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Geopolitische Konflikte und das Recht der Taiwaner*innen auf Selbstbestimmung
Pierre Roussets Artikel über die Taiwan-Politik der VR China erschien ursprünglich Anfang September auf Englisch in International Viewpoint. Unmittelbarer Anlass war der Taiwanbesuch der Sprecherin des US-Repräsentant:innenhauses, Nancy Pelosi. Auch wenn der Text trotz seines insgesamt eher einführenden Charakters Hintergrundwissen voraussetzt und einige wichtige Aspekte wie etwa die Perspektive der sozialen und politischen Bewegungen in der VR China und Taiwan nur am Rande erwähnt, erscheint es uns wichtig, ihn als ersten „Aufschlag“ und Überblick zu einem Thema zu veröffentlichen, das uns in der nächsten Zeit noch häufiger beschäftigen wird. Insbesondere halten wir auch Roussets Schlussfolgerung für richtig, dass „wir angesichts der geopolitischen Herausforderungen die Solidarität mit den Taiwaner*innen nicht vergessen“ dürfen. (Red.)
Anfang August stiegen die Spannungen nach dem Blitzbesuch von Nancy Pelosi in Taipeh, der Hauptstadt Taiwans, und der “Überreaktion” Beijings um ein (großes) Stück an. Auch wenn die Invasion der Insel zu diesem Zeitpunkt nie auf der Tagesordnung stand, beschleunigt sich die Dynamik der Militarisierung der asiatisch-pazifischen Region und der Konflikt zwischen China und den Vereinigten Staaten verschärft sich. Geopolitische Bedenken sollten jedoch nicht das Recht der Taiwaner*innen auf Selbstbestimmung überschatten. Einen Monat später wollen wir versuchen, eine Bestandsaufnahme zu unternehmen.
Die Präsidentin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, ist in der Washingtoner Protokollordnung die dritte Person im Staate, nach Präsident Joe Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris. Ihr Zwischenstopp in Taiwan am 2. und 3. August im Rahmen einer Asienreise hatte daher erhebliches politisches Gewicht und es war zu erwarten, dass Beijing reagieren würde.
Dieser Besuch wurde in den herrschenden Kreisen der Vereinigten Staaten offenbar nicht einhellig gebilligt, da der Generalstab ihn für unangemessen hielt und Joe Biden es vorgezogen hat, auf Distanz zu gehen[1] – was Xi Jinping dazu ermutigt haben könnte, seine Stimme zu erheben, indem er unter anderem Militärübungen anordnete, deren Umfang und Aggressivität ein gutes Stück über das hinausging, was bei früheren Anlässen zu beobachten war, tatsächlich sogar um einiges über dem lag, was die meisten Beobachter erwartet hatten. Wie der taiwanische Journalist Brian Hioe feststellt, wurden Raketen über Taipeh abgefeuert, und die Marineluftstreitkräfte der Volksarmee drangen weiter in die taiwanische Luftverteidigungszone und in den Seeraum ein.
Noch wichtiger ist, dass Tokio und Seoul direkt involviert waren. Raketen schlugen in Japans ausschließlicher maritimer Wirtschaftszone ein, was das japanische Verteidigungsministerium als vorsätzlichen Akt verurteilte.[2] Auch die chinesische Marine manövrierte nicht weit von den umstrittenen Inseln des Senkaku/Diaoyu-Archipels entfernt.[3] Dasselbe tat sie vor der südkoreanischen Halbinsel, im Gelben Meer und im Golf von Bohai.
Brian Hioe zufolge hat Beijingmit dem Angriff auf diese beiden Länder, die sehr stark in das US-Militärsystem in der Region eingebunden sind (siehe insbesondere die Bedeutung der US-Stützpunkte auf der Insel Okinawa), eine Präventivmaßnahme durchgeführt, um andere asiatisch-pazifische Staaten zu warnen, die gewillt sind, Taiwan zu helfen. Diese Warnung könnte sich als verfrüht erweisen und diese Staaten ermutigen, angesichts der chinesischen Drohungen geschlossen aufzutreten, so die Meinung des Journalisten Brian Hioe.[4]
Einerseits ist die gegenwärtige Krise aktiver als die vorangegangenen in die Dynamik des strategischen Konflikts zwischen China und den Vereinigten Staaten eingebunden; andererseits steht die “taiwanische Frage” mehr als in der Vergangenheit im Mittelpunkt der geopolitischen Neuordnung, an der alle Mächte der Region, einschließlich Indien und Japan, beteiligt sind.[5] Dieser Prozess der Neuordnung hat begonnen, ist aber noch lange nicht abgeschlossen. Machtfragen sind in Asien nicht überall gleich gelagert. Indien reagiert zwar “präsent” auf die von Washington geforderte antichinesische Front, weigert sich aber, das Gleiche gegenüber Russland zu tun, mit dem es tiefe und historische Kooperationsbeziehungen unterhält.[6] Die Zusammenarbeit zwischen Japan und Südkorea steht unter einem gewissen Spannungsverhältnis, vor allem angesichts der kolonialen Vergangenheit, die vom letzten Premierminister, dem verstorbenen Abe Shinzo, wieder ins Gedächtnis gerufen wurde, und einer Anhäufung von aufeinander folgenden Verträgen, wie die japanische Journalistin Karen Yamanaka für Nordostasien – nämlich Japan, Südkorea und die USA – feststellte.[7]
Die vierte Krise in der Meerenge von Taiwan ist jedoch vorerst noch vorsichtig austariert worden. Die Invasion der Insel stand zu diesem Zeitpunkt nie auf der Tagesordnung. Es gab keine Mobilisierung von Ressourcen und Truppen in einem Ausmaß, das mit dem der Invasion in der Ukraine vergleichbar war. Die Taiwaner*innen setzten ihre täglichen Aktivitäten fort, als ob nichts geschehen wäre.[8] Beijing ließ schnell verlauten, dass seine großen Marineluftmanöver nach fünf Tagen enden würden.
Auch wenn die Übungen Anfang August “dosiert ” waren, so sind sie doch Teil einer Zunahme der geopolitischen Konflikte zwischen den USA und China, insbesondere im asiatisch-pazifischen Raum. Sie sind wahrscheinlich ein Zeichen dafür, dass mehr auf dem Spiel steht und dass die Ära eines regionalen Gleichgewichts, das dank der “Ambiguität” unter Spannung gehalten wurde, zu Ende gegangen ist.
Auf dem Weg zum Ende des Status quo ante, der auf “strategischer Ambiguität” beruhte?
Taiwan ist de facto ein unabhängiger Staat, hat sich aber nie als solcher deklariert, und Washington hat es sorgfältig vermieden, zu erklären, wie weit seine Unterstützung im Falle eines offenen Konflikts gehen könnte. Seit der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen mit der Volksrepublik im Jahr 1979 haben die Vereinigten Staaten “anerkannt” [acknowledged], dass Taiwan für Beijing eine chinesische Provinz ist, aber sie haben diese Position nicht übernommen [endorsed].[9] Die diplomatischen Texte lassen Raum für verschiedene Interpretationen (von welchem China sprechen wir?)[10], die chinesische und die englische Fassung können voneinander abweichen.
Die KPCh ihrerseits hat in den letzten Jahren immer wieder ihre Auslegung der Ein-China-Politik bekräftigt (die zum Ausschluss Taiwans aus den internationalen Institutionen der UNO geführt hat[11]) und ihre Gebietsansprüche aufrechterhalten, indem sie regelmäßig Routine-Militärübungen in der Meerenge durchführt, ohne sich jedoch auf einen Showdown einzulassen.
Für viele Analyst:innen hat diese Politik der Ambiguität alle ihre “Vorzüge” behalten. Sie ermöglicht es den Vereinigten Staaten, Taiwan die Mittel zur Selbstverteidigung an die Hand zu geben, ohne zu sagen, ob die US-Luftstreitkräfte im Falle eines Konflikts weiter eingesetzt werden würden. In ihren Augen sollten heute, nach den jüngsten Ereignissen, die auf die Ankunft von Nancy Pelosi, die Verhärtung des Xi Jinping-Regimes und die Diskussion in Washington über den Taiwan Policy Act folgten, die Bedingungen für ihre Wiedereinführung zum Wohle aller von den betroffenen Regierungen wieder hergestellt werden.[12] Der Vorschlag ist vernünftig, aber ohne der Zukunft vorgreifen zu wollen, würde er eine echte Umkehrung der gegenwärtigen Dynamik bedeuten.
Eric Chan, ein hochrangiger Spezialist der US-Luftwaffe und Non-Resident Fellow am Global Taiwan Institute[13] versucht, die vierte Krise in der Taiwanstraße historisch einzuordnen. Die in den USA regelmäßig zu hörenden Alarmrufe über die bevorstehende globale militärische Überlegenheit Chinas, die den Interessen des Pentagons (das nach Haushaltserhöhungen giert) und des militärisch-industriellen Komplexes dienen, sind mit Vorsicht zu genießen, aber darum geht es Chan nicht. Er geht auf die Abfolge der Ereignisse seit 1989 und die massive Unterdrückung der Volksbewegungen in China ein, die das Gefühl der Verwundbarkeit der KPCh gegenüber Washington verstärkt haben: der Golfkrieg (1991), die dritte Krise in der Straße von Taiwan (1996), der “versehentliche” Bombenanschlag auf die chinesische Botschaft in Belgrad (1999), die Sonnenblumenbewegung in Taiwan (2014, siehe unten) und der von Xi Jinping nach seinem Machtantritt (Ende 2012) schrittweise vollzogene Kurswechsel: Militarisierung des Südchinesischen Meeres (2015), Niederschlagung der Mobilisierungen in Hongkong gegen das Gesetz über die Auslieferung von Einwohner:innen an das chinesische Festland (2019-2020) – und das alles, ohne einen Preis auf internationaler Ebene zu zahlen. Er kommt zu dem Schluss:
„Ich glaube, dass die ‚strategische Ambiguität‘ aus mehreren Gründen zunehmend an Bedeutung verliert. Erstens: Xi Jinping ist mit der strategischen Geduld der VR China nicht zufrieden, die Teil des Kontextes für die strategische Zweideutigkeit der USA war. Zweitens glaubt Xi nicht, dass sich die USA an die strategische Ambiguität halten; für ihn ist sie vielmehr nur dem Namen nach eine strategische Ambiguität. Drittens: Während die VR China im gesamten DIME-Spektrum (Diplomatie, Information, Militär und Wirtschaft) sowohl gegenüber Taiwan als auch gegenüber den USA aggressiver geworden ist, hat die US-Regierung insgesamt – und insbesondere der Kongress – Taiwan gegenüber deutlich an Sympathie gewonnen. Viertens soll die strategische Zweideutigkeit der USA Taiwan auch davon abhalten, offiziell die Unabhängigkeit anzustreben. Dies ist nun nicht mehr relevant, da die PLA nun voll und ganz zu dieser Abschreckung in der Lage ist.“
Da Xi mit ziemlicher Sicherheit seine Kampagne der Nötigung und der legalen Kriegsführung gegen Taiwan fortsetzen wird, wird der Druck gegen die strategische Ambiguität in den USA weiter zunehmen, wie Vorschläge wie der Taiwan Policy Act zeigen.
Wir sind also in eine “Grauzone” zwischen Krieg und Frieden eingetreten, in der Beijing eher auf die Aufrechterhaltung einer ständigen militärischen Bedrohung als auf diplomatische Vereinbarungen setzt, um Taipeh von einer Unabhängigkeitserklärung abzuhalten. Dies geschieht derzeit in Form eines latenten Drohnenkriegs, zunächst mit zivilen, dann mit militärischen Drohnen. Am 1. September schoss Taiwan zum ersten Mal eine chinesische Drohne in der Nähe der Löweninsel ab, einem taiwanischen Verteidigungsposten unweit von Xiamen auf dem chinesischen Festland. Wenige Tage später drang eine Militärdrohne in Begleitung von acht Flugzeugen in die Identifikationszone der taiwanischen Luftverteidigung ein, ohne den taiwanischen Luftraum zu durchqueren.
Das taiwanische Verteidigungsministerium warnte Ende August, dass die taiwanischen Streitkräfte Vergeltung üben würden, wenn chinesische Flugzeuge oder Schiffe die 12-Seemeilen-Grenze überschreiten. Die Bereitschaft für einen Konflikt ist wahrscheinlich unterschiedlich groß. Der Militärhaushalt wird ständig erhöht (um 12,9 Prozent im nächsten Jahr, auf insgesamt 415,1 Milliarden Dollar). Die Regierung Biden hat gerade einen Waffenverkauf an Taiwan im Wert von 1,1 Milliarden Dollar angekündigt (Harpoon-Luft-See-Raketen, Sidewinder-Luft-Luft-Raketen, logistische Unterstützung für das Überwachungsradarprogramm usw.). Gleichzeitig haben Washington und Taipeh beschlossen, formelle Handelsverhandlungen aufzunehmen, um insbesondere die Belastbarkeit der Lieferketten, vor allem für Halbleiter, zu gewährleisten. Diese Verpflichtungen werden von Beijing natürlich abgelehnt.
Allerdings zeichnen sich Meinungsverschiedenheiten zwischen hohen Militärs und Staatspräsidentin Tsai über die strategische Vorbereitung der Insel ab. Letztere muss eine schwierige Gleichung lösen: Entschlossenheit zeigen, ohne die Bevölkerung zu beunruhigen oder die Verantwortung für eine mögliche Eskalation zu tragen. Zugleich benötigt das Land einen großen Zustrom von Arbeitskräften, um die Entwicklung seiner Wirtschaft zu unterstützen, und muss den Einwanderungswilligen Sicherheit versprechen.
Die Bedeutung des Antikriegskampfes
Es ist müßig zu versuchen, herauszufinden, wer damit begonnen hat, das bisherige “Gleichgewicht in der Ambiguität” zu stören. Xi Jinping selbst hat dazu beigetragen, als er laut und deutlich verkündete, dass die Insel unter seiner Präsidentschaft (also in naher Zukunft) zurückerobert werden würde, notfalls mit Gewalt. Die Taiwaner:innen sind heute Geiseln eines geopolitischen Konflikts, der sie nichts angeht. Die jüngste Krise in der Meerenge ist nicht die Ursache für die Zunahme der geopolitischen Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und China, sondern vielmehr deren Folge. In diesem globalen Kontext kommt der taiwanischen Frage zweifellos eine besondere Bedeutung zu, da das Land im Herzen des ultramilitarisierten Südchinesischen Meeres liegt und sein wirtschaftliches Gewicht, ebenso wie sein technologischer Erfolg, in keinem Verhältnis zu seiner Größe (23 Millionen Einwohner:innen) stehen.
Von Provokation zu Provokation, von Sanktion zu Sanktion wird eine infernalische Spirale der Militarisierung und ein neues Wettrüsten in Gang gesetzt. Washington baut seine militärische Präsenz vor Taiwan nachhaltig aus. Die japanische Regierung strebt eine vollständige Aufrüstung (auch im Nuklearbereich) an und beteiligt sich aktiv an großen Seeluftübungen mit den Vereinigten Staaten, die ihre Zusammenarbeit mit Australien verstärken. China nimmt in Sibirien an großen Militärmanövern mit Russland teil. Jede Macht betrachtet die Aktionen ihres Gegners als aggressiv und die eigenen als defensiv.
Die indische Regierung ihrerseits hat die “Militarisierung der Straße von Taiwan” durch Beijing angeprangert. Ein ungelöster Konflikt über die Grenzziehung im Himalaya ist zwischen Indien und China seit langem anhängig, wo es immer wieder zu militärischen Spannungen kommt. Beide Länder sind auch in einen Kampf um regionalen Einfluss verwickelt, der sich insbesondere in Sri Lanka bemerkbar macht. Dies wäre jedoch das erste Mal, dass Neu-Delhi in dieser Form speziell in Bezug auf die Straße von Taiwan interveniert.[14]
Vor nicht allzu langer Zeit – insbesondere im Jahr 2014, als Xi Jinping bereits an der Macht war –- hatten Beijing und Washington ein komplexes Verhältnis von Konkurrenz und Zusammenarbeit.[15] Der Versuch, die Zukunft vorherzusagen, erweist sich heute als besonders unsicher, aber es ist schwer vorstellbar, wie wir jetzt zu einer solchen geopolitischen Konfiguration zurückkehren könnten!
Während Xi Jinping die Rückeroberung Taiwans zu einem echten Fixpunkt seiner Präsidentschaft gemacht hat, ist sich in den Vereinigten Staaten der Großteil der politischen Klasse in dieser Frage einig. Dennoch scheint es schwierig vorherzusagen, wie sich die Regimekrise, die die Vereinigten Staaten derzeit durchmachen, auf die Politik Washingtons im Südchinesischen Meer auswirken wird.
Taipeh ist bei gewählten amerikanischen Politiker:innen, insbesondere bei Mitgliedern der Republikanischen Partei (die die Initiative der Demokratin Nancy Pelosi unterstützt hat), zu einem sehr beliebten Reiseziel geworden. Diese Reisen können durchaus eine seltsame Wendung nehmen, wie die der Senatorin Marsha Blackburn, einer begeisterten Anhängerin von Donald Trump. Sie sprach bei einem Treffen mit Präsidentin Tsai Ing-wen (die sich mit solchen Äußerungen zurückhält) von Taiwan als unabhängigem Land, ein wirklicher diplomatischer Schnitzer, und sie besuchte auch die Gedenkhalle von Chiang Kai-shek, während die Regierungspartei des Gastlandes, die Demokratische Fortschrittspartei, der Meinung ist (mit gutem Grund!), dass er der Insel ein besonders repressives Diktaturregime aufgezwungen hat.[16]
Nur wenige Taiwaner:innen sprechen sich heute für eine formelle Unabhängigkeitserklärung unter den gegenwärtigen Umständen aus. Könnte es sein, dass die amerikanische extreme Rechte versucht, das “Ultra”-Lager zu stärken? Das wäre ein Spiel mit dem Feuer.
Der Konflikt zwischen der inzwischen zweiten Weltmacht (China) und der etablierten Macht (USA) ist in eine neue Phase eingetreten. Die Frage, die sich uns heute stellt, ist nicht, sich angesichts einer solchen Konfrontation für eine Seite zu entscheiden. Die Folgen dieser Konfrontation werden für die Menschheit katastrophal sein und der Klimakrise (nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine) einen kräftigen Schub geben.
Die Stärkung (wo es sie gibt) und der Wiederaufbau (wo dies nicht der Fall ist) einer großen einheitlichen antimilitaristischen Bewegung steht mehr denn je auf der Tagesordnung, wobei insbesondere die Entmilitarisierung und Entnuklearisierung von Konfliktzonen, beginnend mit dem Südchinesischen Meer, im Blickpunkt steht.[17]
In Nordostasien (in Japan und Südkorea), Südostasien und Südasien (unter Beteiligung von Pakistaner:innen und Inder:innen) gibt es solche Bewegungen. Mobilisierungen gegen die globale Erwärmung sollten, sofern dies noch nicht geschehen ist, die Antikriegsdimension aktiv einbeziehen, so dass letztere im Gegenzug eine wirklich internationale Dimension erhält.
Die notwendige Solidarität mit den Taiwaner*innen
Schließlich – und das ist nicht die unwichtigste Frage – dürfen wir angesichts der geopolitischen Herausforderungen die Solidarität mit den Taiwaner:innen nicht vergessen.
Die komplexe Geschichte der Insel unterscheidet sich deutlich von derjenigen des chinesischen Festlandes.[18] Die Kommunistische Partei Chinas erkannte zur Zeit Mao Zedongs lange Zeit die Unabhängigkeit der Insel an, bevor diese Frage zu einem Schlüsselthema in ihrem Kampf gegen die Kuomintang (KMT) von Chiang Kai-shek wurde.[19]
In der Vergangenheit war die Insel nur sehr kurz und ungleichmäßig von einer chinesischen Kaiserdynastie integriert – außerdem rechtfertigt eine alte Oberherrschaft (real oder legendär) für sich genommen niemals einen aktuellen Gebietsanspruch. Die unbewohnten Riffe und kleinen Inseln des Chinesischen Meeres wurden von allen Fischern der Region genutzt, und die “Entdeckung” einer chinesischen Münze ehrwürdigen Alters (die vielleicht von nationalistischen Historikern, die sie ausgegraben haben, bequemerweise dort vergraben wurde) ändert nichts daran und rechtfertigt in keiner Weise die “Inbesitznahme” dieser gesamten Meereszone durch Beijing.
Taiwan ist kein “Felsen” (eine unglückliche Formulierung von Noam Chomsky in einem vor kurzem erschienenen Interview, die im Widerspruch zu seinen früheren Äußerungen steht[20]), sondern ein Land. Was zählt, ist das aktuelle Gefühl der Menschen, die sich nicht als Teil von Xi Jinpings China sehen. Darauf weisen nicht nur Meinungsumfragen hin[21], auch die Zeitgeschichte bestätigt dies:
Als sich die Kuomintang von Chiang Kai-shek mit Waffen und Ausrüstung auf die Insel zurückzog, zwang sie der lokalen Bevölkerung ihre Diktatur auf. Als China seine bürgerliche Konterrevolution durchführte, wurden die KPCh und die KMT, gestern noch eingeschworene Feinde, zu zwei komplizenhaft miteinander verbundenen totalitären Parteien – miteinander verschworen bei der Unterdrückung und Ausbeutung der Inselbevölkerung. Im Jahr 2014 löste die Unterzeichnung eines chinesisch-taiwanischen Freihandelsabkommens eine von Student:innen angeführte Revolte aus, die als Sonnenblumen-Bewegung (oder 318-Bewegung) bekannt wurde und zu einer 24-tägigen Besetzung des Legislativ-Yuan (Parlament) und einer Unterstützungsdemonstration von einer halben Million Menschen führte. Daraufhin wurde trotz der Repressionen ein tiefgreifender Demokratisierungsprozess eingeleitet, der schließlich zur Errichtung eines bürgerlich-demokratischen Regimes führte, das demokratischer ist als das in vielen westlichen Ländern bestehende.
Ursprünglich hoffte Xi Jinping, die Vorherrschaft in Taiwan wiederzuerlangen, indem er die KMT-Netzwerke nutzte, große wirtschaftliche Gewinne in Aussicht stellte und eine “Ein Land, zwei Systeme”-Lösung vorschlug, wie sie in Hongkong nach der Rückgabe der ehemaligen britischen Kolonie (1997) eingeführt worden war: Durch die formale Eingliederung in die Volksrepublik würde Taiwan zwar seine Souveränität in bestimmten wichtigen Bereichen (Außen- und Militärpolitik usw.) verlieren, aber sein politisches und rechtliches System sowie seine bürgerlichen Freiheiten behalten. Ein Versprechen, das an Überzeugungskraft verlor, als Xi selbst diese Vereinbarungen brach, um eine Politik der erzwungenen “Normalisierung” zu betreiben, die dazu führte, dass Beijing eine diktatorische Kontrolle über die “Sonderverwaltungszone” (die offizielle Bezeichnung für das Gebiet Hongkong) ausübte.[22]
Da es Xi Jinping nicht gelungen ist, die Bevölkerung der Insel mit Zuckerbrot und Peitsche zu überzeugen, greift er nun zu plumpen militärischen Drohungen. Dabei erkennt er selbst, dass die Taiwaner*innen wirklich keinen Geschmack an seinem Regime haben!
Der Text erschien ursprünglich auf Englisch in International Viewpoint und wurde von Harald Etzbach übersetzt.
Referenzen
Bildquelle: privat
[1] Politico, 1. August 2022 “Pelosi heads to Taiwan despite warnings from Xi and Biden”.
[2] Kosuke Takahashi, The Diplomat, 5. August 2022, “China’s Live-Fire Drills Near Taiwan Send Ballistic Missiles Into Japan’s EEZ”.
[3] Senkaku ist der japanische Name dieses Archipels, Diaoyutai der chinesische Name.
[4] Brian Hioe, New Bloom, 21. August 2022, “How Should Taiwan Find A Path Out of Regional Escalation?”.
[5] Karen Yamanaka, 18. August 2022, “Taiwan Strait Crisis: for the right to peace and security in East Asia”.
[6] Anuradha Chenoy, Rosa Luxemburg Stiftung, 13. Mai 2022, “Why India Won’t Take Sides”.
[7] Karen Yamanaka, 5. Juli 2022, “Military Alliances Aiming for Another “NATO” in East Asia”.
[8] Brian Hioe, The Guardian, 3. August 2022, “China and the US are facing off – and in Taiwan we are caught between them”.
[9] Jessica Drun, Centre for Advanced China Research, 28. Dezember 2017, “One China, Multiple Interpretations”.
[10] Der vollständige Satz lautet wie folgt: Die USA “erkennen an (meine Hervorhebung), dass alle Chinesen auf beiden Seiten der Straße von Taiwan erklären, dass es nur ein China gibt und dass Taiwan ein Teil von China ist. Die Regierung der Vereinigten Staaten stellt diese Position nicht in Frage. Sie bekräftigt ihr Interesse an einer friedlichen Lösung der Taiwan-Frage durch die Chinesen selbst.” (Foreign Relations of the United States, 1969-1976, Band XVII, China, 1969-1972 –- Office of the Historian: https://history.state.gov/historicaldocuments/frus1969-76v17/d203).
Die USA haben sich gegen die Unabhängigkeit Taiwans ausgesprochen (was bedeuten würde, dass die ROC offiziell durch so etwas wie die “Republik Taiwan” ersetzt würde), aber sie haben sich auch gegen jede einseitige Änderung seitens der VR China ausgesprochen. Die USA haben sich auch in der Frage, zu welchem China Taiwan gehört, zur VR China oder zur ROC, stets vage geäußert. Auch die Anerkennung der VR China durch die USA im Jahr 1979 hat daran nichts geändert.
[11] Dies bedeutet insbesondere, dass Taiwan beispielsweise nicht in der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vertreten ist, obwohl seine Erfahrungen im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie von unschätzbarem Wert waren und Fragen der öffentlichen Gesundheit nicht als Geisel in Machtkämpfen benutzt werden sollten.
[12] John Feffer, Foreign Policy in Focus, 10. August 2022, “Taiwan and the Virtues of Ambiguity”.
[13] Mercy Kuo, The Diplomat, 5. August 2022, “US-China-Taiwan Tensions: New Status Quo? Insights from Eric Chan”.
[14] Helen Davidson, The Guardian, 29. August 2022, “India accuses China of ‘militarisation of the Taiwan Strait’ as row over navy vessel grows”.
[15] Vgl. Pierre Rousset, 8. Dezember 2014, ESSF, “La Chine, deuxième puissance mondiale”.
[16] Brian Hioe, New Bloom, 30. August 2022, “Marsha Blackburn Raises Eyebrows with Chiang Kai-Shek Tweets During Taiwan Visit”.
[17] Karen Yamanaka, 18. August 2022, “Taiwan Strait Crisis: for the right to peace and security in East Asia”.
[18] Brian Hioe, The Guardian, 18. August 2022, “Don’t believe China’s convenient historical tales. Taiwan belongs to the Taiwanese”.
[19] Gerrit Van Der Wees, The Diplomat, 3. Mai 2022,“ When the CCP Thought Taiwan Should Be Independent ”.
[20] Brian Hioe, New Bloom, 8. August 2022, “Jacobin features Noam Chomsky and Vijay Prashad labeling Taiwan a “Rock”, again ignores Taiwanese voices”.
[21] Jüngsten Umfragen zufolge ziehen es 80 Prozent der Bevölkerung vor, den Status quo der De-facto-Unabhängigkeit in der einen oder anderen Form beizubehalten, während nur 1,3 Prozent für eine sofortige Vereinigung mit China sind. Brian Hioe, The Guardian, 18 August 2022, “Don’t believe China’s convenient historical tales. Taiwan belongs to the Taiwanese”.
[22] Frank Ching, Courrier international, 28. September 2019, “ Contestation. Les Taïwanais compatissent avec Hong Kong”.