der öffentlichen Gesundheit im Jahr 2020 für ein paar Monate[17] eingeschränkt wurde.
Angesichts der Pandemie bestand die vielleicht häufigste Intervention linker Gruppen in ganz Nordamerika darin, Basisprojekte zur gegenseitigen Hilfe zu starten und Menschen in Not mit Lebensmitteln, Geld und anderen lebensnotwendigen Dingen zu versorgen. Kristen Smith, stellvertretende Programm-Vorsitzende der Democratic Socialists of America Disability Working Group (DWG), hat beobachtet, dass sich dieses Phänomen in der DSA ausgebreitet hat: “Gruppen, die sich in ihren eigenen Gemeinschaften organisieren, um sich gegenseitig zu unterstützen … das Ergebnis ist sehr dezentral”, sagt sie mir, “und es ist schwierig, sich auszutauschen, zu vernetzen und über die Gruppen hinweg zu unterstützen.” Solche lokal begrenzten Initiativen haben bei der Verteilung von Hilfsmitteln an Bedürftige und beim Aufbau neuer politischer Strukturen beeindruckende Arbeit geleistet. Die Kehrseite dieser Ausrichtung auf lokale gegenseitige Hilfe war ein Mangel an Geschlossenheit und gemeinsamen Kämpfen auf nationaler oder internationaler Ebene. Smith betont auch, dass die “Akutversorgung” in den Selbsthilfegruppen für die Beteiligten oft sehr anstrengend war und dass eine tiefere Auseinandersetzung mit aktivistischer Nachhaltigkeit und kollektiver Fürsorge notwendig ist, wenn sie weitergeführt werden sollen.
Genoss:innen tappen heute oft in die Falle, Behinderung und Altern als persönliche Probleme außerhalb der Politik oder, schlimmer noch, als persönliches Versagen zu betrachten. Wie Brynne Olsen, Kommunikationssekretärin der DWG der DSA, es ausdrückt: “Viele Genoss:innen erachten Behinderungsfragen als Identitätspolitik und nicht als Fragen der Emanzipation.” Im Mai kündigte das Nationale Politische Komitee (NPC) der DSA an, dass der Kongress 2023 – eine alle zwei Jahre stattfindende Veranstaltung, bei der die Sektionen gewählte Delegierte entsenden, um politische Entscheidungen zu treffen – persönlich abgehalten werden würde, ohne die Möglichkeit einer virtuellen Teilnahme. Als Antwort darauf organisiert die DWG (Disability Working Group) einen hybriden Kongress, an dem sowohl in Person als auch virtuell teilgenommen werden kann. Der Protokollführer der DWG, Brandon Hull, sagte mir, dass ein hybrider Kongress “nicht nur die Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen unterstützt, sondern es auch den Menschen aus der Arbeiter:innenklasse, die die DSA eigentlich vertreten und aus denen sie bestehen sollte, ermöglicht, sich sinnvoll am Kongress zu beteiligen. Viele Arbeiter:innen können sich nicht von der Arbeit freinehmen, oder können aus finanziellen, familiären oder anderen Gründen nicht anreisen. Die Entscheidung, den Kongress nur in Person vor Ort abzuhalten, würde viele Menschen mit Behinderungen und damit auch unsere Perspektive ausschließen und wäre Ausdruck einer klassistischen Entscheidung, die nicht berücksichtigt, wie schwierig und zeitaufwändig die Anreise für Menschen aus der Arbeiter:innenklasse sein kann.”
Es ist beunruhigend, dass das nationale Gremium der Democratic Socialists of America, der größten sozialistischen Organisation in den Vereinigten Staaten, die Beteiligung ihrer behinderten Mitglieder nicht als entscheidend für den Aufbau einer sozialistischen Bewegung im Land ansieht. Diese Haltung steht jedoch nicht im Widerspruch zu den Praktiken linker Gruppen im Allgemeinen. Wendi Muse, Doktorandin in Geschichte und Moderatorin des LeftPOC-Podcasts, erklärt mir: “Aufgrund von Ableismus fällt es den Leuten schwer, sich ihr eigenes Risiko einzugestehen. Wenn sie gesund in eine COVID-Erkrankung reingehen und beeinträchtigt wieder herauskommen, fällt es ihnen schwer, dies zuzugeben. Das ist ein Grund für die Zurückhaltung in der Linken, über dieses Thema zu sprechen. Wenn wir unsere Politik auf die Solidarität unter Arbeiter:innen ausrichten, was machen wir dann mit Menschen, die nicht arbeiten können? Wie können wir das einordnen? In der klassischen Linken geht es um Arbeit. Wenn wir Menschen haben, die keine Arbeiter:innen mehr sein können… wie gehen wir damit um?“ Die Fetischisierung des „fähigen Arbeiters“ macht andere Mitglieder der Arbeiter:innenklasse unsichtbar: kranke und behinderte Menschen sowie Menschen, die aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind. Sie macht sogar den weißen, männlichen Industriearbeiter unsichtbar, sobald ein Unfall oder eine Krankheit – seien es ein Arbeitsunfall, Depressionen oder COVID-19 – ihn aus der Fabrik ins Krankenhaus, in eine Reha-Einrichtung, in ein privates Zuhause oder ins Heimsystem bringt.
Ableismus ist konterrevolutionär
Dass wir als Linke es versäumt haben eine kritische Analyse von Behinderung und Ableismus zu integrieren, schadet unserer Vision und unserer Organisierungsfähigkeit. Der Kapitalismus selbst ist von Grund auf ableistisch: die Fähigkeit des Individuums, für Geld zu arbeiten, entscheidet darüber, ob es essentielle Grundbedürfnisse wie Nahrung und Wohnen decken kann. Der Kapitalismus sichert sein eigenes Überleben, indem er behinderte Menschen, die nicht arbeiten können, zusammen mit anderen Arbeitslosen zur Überschussbevölkerung erklärt. Deren Existenz zwingt die Beschäftigten dazu, schlechte Arbeitsbedingungen und geringe Bezahlung zu akzeptieren, um nicht selbst in die bittere Armut und Ausgrenzung zu geraten, die viele behinderte und arbeitslose Menschen erleben. Arbeit im Kapitalismus ist selbst ein „Prozess der Behinderung“, da die Arbeiter:innen aufgrund gefährlicher Arbeitsplätze, Arbeitsunfälle, einseitiger und widerholter Belastung und der mentalen und psychologischen Strapazen einer Arbeitskultur, die beinah ausnahmslos unnachhaltig ist, ausgezehrt werden.
In ihrem Buch Border and Rule argumentiert die Aktivistin und Autorin Harsha Walia: “Im Gegensatz zu neoliberalen Darstellungen von Behinderung (disability) als außergewöhnlich oder spezifisch, ist Erschöpfung/Schwäche (debility) die alltägliche, rassifizierte Biopolitik von ‘Arbeit und Krieg’.” Walia zeigt, dass Arbeit und Krieg zwei Methoden sind, um eine rassifizierte Arbeiter:innenklasse zu schwächen, indem Menschen ohne Eigentum als „verletzbar“ gelten – entweder als Ziel von Krieg und Gefangenschaft oder als Niedriglohnarbeiter:innen (oder beides). Wenn wir und unsere Organisationen diese Zusammenhänge nicht herstellen und Behinderung stattdessen als etwas Außergewöhnliches und Unpolitisches verstehen, beschränken wir den Horizont unserer Forderungen in der Pandemie, in der behinderte Menschen zu akzeptablen Opfern gemacht werden, damit der Kapitalismus ungestört weiterlaufen kann.
Beatrice Adler-Bolton, eine behinderte Künstlerin, Wissenschaftlerin und Moderatorin des linken Gesundheitspodcasts Death Panel[18], verweist darauf, dass die Vereinnahmung durch Eliten innerhalb der Behindertenrechtsbewegung ein Grund dafür ist, warum die heutige Linke sich schwer tut, eine angemessene Behindertenpolitik zu verfolgen. “Lange Zeit gab es in den USA eine Art von Behindertenaktivismus, der sich am neoliberalen Libertarismus orientierte. Behinderte Menschen müssen einen Platz am Tisch bekommen, sie müssen beschäftigt werden. Es ging um die Suche nach Repräsentation und Inklusion als Ausweg aus der Institutionalisierung”. Adler-Bolton verweist auf den weißen und bürgerlichen Charakter der Behindertenrechtsbewegung, die den Schwerpunkt auf den Zugang zu Beschäftigung und Bildung gelegt hat, anstatt das rassistische kapitalistische System zu reformieren. Dies sei eine wesentliche Erklärung für das gegenwärtige Versagen der Linken Behinderten- und Gesundheitsgerechtigkeit in die antikapitalistische Organisierung zu integrieren. “Diese Bewegungen [die Linke und der Behindertenaktivismus] haben sich voneinander abgekapselt”, sagt sie. “Wenn du dich für das Thema Behinderung interessierst, bist du vielleicht in der Behindertenbewegung und womöglich [separat davon] in linken Bewegungen. Genauso wie der Rest der Gesellschaft lange gebraucht hat, um zu verstehen, dass Behinderte überall um einen herum sind, hat die Linke in den USA im Vergleich zu anderen Ländern einen besonderen Nachholbedarf […].“
Im Gegensatz zu vielen heutigen Gewerkschaften räumte die frühe Gewerkschaftsbewegung dem Thema Behinderung als Teil der Arbeitsbedingungen Priorität ein. Adler-Bolton erzählt mir von einer frühen Eisenbahngewerkschaft[19], die ihre eigene Langzeitpflegeeinrichtung gründete, um Mitglieder zu unterstützen, die bei der Arbeit Hände oder Fingern verloren haben. “Die Gewerkschaft nahm [Arbeiter:innen] und ihre Familien in dieser Einrichtung auf, die sie gebaut hat, weil die Eisenbahngesellschaften die Arbeiter:innen im Stich ließen. Die Gewerkschaft gründete sich nicht nur, um die Arbeiter:innen vor weiteren Verletzungen zu schützen, sondern vor allem, um ihre Kamerad:innen zu schützen, die aus ihren Jobs geworfen wurden, mittellos waren und keinen Rechtsbehelf hatten.” Für Adler-Bolton verdeutlicht diese Geschichte, warum die Unterscheidung zwischen “Arbeiter:innen” und “arbeitslosen, behinderten Überschussbevölkerungen” falsch ist: wie Arbeit und Behinderung miteinander verwoben sind. “Im Kapitalismus sind wir alle krank, und wir werden alle durch die Arbeit krank gemacht – insbesondere in Zeiten von COVID.”
Auch außerhalb der formalen Arbeiter:innenbewegung ist ein linker Ansatz, der die zentrale Bedeutung von Behinderung für die Funktionsweise des Kapitalismus anerkennt, nicht neu. Im Jahr 1970 besetzten die Young Lords, eine Organisation, die für die Selbstbestimmung der Puertoricaner:innern und aller kolonisierten Menschen kämpfte, das Lincoln Hospital in der South Bronx, um eine bessere Gesundheitsversorgung zu fordern[20]. 1977 besetzten Aktivist:innen für Behindertenrechte 26 Tage lang ein Bundesgebäude in San Francisco und forderten das Recht auf Zugang zu allen Dienstleistungen, die vom Bund finanziert werden[21]: Krankenhäuser, Universitäten, Schulen, öffentliche Verkehrsmittel, Regierungsgebäude, Bibliotheken und vieles mehr. Dieses Sit-in wäre ohne die Unterstützung der Black Panther Party, der Gay Men’s Butterfly Brigade und der United Farm Workers, die die Besetzung mit Essen und persönlicher Betreuung versorgten und Sicherheit gewährleisteten, nicht erfolgreich gewesen. Diese Gruppen haben verstanden, dass ihre Mitglieder ein Interesse an den Rechten von Behinderten haben, unabhängig davon, ob sie selbst behindert sind oder nicht.
Die Linke muss sich gegen den pandemischen Ableismus zusammenschließen, nicht aus Gutwilligkeit oder Mitleid gegenüber behinderten Linken, sondern um das Überleben unserer Bewegung zu sichern. Organisationen schränken ihre potenzielle Mitgliedschaft ein, wenn sie die Organisierungspraktiken aus der Zeit vor der Pandemie romantisieren, als alles persönlich stattfand und diejenigen, die aufgrund einer Behinderung oder Krankheit, fehlender Transportmöglichkeiten, eines Arbeitskonflikts oder familiärer Betreuungspflichten nicht kommen konnten, einfach nicht mitmachen konnten. Wenn die Gewerkschaften nicht verstehen – oder nicht danach handeln -, dass die knappen, an der Armutsgrenze angesiedelten Invaliditätsleistungen und die Abschaffung der pandemischen Arbeitslosenunterstützung politische Angriffe auf alle Arbeiter:innen sind, deren Ausbeutung mit dem parallelen Elend der Arbeitslosigkeit zusammenhängt, verpassen sie eine wichtige Gelegenheit, die Macht der Arbeiter:innenklasse als Ganzes zu stärken. Die letzten zwei Jahre waren ein Höhepunkt für die gewerkschaftliche Organisierung: Von den Amazon-Lagern bis zu den Starbucks- und Trader Joe’s-Filialen haben wir einen Aufschwung der Organisierung neuer Arbeiter:innen in den Bereichen Logistik, Einzelhandel und Dienstleistungen erlebt. Bei einigen dieser Aktivitäten stand die COVID-Sicherheit im Vordergrund, so z. B. im Januar 2022, als die Chicagoer Lehrer:innengewerkschaft beim Ausbruch der Winter-Omicron-Welle Präsenzarbeit ohne angemessene Schutzmaßnahmen ablehnte[22]. Diese Arbeiter:innen organisierten sich in dem Bewusstsein, dass es ihnen zwar im Moment gut gehen mag, dass aber die Bedingungen ihrer Arbeit zu Behinderungen führen oder sie gar umbringen könnten, und dass ihre Chefs, wie die Regierung insgesamt, kein besonderes Interesse daran zeigen, diese Folgen zu verhindern.
Trotz dieser starken Gewerkschaftsaktionen wurden die COVID-Maßnahmen für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz in Klassenzimmern, Krankenhäusern, Lagerhäusern, Restaurants, Lebensmittelgeschäften und Verkehrsbetrieben in ganz Nordamerika zurückgenommen. Wir haben den Triumph einer kapitalistischen Ideologie erlebt, die uns einredet, dass wir weiterarbeiten sollten, wenn wir krank werden, und dass es unsere eigene Schuld ist, wenn wir sterben oder eine Behinderung davontragen. Um die herrschende Klasse, die in den letzten zwei Jahren Rekordgewinne gemacht hat, und die politischen Parteien, die für sie die Geschäfte führen, herauszufordern, müssen wir kollektive Aktionen organisieren, die Brücken zwischen unseren einzelnen Arbeitsplätzen, Themen oder Identitäten bauen. Wir müssen als Lehrer:innen, Pflegekräfte, Schulpersonal, Einzelhandelsangestellte, Senior:innen und Behinderte, deren Leben immer gefährlicher und isolierter wird, zusammenarbeiten. Nur gemeinsam können wir die Produktion und den Konsum stilllegen um öffentliche Gesundheitsmaßnahmen zu fordern, die das Leben über den Profit stellt. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir die Pandemie als das bezeichnen, was sie ist: eine Übung in Eugenik, ein Massenbehinderungsevent und eine Eskalation des rassifizierten Klassenkampfes. Es ist nicht Aufgabe der Linken die Darstellung der Ereignisse zu akzeptieren, die uns von den Medien und den Regierungsvertreter:innen geliefert wird – “die Pandemie ist vorbei” -, sondern unsere eigene zu entwerfen. Wir sollten uns gegenseitig zeigen, wie viel mehr Menschenleben bewahrt werden könnten durch allgemeine kostenlose Gesundheitsversorgung und kostenlose Wohnungen, die Abschaffung von Gefängnissen, Grenzen und Pflegeheimen sowie eine umfassende Maskenpflicht, die Verbesserung der Belüftung und überall zugängliche Tests. Wir müssen keine Masseninfektionen hinnehmen. Um diese und die nächste Pandemie zu überleben, müssen wir begreifen, dass wir alle ein Interesse daran haben, dieses extraktive System zu verändern. Und dass wir gemeinsam die Macht haben, es abzuschaffen.
Referenzen
Bildquelle: Photo by Volodymyr Hryshchenko on Unsplash
[1] https://www.nature.com/articles/d41586-022-01245-6
[2] https://www.economist.com/graphic-detail/coronavirus-excess-deaths-estimates
[3] https://www.nature.com/articles/d41586-022-00334-w
[4] https://www.npr.org/sections/coronavirus-live-updates/2021/07/21/1018590263/u-s-life-expectancy-fell-1-5-years-2020-biggest-drop-since-ww-ii-covid
[5] https://www.news-medical.net/news/20220405/New-US-COVID-mortality-data-by-occupation.aspx
[6] https://blog.petrieflom.law.harvard.edu/2022/03/21/depoliticizing-social-murder-covid-pandemic/
Anm. d. Red: der Begriff geht auf Friedrich Engels „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ zurück. http://www.mlwerke.de/me/me02/me02_256.htm
[7] https://www.reuters.com/world/us/us-airline-ceos-urge-biden-lift-covid-mask-mandate-letter-2022-03-23/
[8] https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2021/07/05/remarks-by-president-biden-celebrating-independence-day-and-independence-from-covid-19/
[9] https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2021/07/05/remarks-by-president-biden-celebrating-independence-day-and-independence-from-covid-19/
[10] https://www.nytimes.com/2021/05/25/health/cdc-coronavirus-infections-vaccine.html
[11] https://blindarchive.substack.com/p/death-panel-podcast-covid-year-2
[12] https://azgovernor.gov/governor/news/2021/05/governor-ducey-announces-arizona-back-work
[13] https://www.nelp.org/publication/unemployment-insurance-kept-4-7-million-people-out-of-poverty-in-2020/
[14] https://rabble.ca/columnists/the-left-is-nowhere-on-covid-and-thats-a-big-problem/
[15] https://www.midnightsunmag.ca/fascism-is-as-canadian-as-the-maple-leaf/
[16] https://www.youtube.com/watch?v=SkvbuPAdNSY
[17] https://www.cnbc.com/2020/04/30/coronavirus-states-lifting-stay-at-home-orders-reopening-businesses.html
[18] https://www.deathpanel.net/
[19] https://www.encyclopedia.com/history/encyclopedias-almanacs-transcripts-and-maps/brotherhood-railroad-trainmen
[20] https://www.zinnedproject.org/materials/takeover/
[21] https://www.atlasobscura.com/articles/504-sit-in-san-francisco-1977-disability-rights-advocacy
[22] https://truthout.org/articles/as-covid-surges-teachers-in-chicago-are-up-against-a-wall-of-neoliberal-cruelty/