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Ökosozialistische Perspektiven
Mehrere umfassende Krisen verbinden sich zu einer sowohl für die Herrschenden als auch die emanzipatorischen Bewegungen komplizierten Gemengelage in ganz Europa. Das Erdsystem hat bereits Kipppunkte erreicht, die die Erderhitzung unumkehrbar machen. Die Wirtschaftskrise, die Energiepreissteigerungen und die allgemeine Inflation bringen eine Massenverarmung mit sich. Zugleich verschärft das Putin-Regime mit seinem Krieg gegen die ukrainische Bevölkerung und den beschränkten Gaslieferungen nach Westeuropa die gesellschaftliche Krise. Die Krisen verstärken sich gegenseitig und können die gesellschaftliche Situation abrupt verändern. Wie lässt sich nun eine radikale ökosozialistische Perspektive ausformulieren? Dieser Artikel entwirft ausgehend von einer grundsätzlichen Positionierung konkrete Vorschläge und will zu weiterführenden Diskussionsbeiträgen anregen.
1. Gesellschaftliche Krise und drei Säulen einer ökosozialistischen Strategie
Die Veränderungen des Erdsystems führen auch in Europa zu einer Vervielfachung extremer Wetterlagen von Dürren bis sintflutartigen Regenfällen. Jüngste Forschungsergebnisse zeigen, dass das Erdsystem bereits dabei ist, Kipppunkte zu überschreiten. Das Erdsystem verändert sich also bereits substantiell bevor die durchschnittliche globale Temperatur die symbolische Marke von 1,5° C gegenüber der vorindustriellen Zeit übertreffen wird.[1] Mit dem Überschreiten von Kipppunkten werden sich die Veränderungen selber verstärken und in weiten Teilen der Erde lebensfeindliche Bedingungen schaffen. Das heißt konkret, dass schon in wenigen Jahren Millionen von Menschen nicht mehr in ihren bisherigen Lebensräumen bleiben können.
Die europäischen Wirtschaften schlittern mit großer Wahrscheinlichkeit erneut in eine tiefe und anhaltende Wirtschaftskrise.[2] Die seit 2021 sprunghaft ansteigende Inflation führt zu umfassenden Reallohnverlusten für große Teile der Lohnabhängigen in ganz Europa und zu einer Vervielfachung von Verarmungsprozessen.[3] Das wird einen Druck auf die volkswirtschaftliche Nachfrage und damit auch die Investitionsbereitschaft der Unternehmen ausüben. Viel deutet darauf hin, dass die Energiepreise anhaltend hoch bleiben werden. Die Europäische Zentralbank verteuert mit den Zinserhöhungen die Investitionen. Zugleich erhöht sie das Ausfallrisiko verschuldeter Unternehmen die und Belastung hochverschuldeter Länder.[4]
Die gestiegenen Weltmarktpreise für Öl, Gas und Strom sind Ergebnis mehrerer struktureller und unmittelbarer Faktoren. Ein zentraler Grund ist die Knappheit erneuerbarer Energieträger. Die Veränderungen des Erdsystems und die ökologische Krise sowohl die Preise von Energie als auch vieler anderer Ressourcen in die Höhe treiben.[5] Die Unternehmen investieren zu wenig in die Energieinfrastruktur, weil sie unsicher über die Entwicklung der künftigen Profite und Nachfrage sowohl bei den fossilen als auch erneuerbaren Energie sind. Zugleich weigern sich die Staaten ihrerseits zu investieren, um den energetischen Umbau selber voranzutreiben. Gleichzeitig steigt aber der Energieverbrauch weltweit weiter an. Die großen transnationalen Energiekonzerne sind in der Lage, riesige Surplusprofite zu erzielen. Damit treiben sie die Preise zusätzlich in die Höhe.[6] Dazu kommen Gründe, die Ausdruck der ökologischen Krise sind. Beispielsweise musste der Großteil der AKWs in Frankreich wegen der Trockenheit und aus Sicherheitsgründen abgeschaltet werden. Schließlich treibt das Putin-Regime mit seinen Einschränkungen der Gaslieferungen die Gaspreise zusätzlich in die Höhe. Die Herrscher im Kreml versuchen mit stockenden Gaslieferungen die europäischen Regierungen unter Druck zu setzen, ihre Wirtschaftssanktionen gegen Russland aufzuheben. Sie nutzen die von europäischen Regierungen selbst gewählte Abhängigkeit vom russischen Gas, um mit Lieferstopps auf die politischen Auseinandersetzungen einzuwirken. Steigende Preise werden den Klassenkampf und die politischen Auseinandersetzungen längerfristig prägen. Diese Gemengelage mündet in eine umfassende gesellschaftliche Krise, die sich allerdings geographisch und gesellschaftlich sehr ungleich durchsetzt, sowohl weltweit, in Europa als auch in den einzelnen Ländern.
Die rasant angestiegenen Energiepreise sind für viele Menschen nicht mehr tragbar und führen zu einer breiten Verarmung. Die Weltmarktpreise lassen sich nicht durch einfache Tricks drücken. Dennoch haben die Staaten viele Möglichkeiten, die Belastungen für die Menschen zu dämpfen. Doch in diesem Bereich türmen sich viele Widersprüche auf und es wimmelt an Vorschlägen, die weder den ökologischen Notwendigkeiten, den Erfordernissen internationaler Solidarität noch der sozialen Gerechtigkeit gerecht werden. Im Gegenteil, die meisten politischen Kräfte – auch linke Parteien – spielen diese drei Achsen einer sozial-ökologischen Transformation gegeneinander aus. Die drei sogenannten Entlastungspakete der deutschen Bundesregierung weisen in die falsche Richtung, weil sie erstens primär den Privilegierten der Gesellschaft nutzen und zweitens im Widerspruch zu einem ökologischen Umbau der Wirtschaft stehen.[7] Auch unspezifische Energiepreisdeckel sind nicht hilfreich, denn sie kommen primär großen Energieverbraucher:innen zugute, subventionieren den Energieverbrauch und tragen somit nicht dazu bei, den Energieverbrauch zu reduzieren. Die Gasumlage ist eine direkte Subventionierung bislang profitabler Energiekonzerne durch die Verbraucher:innen, wobei der überwiegende Teil der Umlage an Uniper und die bisherige Gazprom Germania gehen sollen.[8]
Uniper ist einer der größten Gaskonzerne Europas und bedeutendster deutsche Importeur russischen Gases. Durch eine waghalsige Strategie geriet der Konzern in eine existenzbedrohende Schieflage und drohte 200 Stadtwerke, die von Lieferungen von Uniper abhängen, ebenfalls in den Abgrund zu reißen. Der deutsche Staat rettet nun den Konzern, dessen Hauptaktionär der staatliche finnische Energiekonzern Fortum ist (53% der Aktien hält der finnische Staat), und übernimmt für 8 Milliarden Euro 99% des Aktienkapitals.[9] Das heißt, der deutsche Staat bezahlt die Aktionär:innen aus. Das bereits beschlossene Stabilisierungspaket des Gasmarktes beläuft sich auf über 15 Milliarden Euro.[10] Unterdessen hat auch der zweite große Gasimporteur, der in Leipzig ansässige Konzern VNG (zu 74 % vom Energiekonzern EnBW kontrolliert), einen Antrag auf staatliche Stabilisierungsmaßnahmen gestellt.[11] Die Bundesregierung erwägt auch Verstaatlichung sprich Auszahlung der Aktionäre des Gasunternehmens des ehemaligen deutschen Tochterunternehmens von Gazprom Sefe. [12] Diese Streuung öffentlicher Gelder ohne jegliche demokratische Debatte und Kontrolle wird den öffentlichen Haushalten riesige Belastungen auferlegen und die Verschuldung gegenüber den institutionellen Finanzkonzernen in die Höhe treiben. Was oberflächlich gesehen als Verstaatlichung erscheint ist in Wirklichkeit eine gigantische Privatisierung öffentlicher Guthaben und stellt keine öffentliche Kontrolle der Energieinfrastruktur her. Darum sind derartige öffentlich finanzierte Rettungsoperationen von Konzernen abzulehnen, vielmehr brauchen wir eine starke Bewegung, die eine demokratische gesellschaftliche Aneignung dieser Konzerne von unten durchsetzen kann. Aktionär:innen, die jahrelang vom Geschäft profitiert haben, sind nicht noch zusätzlich zu belohnen.
Sowohl der Strom- als auch der damit verbundene Gassektor sind ausgesprochen hierarchisch strukturiert. Die vier großen Energiekonzerne RWE, E.ON, EnBW und Vattenfall haben zusammen einen Marktanteil von 54% am deutschen Strommarkt. Sie üben einen großen Einfluss auf das Marktgeschehen und die Politik aus. Der Gasmarkt wird von sieben großen Erdgasförderkonzernen und 16 Transportnetzbetreibern geprägt. Dazu gibt es 31 Gasspeicherbetreibern sowie zu meist regional begrenzt agierende 703 Gasnetzbetreiber, 564 Gashandelsunternehmen und 1051 Gaslieferanten. Viele Unternehmen sind allerdings in mehreren Geschäftsfeldern tätig, so dass eine Addition dieser Zahlen keinen Sinn ergibt.[13] Diese Struktur ist gesellschaftlich ineffizient und ökologisch untragbar.
Das zunehmende soziale Elend, der dringende ökologische Umbau und Rückbau der Produktion sowie die Anforderungen internationaler Solidarität sind gleichermaßen und gleichzeitig mit einer konkreten ökosozialistischen Strategie anzusprechen. Leitgedanke jeder emanzipatorischen Strategie ist, dass die Menschen am Arbeitsplatz, am Ausbildungsort und am Wohnort beginnen, sich eigenständig für ihre Klasseninteressen zu organisieren. Die drei Säulen einer ökosozialistischen Strategie – ökologischer Um- und Rückbau, transnationale Solidarität und die Zuspitzung der sozialen Kämpfe für gesellschaftliche Emanzipation – sind so miteinander zu verbinden, dass sie Bewegungen der Selbstermächtigung stärken (vgl. Abbildung).
2. Ökologischer Um- und Rückbau
Die Erderhitzung und die ruckartigen Veränderungen des Erdsystems dulden keine Verzögerung im sozialökologischen Um- und Rückbau. Hierfür brauchen wir eine revolutionäre ökosozialistische Degrowth-Strategie. Der rasche Ausstieg aus den fossilen Energieträgern ist zwingend, um die Erderhitzung abzubremsen. Wer diese Feststellung relativiert oder die Dringlichkeit hinauszögert, leugnet die Tragweite des Klimawandels. Darum sind jeder politische Vorstoß und jede Maßnahme daran zu messen, ob sie dazu beitragen, die fossilen Energieträger zu verbannen. Der Umbau auf erneuerbare Energien lässt sich im Weltmaßstab aber weder gesellschaftlich gerecht noch ökologisch angemessen organisieren, wenn nicht zugleich der Energieverbrauch und Materialdurchsatz reduziert wird. Die globalen Eliten und die Gesellschaften – und ganz besonders die Reichen – in Europa, Nordamerika, Japan, Australien und Neuseeland sowie die Ölmonarchien am Golf müssen ihren Energieverbrauch und Materialdurchsatz runterfahren. Das ist der Hintergrund, vor dem die aktuellen Auseinandersetzungen zu beurteilen sind. Daraus folgt, dass jede Maßnahme abzulehnen ist, die den Verbrauch von Kohle, Öl und Gas nicht vermindert. Die Klimabewegung kämpft richtigerweise für den raschen Kohleausstieg und widersetzt sich der Inbetriebnahme der Nordstream 2 Pipeline und dem verstärkten Import von LNG (liquefied natural gas – Flüssigerdgas). Zugleich gilt es zu überlegen, wie die Klimabewegung in die Offensive gehen kann. Maßnahmen zur konkreten Reduktion fossiler Energie in der Industrie und im Verkehr stehen dabei im Vordergrund. Angesichts der Unsicherheiten in der Gasversorgung, erlangt die Debatte über den sozialökologischen Um- und Rückbau der Industrie eine besondere Tragweite. Konsequente Schritte zum Ausstieg aus dem russischen Gas dürfen nicht durch den Import von LNG konterkariert werden, sondern der Ausstieg aus dem russischen Gas muss ein Signal sein, um den Gasverbrauch der Industrie für Prozesswärme und der Haushalte für Heizungen rasch substanziell zu reduzieren. Das geht nur mit weitergehenden Umbaumaßnahmen, die auch auf die Reduktion des Materialdurchsatzes zielen. Der weitgehende Ersatz des privaten Autoverkehrs in Städten durch kollektive Transportmittel, die Herstellung langlebiger Produkte, die Verminderung von Verpackungen, die Verbreitung von Mehrwegbehältern und das Verbot von Werbung sind wichtige Schritte in diese Richtung. Die Vorschläge von Klaus Meier und Christian Hofmann in analyse & kritik und Der Freitag[14] bieten eine gute Orientierung. Zentraler Bestandteil jeder konsequenten sozialökologischen Umbau- und Rückbauperspektive ist der radikale und rasche Rückbau der Rüstungsindustrie. Doch diese Perspektive lässt sich aufgrund der zugespitzten imperialistischen Rivalität nur international durchsetzen. Umso wichtiger ist es, dass die internationale Klimabewegung diese Forderung gemeinsam aufgreift.[15]
Der Ausstieg aus den fossilen Energieträgern erfordert klare und verbindliche Ziele. Darum sind auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene die jährlich noch zu emittierenden Treibhausgase und damit die noch verbleibenden Mengen von Kohle, Öl und Gas, die verbrannt werden dürfen, zu benennen. Wenn es der Klimabewegung gelingt, klare quantitative Vorstellungen darüber zu entwickeln, welche Mengen von Treibhausgasen in welchen Zeiträumen in bestimmten Regionen und Wirtschaftssektoren noch emittiert werden dürfen, kann die politische Auseinandersetzung verbindlicher geführt werden. Diese Zielvorgaben sind schließlich mit praktischen Forderungen zu konkretisieren. Ein solcher Zugang kann hilfreich sein, um den auch von Gewerkschaften, in sozialen Bewegungen und von linken Parteien geäußerten allgemeinen und unverbindlichen Lippenbekenntnissen für eine Klima- und Energiewende zu begegnen.
Unmittelbar sind alle Forderungen von Bewegungen und Initiativen, die in die Richtung einer wirklichen Defossilierung zielen, unterstützenswert. Allerdings ist offensichtlich, dass punktuelle Forderungen nur der Einstieg in eine umfassende gesellschaftliche Auseinandersetzung darüber sein sollen, was wir in der Gesellschaft auf welche Weise, für welche Zwecke, wo und durch wen produzieren, konsumieren, wiederverwerten und als Müll der Natur übergeben. Der erforderliche Um- und Rückbau tritt in scharfen Widerspruch und Gegensatz zum Zwang der Unternehmen Profite zu erwirtschaften, also zum Zwang der Kapitalakkumulation. Darum sind Kampagnen wie RWE enteignen ein zentraler Angelpunkt einer konsequenten sozialökologischen Transformation und eines Kampfes für die Ausweitung der Commons, die sich schließlich nur durch einen revolutionären ökosozialistischen Auf- und Umbruch verwirklichen lässt.[16]
3. Transnationale Solidarität gegen Konzernmacht und Imperialismus
Der russische Besatzungskrieg gegen die ukrainische Bevölkerung stellt emanzipatorische und ökosozialistische Kräfte vor eine grundlegende Herausforderung. Wie lässt sich die Solidarität mit dem ukrainischen Widerstand mit einer ökosozialistischen Perspektive verknüpfen? In Deutschland und in einigen anderen Ländern tobt eine Debatte über die stockenden und teilweise ausgesetzten Lieferungen russischen Gases. Hierbei gilt es wichtige Hintergründe im Auge zu behalten.
Die BRD und DDR begannen 1973 Gas aus Russland zu beziehen. Die Bedeutung russischen Gases stieg stetig an. Nach dem Umbruch in Osteuropa ging BASF eine intensive Kooperation mit dem russischen Konzern Gazprom ein, der zuvor bereits wichtigster Lieferant der Ruhrgas AG war. 1990 gründeten BASF und Gazprom zusammen den Konzern Wintershall, der langfristig die Versorgung mit russischem Gas sicherstellen sollte. Damit wurde der Grundstein für eine lange andauernde strategische Allianz zwischen Teilen des deutschen und russischen Kapitals gelegt. Das Nordstream-Pipeline-System ist Ausdruck dieser Allianz.[17] Der aufwändige Bau von Nordstream 2 amortisiert sich erst nach Jahrzehnten und bindet riesige Kapitalmengen. Ihre Förderkapazität übersteigt weit den Bedarf und ist darauf ausgerichtet fossilen Konzernen in Russland und Deutschland mit staatlicher Unterstützung Schlüsselpositionen in der europäischen Gasversorgung zu verleihen.
Deutschland bezog 2021 über die Hälfte seines Gases und ein Drittel des Rohöls aus Russland. Auch beim Import von Kohle war Russland bislang der größte Lieferant.[18] Die Chemieindustrie ist mit einem Anteil von 15 % der größte Verbraucher von Erdgas in Deutschland. Der Konzern BASF beansprucht an seinem Verbundstandort Ludwigshafen alleine vier Prozent des gesamten deutschen Erdgasverbrauchs, mehr als die ganze Schweiz.[19] Viele Industrien brauchen Gas als Quelle von Prozesswärme. Die chemische Industrie braucht Gas auch stofflich zur Herstellung ihrer Erzeugnisse. Die deutsche Regierung und Wirtschaft setzten in den letzten Jahren zunehmend stärker auf Erdgas als sogenannte Übergangsenergie. Sie bauten den Gassektor in den letzten Jahren massiv aus und wollen diesen Kurs fortsetzen. Der Krieg Russland gegen die Ukraine ließ diese Strategie, die auf einer langfristigen Kooperation mit den fossilen Konzernen Russlands und den Herrschern im Kreml beruhte, wie ein Kartenhaus zusammenbrechen.
Vertreter:innen der AfD, FPÖ und SVP, der nationalistischen sozialkonservativen „Linken“ in Deutschland und der sogenannten souveränistischen „Linken“ in Italien und Österreich sowie Teile des bürgerlichen Mainstreams wie verschiedene CDU Politker:innen fordern ein Ende der Sanktionen gegen Russland und die Inbetriebnahme der Pipeline Nordstream 2. Sie stellen sich damit in den Dienst der Kapitalfraktionen, die auf eine strategische Allianz mit den fossilen Konzernen Russlands setzten. So wie es immer richtig war, den Bau dieser Pipelines abzulehnen, so ist es umso wichtiger, die Inbetriebnahme von Nordstream 2 zu verhindern und überhaupt aus dem russischen Gas auszusteigen. Das muss ein erster Schritt sein, um den allgemeinen „GasExit“ voranzutreiben.[20]
Die ukrainische Umweltbewegung fordert ein Embargo russischen Öls und Gases.[21] Die Klimabewegung und der aufkeimende Widerstand gegen die soziale Notlage in Deutschland und anderen Ländern sollte sich der Forderung anschließen, alles zu unternehmen, um dem Putin-Regime die Finanzierung seiner Kriegsmaschinerie zu erschweren. Das schließt den Verzicht auf russisches Öl und den schrittweisen, aber raschen Ausstieg aus russischem Gas ein, ohne andere Gasquellen zu erschließen. Der Ersatz russischen Gases durch Lieferungen aus Aserbaidschan oder anderen Diktaturen ist grundsätzlich abzulehnen. Sowie die Kriegsfinanzierung durch die Herrscher im Kreml zu behindern ist, so darf auch die Alijew-Clique in Baku nicht durch die Einnahmen aus dem Gasgeschäft darin begünstigt werden, Krieg gegen Armenien zu führen.
Das heißt, die Solidarität mit dem ukrainischen Widerstand und den Opfern zahlreicher, sich auf den Export von Öl- und Gas stützender, diktatorischer Regimes verschärft die Herausforderung vor der wir aufgrund der Erderhitzung ohnehin stehen: den Ausstieg aus den fossilen Energieträgern rasch und umfassend durchzusetzen. Der umgehende Ausstieg aus dem Öl und die rasche massive Reduktion des Gases aus Russland sind in diesem Sinne bloß die ersten Schritt eines umfassenden Umbaus des gesamten Energiesystems. Dieser Umbau muss mit energischen gesamtwirtschaftlichen Energiesparmaßnahmen einhergehen.
Doch die Herausforderung der Solidarität stellt sich im globalen Maßstab. Die historische Verantwortung der frühindustrialisierten imperialistischen Länder für die bislang verursachten Treibhausgasemissionen und die ungleiche Verteilung von Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten der Menschen ist ernst zu nehmen. Klimagerechtigkeit heißt auch Energiegerechtigkeit. Die Gesellschaften, zu allererst die Reichen, Europas, Nordamerikas sowie Australiens und Neuseelands müssen ihre Treibhausgasemissionen darum rasch überdurchschnittlich stark absenken. Damit geben sie den Gesellschaften in den armen und peripheren Ländern eine Chance, ihre industrielle Produktion und Energieinfrastruktur ebenfalls umzubauen, aber ohne, die Versorgung der Bevölkerung und die weitere wirtschaftliche Entwicklung zu gefährden oder gar ihre Abhängigkeit von den imperialistischen Ländern zu verschärfen. Diese Perspektive schließt eine umfassende Streichung der Schulden der abhängigen Länder ein.[22]
Eine globale ökosozialistische Perspektive entwickeln, bedeutet auch, die Organisation der Produktions- und Innovationssysteme verändern. Wenn Konzerne in den Metropolenländern emissionsreiche Produktionslinien abbauen, dafür anderswo auf der Welt umso mehr Treibhausgase emittieren, sieht das vordergründig gut in der Statistik aus, ist aber schlecht für das Klima und setzt die hierarchischen Dominanz- und Ausbeutungsverhältnisse fort. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist es entscheidend, eine demokratische gesellschaftliche Aneignung der strategischen Produktions- und Transportinfrastruktur ins Zentrum der ökosozialistischen Strategie zu stellen.
Der Umbau des Energiesystems auf erneuerbare Energien ist ausgesprochen rohstoffintensiv. Weltweit werden neue Bergbauprojekte in Angriff genommen, die die Erdkruste aufreißen. Das ist mit enormen ökologischen Zerstörungen verbunden. Um die erneuerbaren Energien relativ günstig zu halten, werden die in diesem Feld tätigen Konzerne die Ausbeutung der Arbeitskräfte verschärfen. Sie werden im Einklang mit ihren Regierungen neokoloniale Verhältnisse gegen die betroffenen Gesellschaften durchzusetzen versuchen. Technokratische und national begrenzte, nur scheinbar ökologische, Maßnahmen zielen demnach in die falsche Richtung. Ökosozialist:innen stehen also in der Pflicht, im Dialog mit sozialen Bewegungen in den abhängigen Ländern konkrete politische Vorschläge zu entwickeln, um derartigen Konzernstrategien und Regierungsvorhaben wirksam entgegenzutreten.
4. Zuspitzung der sozialen Kämpfe für gesellschaftliche Emanzipation
Der sozialökologische Umbau ist nur möglich, wenn sich die Lohnabhängige, Ausgebeuteten und Diskriminierten am Arbeitsort, am Wohnort, in der Ausbildung und im gesellschaftlichen Leben massenhaft selbst zu Protagonist:innen dieses Kampfes und Prozesses machen. Es geht also darum, Vorschläge zu entwickeln, die die Menschen dazu ermuntern, sich in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen einzubringen und zugleich eine Perspektive eröffnen, die über die Zwänge der Kapitalakkumulation und des Profits hinausweisen. Allerdings lassen sich soziale Bewegungen nicht am Reisbrett planen. Weiterführende programmatische Vorstellungen tragen jedoch dazu bei, die Bewegungen zu stärken. Voraussetzung dafür ist, dass Bewegungen ihre eigenen Strukturen schaffen, die es den Aktivist:innen erlauben, sich auszutauschen und demokratische Entscheidungen zu fällen. So ist es möglich, über unterschiedliche Vorschläge und strategische Vorstellungen zu diskutieren und politische Klärungsprozesse zu organisieren. Meine Vorschläge bewegen sich entlang drei miteinander verbundenen Strängen.
4.1 Ausbau der gesellschaftlichen Infrastruktur statt kosmetische Inflationsbekämpfung
Die allgemeinen Preissteigerungen und vor allem jene der Energiekosten machen vielen Menschen zu schaffen, drohen viele zu verarmen. Maßnahmen zur Kontrolle der Preise sind im Kapitalismus möglich, können aber auch zu unerwünschten Effekten wie Knappheit, Spekulation und Unternehmenssubventionen führen. Dennoch ist eine offene Diskussion darüber zu führen, ob und wie sich in existenziell wichtigen Bereichen wie Lebensmittel, Mieten, Energie und Krankenversicherungen, eine Kontrolle der Preise durchsetzen lässt. Bedenkenswert sind Vorschläge für eine Kontrolle und Begrenzung der Gewinnmargen von Energiekonzernen.[23] Aber wer soll kontrollieren? Entscheidend ist, dass Gewerkschaften und soziale Bewegungen selber Kontrollorgane vorschlagen und schließlich in politischen Auseinandersetzungen durchsetzen.
Wer die Energierechnung nicht bezahlen kann, muss weiterhin Strom- und Gas beziehen können. Eine starke Widerstandsbewegung kann Strom- und Gasabschaltungen verhindern. Wie in anderen Ländern, beispielsweise die Kampagne Don’t Pay in Großbritannien, könnte eine massenhafte Zahlungsverweigerungsbewegung enormen Druck auf die Regierungen und Energiekonzerne ausüben und das Kräfteverhältnis zugunsten wirksamer sozialer und ökologischer Maßnahmen verändern. Eine solche Bewegung braucht ihre eigenen demokratischen Strukturen unabhängig von Parteien und NGOs.
Das unmittelbar wichtigste Mittel, um die gestiegenen Preise verkraften zu können, sind Lohnerhöhungen. Die Gewerkschaften müssen sich in dieser Situation komplett neu aufstellen, wollen sie in der Lage sein, die elementarsten Interessen der Lohnabhängigen wirksam zu vertreten. Nur die Durchsetzung eines automatischen und rückwirkenden Teuerungsausgleichs verhindert, dass die Lohnabhängigen Reallohnverluste hinnehmen müssen. Auf den ersten Blick mag diese Forderung unrealistisch erscheinen. Doch in verschiedenen Ländern Europas bestehen gewisse Schutzmechanismen. Erinnern wir uns daran, dass die Lohnabhängigen Italiens in den 1970er Jahren in schweren Kämpfen die scala mobile, den automatischen und teilweise sogar rückwirkenden Teuerungsausgleich, erkämpft hatten. Leider verloren sie in den 1980er Jahren diese Errungenschaften.
Doch die Verteidigung der Kaufkraft ist problematisch, wenn wir sie nicht mit einer radikalen sozialökologischen Umbauprogrammatik verbinden. Die Kaufkraft erhalten, um im selben Stil weiter zu konsumieren, Nachfrage zu generieren und volkswirtschaftliche Stabilität vorzutäuschen und damit zugleich die ökologischen Zerstörungen zu steigern, würde in die Irre führen. Das Leben kann nicht mehr so weitergehen und die „guten alten Zeiten“ des unbeschwerten Konsums lassen sich nicht zurückholen. Wir müssen die planetaren Grenzen akzeptieren und den Energie- und Materialverbrauch reduzieren.
Noch wichtiger als inflationsausgleichende Lohnerhöhungen ist der Kampf für eine gute gesellschaftliche Infrastruktur. Wer eine kostenlose oder günstige flächendeckende Infrastruktur in Gesundheitsversorgung, Pflege, Schulen, Kindertagesstätten und im öffentlicher Verkehr nutzen kann, lebt besser und ökologisch verträglicher. Städte der kurzen Wege emittieren weniger Treibhausgase bei einer hohen Lebensqualität. Eine gute Gesundheits-, Pflege-, Bildungs- und Transportinfrastruktur ermöglicht es, die individualisierte Ressourcenverschwendung zu reduzieren, die Geschlechterverhältnisse gerechter zu organisieren und insgesamt besser zu leben. Diese Orientierung zielt auf die Zurückdrängung der Waren- und Profitlogik und damit weit über den bloßen Inflationsausgleich durch höhere Nominallöhne und die Erhaltung der Kaufkraft hinaus. Sie eröffnet damit die Perspektive auf radikale ökosozialistische Umbauschritte.
4.2 Energie- und Materialverbrauch gerecht reduzieren
Der hier skizzierte Vorschlag zielt darauf ab, den ökologischen Um- und Rückbau, die transnationale Solidarität und die soziale Gerechtigkeit gleichermaßen anzusprechen. Im Gegensatz zur Forderungen nach einer allgemeinen Energiepreisdeckelung, die letztlich allen, auch energieintensiven Unternehmen zugutekommt, will dieser Vorschlag eine zielgerichtete Wirkung zugunsten der Lohnabhängigen und Armen sowie des ökologischen Umbaus vorantreiben. Wichtig ist es, sicherzustellen, dass niemand unter Energiearmut leiden und frieren muss.[24]
Wir sollten dafür kämpfen, dass die Basisversorgung mit Strom und Wärmeenergie zur gesellschaftlichen Infrastruktur zählt. Das heißt, alle Menschen haben Zugang zu einer günstigen Grundversorgung. Das lässt sich mit einer niedrigpreisigen Energiegrundsicherung realisieren, die einen Sparbonus beinhaltet, um den Menschen auch bei niedrigem Bedarf und Preis weiterhin einen gewissen Sparanreiz zu bieten. Menschen, die aus gesundheitlichen oder gesellschaftlichen Gründen sich länger Hause aufhalten und dadurch einen höheren Strom- und Heizbedarf haben, erhalten eine höhere Energiegrundsicherung. Wer über diesen Grundbedarf hinaus Strom und Gas verbraucht, muss progressiv steigende Energietarife begleichen.
Die Energiegrundsicherung ist kurzfristig durch eine Steuer, die überdurchschnittliche Gewinne der Energiekonzerne abschöpft, zu finanzieren. Was als überdurchschnittlich gilt, ist letztlich eine Frage der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Gelingt es die Energiekonzerne zu vergesellschaften, müsste die gesamte Zuweisung und Bepreisung von Energie nach sozialen und ökologischen Kriterien gestaltet werden (dazu unten mehr).
Erdgas ist in Deutschland mit einem Anteil von 40% der wichtigste Energieträger im Bereich Wohnen. Die erneuerbaren Energien decken erst rund 15% des Wohnenergiebedarfs.[25] Dieser hohe Anteil unterstreicht die gesellschaftliche und ökologische Brisanz. Darum sind rasch umfassende Programme zur Wärmedämmung der Häuser und zur energetischen Sanierung der Heizungen durchzuführen. Mit öffentlichen Investitionsprogrammen wird die gas – und ölgestützte Wärmeerzeugung durch Wärmepumpen, Fotovoltaik und nicht-fossile Formen von Fernheizungen ersetzt. Um diese Programme rasch und flächendeckend innerhalb von rund drei bis vier Jahren durchzuführen, sind öffentliche Unternehmen zu gründen, die entweder in Zusammenarbeit mit Industrie und Gewerbe oder eigenständig die erforderlichen Arbeiten sorgfältig geplant durchführen. Die Hauseigentümer bezahlen diese Sanierungsarbeiten zum Selbstkostenpreis. Unter bestimmten Bedingungen können private Hauseigentümer:innen und Genossenschaften staatliche Förderbeiträge zur Sanierung erhalten. Energetische Sanierungen sind kein Grund die Mieten zu erhöhen. Sanierungsbedingte Mieterhöhungen sind zu verbieten.
Kampagnen wie „RWE & Co enteignen“ und „GasExit“ zeigen, dass für einen sozialökologischen Um- und Rückbau weitergehende Perspektiven zu entwickeln sind.[26] Grundsätzlich ist die Energie- und Wärmeversorgung der kapitalistischen Profit- und Akkumulationslogik zu entziehen. Darum ist eine Bewegung für die demokratische gesellschaftliche Aneignung des Energiesektors aufzubauen. Die lokalen und regionalen Energieversorgungsunternehmen sind in Eigentum des lokalen oder regionalen Staates (Gemeinden, Städte, Kantone, Bundesländer) zu überführen und durch von den Beschäftigten und Energiebezieher:innen gewählte Räte zu kontrollieren.
Die großen Energiekonzerne (Erzeuger und Importeure) sind auf nationaler Ebene zu vergesellschaften und unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten und Energiebezieher:innen, also der ganzen Gesellschaft, zusammenzuführen und zu vereinheitlichen. Um die Transport-, Lager- und Speicherinfrastruktur (Pipelines, Überlandleitungen, Lagerstätten, Stromspeicher) und das Energieangebot im Sinne der Gesellschaft zu betrieben, sind sie betrieblich zusammenzulegen und durch demokratische Formen der Planung zu steuern. Erstellung und Betrieb dieser Infrastruktur sowie die Belieferung der Energieträger gehören zusammen und müssen einer gesellschaftlichen und ökologischen Planung unterstellt werden. Die Vergesellschaftung des gesamten Energiesektors erlaubt eine Angebotserstellung und Preisgestaltung gemäß den gesellschaftlichen Bedürfnissen und ökologischen Zwängen einer Verbrauchsreduktion bei einer Ausschaltung des Profitzwangs.
Um den Energieverbrauch gesamtgesellschaftlich und global solidarisch zu reduzieren, sind viele Produktionsabläufe und Transportvorgänge zu verändern und zu reduzieren. Das ist nur durchzusetzen, wenn es gelingt, eine starke gesellschaftliche Mobilisierung gegen die Konzerne und ihre politischen Interessensvertreter:innen aufzubauen. Um rasch solidarisch und ökologisch sinnvoll aus dem russischen Gas auszusteigen, brauchen wir eine Diskussion über die gesamtgesellschaftliche Zuteilung des Gases. Es gilt demokratisch zu entscheiden, welche Bereiche der Gesellschaft und der Wirtschaft welche Mengen des knapper werdenden Gases erhalten sollen. Diese Entscheidung darf nicht von der Kapitalmacht abhängen, sondern in einem demokratischen Prozess entsprechend der gesellschaftlichen Bedürfnisse getroffen werden.
Schließlich stehen wir vor der Herausforderung die Energiebereitstellung auf kontinentaler Ebene zu planen und organisieren. Die Energiemärkte sind international miteinander verbunden. Wirksame sozialökologische Eingriffe in die Preissetzung und Gestaltung der Energiezuteilung lassen sich nur auf kontinentaler Ebene verwirklichen. Die Strombörsen sind ebenfalls zu vergesellschaften und durch kooperative Aushandlungs- und partizipative Planungsprozesse auf kontinentaler Ebene zu ersetzen.[27] Da die Sonne und der Wind geographisch höchst ungleich ihre Energien entfalten, es immer wieder windarme Zeiten ohne Sonnenschein gibt und die Speicherung erneuerbarer Energien eine große Herausforderung darstellt, sind die Erzeugung, der Transport und die Bereitstellung von Energie großräumig, also kontinental zu planen und organisieren. Das stellt uns perspektivisch vor die Herausforderung Formen gesellschaftlichen Eigentums und der demokratischen Gestaltung zu entwickeln, die über den Nationalstaat hinausreichen, also transnational und kontinental organisiert sind und zwar im Rahmen eines global solidarischen Verständnisses.
4.3 Arbeitszeit verkürzen und Arbeit neu organisieren
Die ökosozialistische Strategie der gesellschaftlichen Aneignung stellt die Arbeit, die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsverhältnisse in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen.[28] Der Um- und Rückbau ganzer Industriezweige sowie des Finanzsektors wird viele Arbeitsplätze überflüssig machen. Andererseits werden die wesentlich arbeitsintensivere ökologische Landwirtschaft und die umfassenden Umweltsanierungsarbeiten neue Arbeitsplätze schaffen. Zudem gibt es in zahlreichen Bereichen der Gesellschaft, namentlich in der Bildung, Gesundheitsvorsorge und Krankenbetreuung sowie bei Pflege- und Sorgearbeiten einen großen Bedarf an gut bezahlter Arbeit. Eine gute gesellschaftliche Infrastruktur verlangt gute Arbeit. Automatisierungsprozesse und Digitalisierungen (sofern sie energetisch vertretbar sind), werden die notwendige Arbeit weiter reduzieren. Der ökologische Umbau der Wirtschaft geht mit einer Umverteilung und einem Rückgang an gesellschaftlich notwendiger Lohnarbeit einher. Die radikale Arbeitszeitverkürzung ist eine zentrale Voraussetzung um die Lohnarbeit und die reproduktive Arbeit gerecht zwischen den Geschlechtern zu verteilen.
Dieser Übergang lässt sich nur dann sozial gerecht organisieren, wenn wir die allgemeine Lohnarbeitszeit massiv verkürzen. Das erlaubt es, die geringere gesamtgesellschaftlich notwendige Arbeitszeit auf die Köpfe zu verteilen. Verschiedene Studien argumentieren, dass eine Reduktion der Arbeitszeit direkt den Energieverbrauch und die Emissionen verringern würde. Darum ist es wichtig, eine breite gesellschaftliche Bewegung einschließlich der Klimabewegung, der feministischen Bewegung und der Gewerkschaften für eine radikale Arbeitszeitverkürzung auf 30 und weniger Stunden in der Woche aufzubauen.
5. Konkrete Forderungen in Bewegungen in einem Steigerungslauf radikalisieren
Mit diesem Diskussionsbeitrag lasse ich mich von der Methode leiten, einige konkrete Forderungen aus der Klimabewegung und aus den früheren Erfahrungen gewerkschaftlicher Kämpfe aufzugreifen und in einem Steigerungslauf, so zu konzipieren und weiterzutreiben, dass der Kampf für ihre Durchsetzung eine antikapitalistische Dynamik, also einen systemüberwindenden Charakter annimmt.
Verteidigung der Kaufkraft, Ausbau der gesellschaftlichen Infrastruktur, Stadt der kurzen Wege, Reduktion des Material- und Energieverbrauchs und Neuordnung der Geschlechterverhältnisse in einer global solidarischen Perspektive sind als Einheit zu konzipieren und strategisch in konkreten Forderungen auszubuchstabieren. Die Priorisierung des Sozialen vor dem Ökologischen ist ebenso falsch wie die Vorstellung, zunächst sei das Klima zu retten und dann die Gesellschaft zu reorganisieren. Jede Vorstellung eines stufenweisen Vorgehens ist illusorisch. Es geht ums Ganze, also um die ganze Gesellschaft, allerdings angetrieben durch konkrete Bewegungen für konkrete Verbesserungen.
Doch derzeit ist weder die Klimabewegung, noch eine Gewerkschaft oder eine linke Partei in der Lage, ein umfassendes Energieumbauprogramm zu präsentieren. Deshalb brauchen wir eine breite Debatte unter den emanzipatorischen Bewegungen über die Prämissen und Schlüsselelemente eines solchen Umbauprogramms, das der Reduktion des Energie- Materialverbrauchs eine zentrale Bedeutung beimisst.
Eine derartige Debatte ist wichtig, um ein weitergehendes Programm zur sozialökologischen Umgestaltung und schließlich zur ökosozialistischen Revolution zu erarbeiten. Noch wichtiger ist allerdings, dass sich Millionen von Menschen bewegen und aktiv in die Geschichte eingreifen.[29] Den Herrschenden darf es nicht gelingen, die Kosten der Krise des Systems den Menschen aufzubürden, um die Kapitalverwertung wieder anzufeuern. Die Erderhitzung wird uns alle zu abrupten Veränderungen zwingen. Es liegt an uns, diesen Veränderungen eine solidarische Dynamik zu verleihen.
Basierend auf diesem Text haben wir anlässlich des globalen Klimastreiks am 23. September 2022 ein Flugblatt veröffentlicht, das gerne weiterverbreitet werden darf. Den gemeinsamen Austausch suchen wir bei einer offenen Diskussionsveranstaltung am 20. Oktober 2022. Dazu laden wir alle Interessierten herzlich ein!
Referenzen
Bildquelle: Photo by Andrey Metelev on Unsplash
[1] Armstrong McKay, David I.; Staal, Arie; Abrams, Jesse F.; Winkelmann, Ricarda; Sakschewski, Boris; Loriani, Sina; Fetzer, Ingo; Cornell, Sarah E.; Rockström, Johan und Lenton, Timothy M. (2022): Exceeding 1.5°C global warming could trigger multiple climate tipping points. Science 377 (6611), S. eabn7950. https://www.science.org/doi/abs/10.1126/science.abn7950
[2] Malte Fischer: Deutschland steht vor einer langen Rezession. Wirtschaftswoche, 12. August 2022 https://www.wiwo.de/politik/konjunktur/konjunktur-deutschland-steht-vor-einer-langen-rezession/28594102.html?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE
[3] Michael Roberts: Energy, cost of living and recession. The next recession, September 4, 2022 https://thenextrecession.wordpress.com/2022/09/04/energy-cost-of-living-and-recession/
[4] Vincent Welsch: Wie man die Inflation bekämpft. Jacobin, 12. September 2022. https://jacobin.de/artikel/wie-man-die-inflation-bekaempft-ezb-eu-energiepreise-energiesektor-dekarbonisierung/
[5] Christopher Olk: Es gibt keine Preisstabilität auf einem sterbenden Planeten. Jacobin, 23. September 2022 https://jacobin.de/artikel/es-gibt-keine-preisstabilitaet-auf-einem-sterbenden-planeten-inflation-klimakrise-lebenshaltungskosten-heisser-herbst-christopher-olk/.
[6] Michael Roberts: Energy, cost of living and recession. The next recession, September 4, 2022 https://thenextrecession.wordpress.com/2022/09/04/energy-cost-of-living-and-recession/
[7] Bundesfinanzministerium: Schnelle und spürbare Entlastungen. 14.07.2022. https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Schlaglichter/Entlastungen/schnelle-spuerbare-entlastungen.html. Guido Speckmann: Was bringen die Entlastungspakete? Analyse & Kritik, 14. Juni 2022 |ak 683 https://www.akweb.de/politik/was-bringen-die-entlastungspakete/
Thomas Sablowski und Moritz Warnke: Ampel-Entlastungspaket: Das steckt (nicht) drin. Luxemburg, September 2022 https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/ampel-entlastungspaket-das-steckt-nicht-drin/
[8] Kathrin Witsch / Klaus Stratmann: Uniper, RWE & Co.: Diese elf Unternehmen wollen davon profitieren. Handelsblatt, 22. August 2022 https://www.handelsblatt.com/unternehmen/gasumlage-uniper-rwe-und-co-diese-elf-unternehmen-wollen-davon-profitieren/28614792.html
[9] Klaus Stratmann, Arno Schütze, Martin Greive: Rettungspaket von acht Milliarden Euro: Bund übernimmt Uniper. Handelsblatt, 21.09.2022 https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/verstaatlichung-rettungspaket-von-acht-milliarden-euro-bund-uebernimmt-uniper/28694350.html.
[10] DIE LINKE: Energiekonzerne vergesellschaften. Hintergrundinformationen, 12.09. 2022 https://www.die-linke.de/start/nachrichten/detail/energiekonzerne-vergesellschaften/
[11] VNG stellt Antrag auf Stabilisierungsmaßnahmen nach § 29 EnSiG, 09.09.2022 https://www.vng.de/de/newsroom/2022-09-09-vng-stellt-antrag-auf-stabilisierungs-massnahmen-nach-ss-29-ensig
[12] Martin Greive und Klaus Stratmann: Bundesregierung erwägt Verstaatlichung von deutscher Gazprom-Tochter Sefe. Handelblatt, 23.09.2022 https://www.handelsblatt.com/politik/international/nach-uniper-verstaatlichung-bundesregierung-erwaegt-verstaatlichung-von-deutscher-gazprom-tochter-sefe/28699368.html.
[13] Statista (2022): Anzahl der Unternehmen am Energiemarkt in Deutschland nach Bereichen im Jahr 2021. 26.07.2022 https://de.statista.com/statistik/daten/studie/173884/umfrage/zahl-der-unternehmen-in-den-einzelnen-marktbereichen-des-energiemarktes/
[14] Klaus Meier und Christian Hofmann: Ist ohne Gas unser Wohlstand in Gefahr? Oder nur der schlechte Status Quo? Der Freitag, 25.7.2020, Ausgabe 30 https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-gaskrise-ist-auch-eine-chance-fuer-einen-oekosozialen-rueckbau-der-industrie. Christian Hofmann und Klaus Meier: Den industriellen Rückbau wagen. 17. Mai 2022 |ak 682 https://www.akweb.de/bewegung/degrowth-debatte-den-industriellen-rueckbau-wagen/
[15] Christian Zeller: Für den Klimaschutz unerlässlich: radikale Abrüstung als erster Schritt zur Infragestellung der Armeen. Die Freiheitsliebe, 11. März 2022 https://diefreiheitsliebe.de/politik/fuer-den-klimaschutz-unerlaesslich-radikale-abruestung-als-erster-schritt-zur-infragestellung-der-armeen/
Christian Zeller: Wie können Klimabewegung und Antikriegsbewegung zusammenkommen. Die Freiheitsliebe, 11. März 2022 https://diefreiheitsliebe.de/politik/wie-koennen-klimabewegung-und-antikriegsbewegung-zusammenkommen/
[16] Vergleiche hierzu den Diskussionsbeitrag von Jonna Klick: Warum wir eine Bewegung für die Vergesellschaftung des Energiesektors brauchen. 24. August 2022. https://keimform.de/2022/warum-wir-eine-bewegung-fuer-die-vergesellschaftung-des-energiesektors-brauchen/
[17] Schmidt-Felzmann, Anke (2018): Instrument russischer Geopolitik. Ernste Bedenken sprechen gegen die Erdgaspipeline Nord Stream 2. Internationale Politik 73 (2) März/April, S. 100-106.
[18] Fischer, Andreas; Küper, Malte und Schaefer, Thilo (2022): Gaslieferungen aus Russland können kurzfristig nicht kompensiert werden. Wirtschaftsdienst, ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft 102 (4), S. 259-261.
Prognos (2022): Folgen einer Lieferunterbrechung von russischem Gas für die deutsche Industrie;Eine vbw Studie, erstellt von Prognos, Juni 2022, Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V.: München, S. 4
[19] Bert Fröndhoff, Kevin Knitterscheidt, Anja Müller: Industrie sieht wenig Energie-Einsparpotenziale – und fürchtet deshalb Produktionsstopp. Handelsblatt, 24.06.2022 https://www.handelsblatt.com/unternehmen/drohender-gas-engpass-industrie-sieht-wenig-energie-einsparpotenziale-und-fuerchtet-deshalb-produktionsstopps/28441988.html
[20] In Berlin bildete sich eine unterstützenswerte Initiative, die den sofortigen GasExit vorantreiben will. https://gasexit.de/
[21] Nico Graak: Das Embargo als Notbremse. analyse & kritik, 14. Juni 2022 |ak 683 https://www.akweb.de/bewegung/energiepolitik-ukrainische-klimaaktivistinnen-fordern-russland-embargo-fossile-energie/
[22] Zeller, Christian (2022): Ökologische Schuld anerkennen und fossile Industrie zurückbauen;isw-Report (Nr. 129), Juli, Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V., München, 30-35 S.
[23] Vincent Welsch: Wie man die Inflation bekämpft. Jacobin, 12. September 2022. https://jacobin.de/artikel/wie-man-die-inflation-bekaempft-ezb-eu-energiepreise-energiesektor-dekarbonisierung/
[24] Vergleiche hierzu die unterstützenswerten Vorschläge des Konzeptwerks Neue Ökonomie, die einen Preisdeckel für den Energie-Grundbedarf mit Maßnahmen zur Reduktion des Energieverbraus kombinieren. Konzeptwerk Neue Ökonomie (2022): Energiepreise: Transformative Wege aus der Krise. Bausteine für Klimagerechtigkeit, September: Leipzig, 14 S. https://konzeptwerk-neue-oekonomie.org/bausteine-fuer-klimagerechtigkeit/energietarife/
Wichtige Grundlagen, eine Übersicht über jüngste Literatur zu sozialen Energiepreisen und beispielhafte Modellrechnungen für die Vorschläge des Konzeptwerks Neue Ökonomie finden sich hier: Thiele, Lasse (2022): Soziale und klimagerechte Energietarife, September, Konzeptwerk Neue Ökonomie: Leipzig, 17 S. https://konzeptwerk-neue-oekonomie.org/wp-content/uploads/2022/09/Soziale_und_klimagerechte_Energietarife_KNOE_2022_Hintergrundpapier.pdf.
[25] Matthias Janson: Deutsche Wohnenergie ist überwiegend fossil. 14.09.2022 https://de.statista.com/infografik/28242/anteil-der-energietraeger-am-energieverbrauch-fuer-wohnen-in-deutschland/
[26] RWE & Co enteignen und die Energieproduktion vergesellschaften https://rwe-enteignen.de/; Erdgas ist ein Klimakiller https://gasexit.de/.
[27] Vergleiche die Vorschläge von Devine, Pat (2002): Participatory Planning Through Negotiated Coordination. Science & Society 66 (1), S. 72-85. Devine hat sich jedoch kaum zur räumlichen Differenzierung von Planungsprozessen geäußert.
[28] Christian Zeller (2020): Revolution für das Klima. Warum wir eine ökosozialistische Alternative brauchen. Oekom Verlag, S. 116ff.
[29] Dieser Diskussionsbeitrag lässt sich auch als Weiterführung eines Aufrufs der Interventionistischen Linke lesen. Winter Is Coming: Zeit, Feuer zu machen! Ein Aufruf der Interventionistischen Linken (IL), 6. September 2022https://interventionistische-linke.org/beitrag/winter-coming-zeit-feuer-zu-machen
1 Comment
Martin
Kleiner Hinweis aus der Wirtschaftsgeschichte: Das erwähnte Unternehmen Wintershall gibt es seit 1894. Seit 1969 gehört es zur BASF. Wintershall und Gazprom gründeten 1993 das Joint Venture Wingas.