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Frauen waren die Hauptverliererinnen der islamischen Revolution von 1979. Heute stehen sie an der Spitze der Bewegung gegen ein theokratisches Regime.
Vor kurzem wurde Mahsa Amini, eine zweiundzwanzigjährige Kurdin, in Irans größter Stadt Teheran von der iranischen „Sittenpolizei” verhaftet, weil sie angeblich ihren von der Regierung vorgeschriebenen Hidschab unangemessen trug. Sie wurde geschlagen und drei Tage später starb sie. Die Reaktion der Iraner:innen, insbesondere der jungen iranischen Frauen, folgte prompt. Was zunächst als Protest galt, scheint sich nun zu einer neuen Revolution im Iran auszuweiten, wie sie das Land seit über vierzig Jahren nicht mehr erlebt hat.
Einige Analyst:innen, die die Geschehnisse vor Ort im Iran und über das Internet beobachten, betrachten diese Ereignisse so, als führten Frauen zum ersten Mal eine Bewegung an. In Wirklichkeit befanden sich Frauen bei den meisten Bewegungen im Iran an vorderster Front, aber dies ist das erste Mal, dass Frauen mit ihren Forderungen nach einem Ende der geschlechtsspezifischen Gewalt und Diskriminierung an der Spitze der landesweiten Proteste stehen. Als Soziologin, die sich mit sozialen Bewegungen beschäftigt, verstehe ich die aktuellen Proteste für die Gleichstellung der Geschlechter als Teil eines jahrzehntelangen Kampfes gegen die Unterdrückung der Frauen. Bei dieser Bewegung geht es nicht nur darum, gegen die Ermordung einer jungen Frau durch die iranische Regierung zu protestieren, weil sie ihren Hidschab nicht korrekt getragen hat, sondern sie ist vielmehr der Höhepunkt einer jahrzehntelangen Unterdrückung der Frauen und einer frauenfeindlichen Politik im Iran – ein Protest, der sich schnell zu einer Revolution entwickelt.
Was wir im Iran erleben, basiert auf einer langen Geschichte des Widerstands gegen ein theokratisches Regime, das nach der Revolution von 1979 mit Gewalt und Brutalität an die Macht kam. Nach der islamischen Revolution erklärte Ayatollah Khomeini den Hidschab für obligatorisch und zwang die Frauen, ihre Haare und ihren Körper zu verhüllen. Bald darauf verabschiedeten die Islamisten die Scharia-Gesetze, die das Leben und den Körper der Frauen reglementieren sollten.[1][2]
Anstatt diese neuen Einschränkungen ihrer körperlichen Freiheit zu akzeptieren, organisierten Tausende von Frauen am Internationalen Frauentag, dem 8. März 1979, nur wenige Wochen nach der Revolution, massive Straßenproteste. Ihre wichtigsten Slogans lauteten “Wir hatten keine Revolution, um rückwärts zu gehen” und “Gleichheit, Gleichheit, weder Tschador noch Kopftuch”. Letztendlich wurden diese Straßenproteste brutal unterdrückt, und die iranische Gesellschaft tat wenig, um die Frauen zu unterstützen. Tatsächlich befürworteten die meisten sozialen und politischen Gruppen diese Proteste nicht, da sie der Meinung waren, sie könnten eine Konterrevolution auslösen.[3][4] Zu dieser Zeit besaßen die Forderungen der Frauen keine Priorität.
Doch was 1979 auf dem Spiel stand und was bei den aktuellen und sich ausbreitenden Protesten im Iran weiterhin auf dem Spiel steht, ist nicht einfach nur eine Bewegung gegen die Gesetze zur Durchsetzung der Hidschab-Pflicht. Nach der Revolution von 1979 hatte sich die Rolle der Frauen in der iranischen Gesellschaft vielmehr grundlegend gewandelt. Die islamistischen Führer setzten erfolgreich die Geschlechtertrennung durch und nahmen den Frauen viele der Rechte, die sie durch historische Bewegungen errungen hatten. Von Beginn der Islamischen Republik an nutzte der Staat alle ihm damals zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der Massenmedien, des Bildungssystems, der Politik und des Rechtssystems, um den Hidschab-Kodex und die islamischen Gesetze, die die sozialen Rollen und Rechte der Frauen einschränken, als wertvolle soziale Normen und Regeln zu propagieren.
Eines der Instrumente, die in den letzten vier Jahrzehnten zur Durchsetzung der geschlechtsspezifischen Unterdrückung eingesetzt wurden, war die “Sittenpolizei” – eben jene Einheit, die heute für den frühen Tod Aminis verantwortlich gemacht wird. Patrouillen der Sittenpolizei sind regelmäßig auf öffentlichen Plätzen unterwegs, um sicherzustellen, dass Frauen die Hidschab-Gesetze einhalten und um aktiv die Verwendung von Kosmetika zu verhindern. Weitere Sittenwächter gibt es in fast allen staatlichen Einrichtungen und allen öffentlichen oder privaten Universitäten im Iran, die nicht nur die Kleiderordnung für Frauen, sondern auch das Verhalten von Frauen und Männern gemäß dem geschlechtsspezifischen ideologischen System der Scharia durchsetzen.
Das Ergebnis dieses jahrzehntelangen Systems der Unterdrückung der Geschlechter und der frauenfeindlichen Politik im Iran hat sich auf jeden Aspekt des Lebens der Frauen ausgewirkt. Die Geschlechtertrennung wurde systematisch auf alle Bereiche angewandt, in denen Frauen in der Öffentlichkeit zu sehen sind: Schulen, öffentliche Verkehrsmittel, Universitäten, Freizeiteinrichtungen und Arbeitsplätze. Dies hat dazu geführt, dass Frauen an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden und ihre Arbeits- und Ausbildungsbedingungen zunehmend prekärer wurden. In den Jahrzehnten seit der Revolution wurden Frauen aufgrund ihrer Kleidung, ihres Verhaltens und ihres Lebensstils routinemäßig entlassen. Viele Studienfächer an den Universitäten waren Frauen untersagt und bestimmte Berufe wurden ihnen verwehrt.[5][6]
Eine der wenigen Möglichkeiten, die Frauen nach der Revolution zur Verfügung standen, war die Hochschulausbildung an Universitäten. Von den 1980er Jahren bis heute ist die Präsenz von Frauen an den Universitäten stetig angewachsen. Ihr Status als hochgebildete Staatsbürgerinnen hat jedoch keine zusätzlichen Möglichkeiten für Frauen am Arbeitsplatz eröffnet. Die Statistiken sind hier sehr anschaulich. Vor der Revolution, im Jahr 1976, lag die Alphabetisierungsrate der Frauen bei 35 Prozent, während ihre Beteiligung an der Erwerbsbevölkerung 12,9 Prozent betrug. Im Jahr 1986 waren im Iran nur 8,2 Prozent der Frauen erwerbstätig, trotz einer Alphabetisierungsrate von 52 Prozent.[7] Im Jahr 2016, dem letzten Jahr, für das Statistiken vorliegen, lag die Frauenerwerbsquote bei 14,9 Prozent, ein deutlicher Anstieg im Vergleich zu 1986, doch zugleich war die Alphabetisierungsrate bei 82,5 Prozent.[8] Trotz ihres beeindruckenden Bildungsniveaus über Jahrzehnte hinweg sind heute die meisten verarmten Menschen im Iran Frauen[9], die nach Maßgabe der Scharia wirtschaftlich von Männern abhängig sein sollen. Dies ist nur eine der vielen Ungerechtigkeiten, mit denen Frauen seit Jahrzehnten konfrontiert sind – ein Kontext, der für das Verständnis der aktuellen Proteste im Iran entscheidend ist.
Zugleich haben Frauen aufgrund der Scharia keine gleichen Rechte bei Heirat, Scheidung und Sorgerecht für ihre Kinder. In den Geburtsurkunden wird der Vater des Kindes genannt, der Name der Mutter jedoch nicht, so dass sie kein Recht auf ihre eigenen Kinder hat. Die Kinderehe ist legal. Die Wahl des Arbeitsplatzes, des Wohnsitzes oder die Möglichkeit der Frau, das Land zu verlassen, hängt ausschließlich von der Erlaubnis ihres Mannes ab. Polygamie wurde legalisiert und gefördert, während Frauen, die mit einem anderen Mann als ihrem Ehemann zusammen waren, wurden zum staatlich sanktionierten Tod verurteilt.[10][11]
Seit der Revolution von 1979 sind Frauen rechtlich und offiziell zu Bürgerinnen zweiter Klasse geworden. Auch vor 1979 gab es im Iran viele Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern, aber diese Geschlechter-Apartheid war neu. Es ist auch klar, dass Frauen, die zu mächtigen staatstragenden Familien gehören und an dieses ideologische System glauben, viele Vorteile erhielten. So besetzen sie zum Beispiel einige Regierungspositionen, während Frauen aus der Arbeiter:innenklasse unter schwierigeren und prekäreren Bedingungen lebten.[12] Obwohl der pauschale Begriff “Frauen” mit Vorsicht zu interpretieren ist, haben Frauen, insbesondere Frauen aus der Arbeiter:innenklasse und Frauen aus ethnischen und religiösen Minderheiten, am meisten unter dem islamischen Regime gelitten und verloren. Aus diesem Grund können wir sagen, dass Frauen die größten Verliererinnen des islamischen Regimes waren.
Die iranischen Frauen waren jedoch nie stille Opfer ihres marginalisierten Status. Sie organisierten nicht nur den ersten Massenprotest gegen das islamische Regime am 8. März 1979, sondern setzen seit Jahrzehnten offene und verdeckte Mittel ein, um ihrer eigenen Unterdrückung zu begegnen. Frauen sind in Basisbewegungen aktiv, um die Gleichstellung der Geschlechter zu verbessern, Umweltprobleme anzugehen und die Rechte von Kindern und ethnischen Minderheiten zu stärken. Vor einigen Jahren protestierten beispielsweise Mädchen in der Enghelab-Straße gegen die Hidschab-Pflicht, indem sie ihre Kopftücher auf der Straße ablegten, um ein Zeichen des Protests gegen die Hidschab-Pflicht im Iran zu setzen. Wenn Frauen, insbesondere junge Frauen, jetzt auf den Straßen des Iran wieder ihre Kopftücher ablegen und verbrennen, dann ist das eine Fortsetzung dieser früheren Proteste.
Das Neue an den jüngsten Protesten ist die nationale und internationale Aufmerksamkeit, die ihre Aktionen derzeit erhalten, und ihre Forderungen zum Hidschab sind klar und stehen im Vordergrund. Der Hauptslogan der aktuellen Bewegung, “#Frau, Leben, Freiheit”, stammt von einer Befreiungsbewegung kurdischer Partisaninnen in der Türkei und Syrien, die jahrzehntelange ethnische Diskriminierung ertragen haben und seit langem gegen Patriarchat, nationale Unterdrückung, Tyrannei, die Folgen des Kolonialismus und den „Islamischen Staat“ (ISIS) kämpfen. Ihre Botschaft verbreitet sich weit über den Iran hinaus. Die iranischen Frauen, die an der Spitze der Bewegung stehen, machen nicht nur auf ihre eigene Unterdrückung aufmerksam, sondern auch auf die der afghanischen Frauen. Frauen im gesamten Nahen Osten und darüber hinaus gehen in die sozialen Medien und auf die Straße, um ihre Schwestern an vorderster Front zu unterstützen.
Im Iran gab es in den letzten Jahrzehnten viele Proteste. Die iranische Gesellschaft hat definitiv mit einer Reihe von Problemen zu kämpfen. Das iranische Regime hat sich in verschiedenen Bereichen als unfähig erwiesen; was die Wirtschaft betrifft, so lebt jede:r dritte Iraner:in unterhalb der Armutsgrenze.[13] [14]
Die Reaktion der Machthaber im Iran war immer gleich: gewaltsame Unterdrückung. Das kollektive Gedächtnis der Iraner:innen ist voll von Unterdrückung und Erniedrigung. In jüngster Zeit hat der islamische Staat auf die sich ausbreitende Bewegung mit der brutalen Ermordung von Menschen reagiert. Zwar gibt es keine offiziellen Statistiken, doch schätzt man, dass die iranische Regierung mindestens 200 Menschen getötet hat, darunter 19 Kinder.[15]
Am 30. September beschoss und tötete die Islamische Republik Iran in Zahedan mindestens 95 Menschen, die vom Gebet kamen und Angehöriger der belutschischen Minderheit waren. Die gewaltsame Unterdrückungstaktik des Staates hat jedoch den gegenteiligen Effekt: Die Revolution breitet sich aus.
Slogans wie “Dies ist eine Frauenrevolution, das ganze System ist das Ziel” und “Nennt es nicht Protest, es heißt Revolution” zeigen, dass sich die Gesellschaft trotz der Gewalt, mit der die Machthaber versuchen, sie zum Schweigen zu bringen, für fortschrittliche Veränderungen einsetzt. In jüngster Zeit hat diese Revolution die Grenzen von Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, Nationalität und Religion überschritten.
In dieser Woche haben sich die Belutschinnen (die aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihres Geschlechts und ihrer Religion am meisten benachteiligten und unterdrückten Frauen im Iran) der Bewegung “Frauen, Leben, Freiheit” angeschlossen und erklärt, dass sie mit ihren Schwestern gemeinsam für die erste Frauenrevolution in der Geschichte kämpfen.[16] Zu denjenigen, die sich der Bewegung in großer Zahl anschließen, gehören junge Menschen: Studierende und Oberschüler:innen, aber auch Künstler:innen und Sportler:innen, die ihr Leben riskieren, um einen gerechteren Iran für alle aufzubauen. Mehrere der für die iranische Wirtschaft wichtigsten Arbeiter:innen rufen zu Streiks auf, um die Bewegung zu unterstützen: Lehrer:innen und Gewerkschaften, allen voran die (Erdöl-)Arbeiter:innen von Asaluyeh und Abadan Petrochemical.[17]
Als iranische Frau und Soziologin mit Erfahrung in sozialen Bewegungen empfinde ich die Ausbreitung dieses revolutionären Geistes mit jungen Frauen an der Spitze ebenso inspirierend wie die Beobachtung der brutalen Unterdrückungstaktik des Staates alarmierend. Dennoch ist es wichtig, diesen Moment in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Die Ermordung von Mahsa Amini durch die Sittenpolizei war ein Funke, der eine seit Jahrzehnten schwelende Glut der Wut und des Aktivismus entfachte.
Dies ist eine Revolution der Frauen, die über die Grenzen von Ethnie, Nationalität und Religion hinausgeht. Die Unterstützung dieser Proteste durch verschiedene ethnische Gruppen ist die Stärke dieser Revolution. Diese Revolution richtet sich gegen die gesamte Struktur der Diskriminierung und des Reaktionismus im Iran und im Nahen Osten. Das bedeutet nicht, dass wir bald das Ergebnis dieser Frauenrevolution sehen werden; es gibt immer noch traditionelle Schichten in der Gesellschaft, die sich vor befreienden Slogans und Bewegungen fürchten. Das bedeutet nicht, dass die Gegner:innen der Bewegung nicht aktiv sind, sie könnten der Bewegung Steine in den Weg legen, die Islamische Republik könnte diese Bewegung hart und brutal unterdrücken. Bei allen realen Bedrohungen und Bedingungen bedeutet dies jedoch, dass wir am Anfang vom Ende stehen.
Der Artikel erschien ursprünglich auf Englisch in Monthly Review und wurde von Harald Etzbach übersetzt. Wir haben den Text leicht gekürzt.
Referenzen
Bildquelle: Photo by Craig Melville on Unsplash
[1] Moghissi, Haideh. 1996. Populism and Feminism in Iran: Women’s Struggle in a Male-Defined Revolutionary Movement. New York: St Martin’s Press.
[2] Higgins, Patricia J. 1985. “Women in the Islamic Republic of Iran: Legal, Social, and Ideological Changes.” Signs: Journal of Women in Culture and Society 10 (3): 477—494.
[3] Moghissi, Haideh. 1996.
[4] Poya, Maryam. 1999. Women, Work and Islamism: Ideology and Resistance in Iran. London: Zed Books.
[5] Haeri, Shahla. 2009. “Women, Religion and Political Agency in Iran.” In Contemporary Iran: Economy, Society, Politics, edited by Ali Gheissari, 125—150. Oxford: Oxford University Press.
[6] Poya, Maryam. 1999.
[7] Hoominfar, E. / Zanganeh, N. (2021). The brick wall to break: women and the labor market under the hegemony of the Islamic Republic of Iran. International Feminist Journal of Politics, 23(2), 263-286.
[8] Hoominfar, E. / Zanganeh, N. (2021).
[9] Hoominfar, E., & Zanganeh, N. (2021).
[11] Sahraoui, Hassiba Hadj. 2015. “Iran: Proposed Laws Reduce Women to ‘Baby Making Machines’ in Misguided Attempts to Boost Population.” Amnesty International, March 11.
[12] Hoominfar, E., & Zanganeh, N. (2021).
[13] Nomani, Farhad, and Sohrab Behdad. 2006. Class and Labor in Iran: Did the Revolution Matter? Syracuse, NY: Syracuse University Press.
[15] www.human-rights-iran.org.
[17] Asaluyeh in der Provinz Buschehr und insbesondere Abadan in Chuzestan im Südwesten des Iran sind Zentren der iranischen Erdölindustrie. In beiden Städten kam es Mitte Oktober zu umfangreichen Arbeitsniederlegungen [Anm. der Red.].