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Ich muss gestehen, dass ich auf die meisten Fragen, die ich untersuchen werde, keine fertige Antwort habe. Schlimmer noch: in vielen Fällen befürchte ich, dass es diese Antworten nicht gibt. Das kann uns jedoch nicht davon abhalten, nach diesen Antworten zu suchen und zuvor die richtige Formulierung für die Fragen selbst zu finden, und zwar mit Hilfe all dessen, was wir lernen und kritisch diskutieren können. Der Krieg in der Ukraine wirft Fragen von universellem Interesse auf, er betrifft uns und wird uns immer mehr betreffen: unsere Gegenwart, unsere gemeinsame Zukunft, unseren Platz in der Welt. Was diesen Krieg angeht, sind wir keine entfernten oder neutralen Beobachter:innen, wir sind Teilnehmer:innen, und sein Ausgang wird auch davon abhängen, was wir denken und tun. Wir sind in diesem Krieg. Wir können nicht „aus dem Krieg desertieren”, wie mein Kollege Sandro Mezzadra in einem robusten pazifistischen Manifest[1] geschrieben hat. Das bedeutet nicht, dass wir den Krieg in all seinen unmittelbar vorgeschlagenen Formen führen müssen. Unsere Wahlmöglichkeiten sind vermutlich sehr begrenzt, aber wir dürfen uns nicht dafür entscheiden, dass es keine gibt.
Aber was für ein Krieg ist das? Auch das können wir nicht mit absoluter Gewissheit sagen. Denn wir haben keine vollständige Vorstellung davon, welche Räume der Krieg in Besitz nimmt, einmal abgesehen von dem offensichtlichen Territorium, in das die russischen Armeen im vergangenen Februar einmarschiert sind, sowie einigen angrenzenden Gebieten. Entscheidende Fragen zur Intensität des Krieges und zu seinen Auswirkungen über die Ukraine hinaus, vielleicht sogar auf die ganze Welt, sind noch offen, während sich der Krieg entfaltet und seinen Charakter zunehmend verändert. Von diesen Fragen hängen auch die Hypothesen ab, die wir über die Formen aufstellen können, die die Politik (als eine institutionelle und kollektive Praxis) im und nach dem Krieg annehmen könnte (falls es ein “danach” geben wird). In seinem berühmten, bis zum Überdruss wiederholten Satz sagte Clausewitz, dass “der Krieg […] eine […] Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ ist. Aber eine noch entscheidendere Frage ist: Welche Politik kann während des Krieges fortgesetzt werden, und wie wird der Krieg die Bedingungen und den eigentlichen Inhalt der Politik in der Zeit danach verändern?
Ich werde diese Streitpunkte anhand dreier Hauptthemen diskutieren: Erstens: “Was steckt in einem Krieg?”, oder welche Definitionen können für den gegenwärtigen Krieg vorgeschlagen werden? Zweitens: Wie definiert dieser Krieg die Funktion des Nationalismus und die Entstehung der “Nations-Form” selbst neu? Drittens: Wie artikuliert er verschiedene politische Räume in einer globalen Struktur von Konflikten und Handlungsfähigkeiten?
Was steckt in einem Krieg?
Meine Hypothese in diesem ersten Teil ist die folgende: Der “Charakter” des derzeitigen Krieges lässt sich unmöglich begreifen, wenn wir nicht nacheinander mehrere “Raster” anwenden, die auf verschiedenen Ebenen wirken und verschiedene Modalitäten des Konflikts hervorheben. Der Krieg ist also grundsätzlich mehrdimensional: Er entwickelt sich auf mehreren “Schauplätzen” in unterschiedlichen Rhythmen. Wir müssen jedoch entscheiden, welchem Aspekt wir in unserer politischen Beurteilung der “Wetteinsätze” des Krieges den Vorrang einräumen, der unsere Interventionen an den Orten, an denen wir uns historisch und geografisch befinden (z.B. als europäische Bürger:innen), bestimmt. Diese Entscheidung wird sich auf unser Verständnis der Umstände des Krieges und ihrer Artikulation stützen, aber letztendlich wird es eine subjektive Entscheidung sein, die sich nicht automatisch aus ihren eigenen Voraussetzungen ableiten lässt.
Ich glaube, dass sich der Krieg auf vier verschiedenen Ebenen gleichzeitig entwickelt, die ich versuchen werde, aufzuzeigen; allerdings sind einige Vorbemerkungen angebracht. Erstens, obwohl der Charakter eines jeden Krieges sicherlich von den Zielen der Kriegsteilnehmer:innen abhängt, wird er nicht wirklich durch ihre Absichten definiert, sondern durch die politische Verfassung ihrer kollektiven Institutionen (üblicherweise Nationen) und durch die historischen Bedingungen, in denen sich diese Institutionen befinden. Dies führt zu einer zweiten Vorbemerkung: Es gibt viele “Arten” von Krieg. Vergleiche sind nützlich, besonders wenn es sich um ähnliche Akteur:innen handelt: in diesem Fall mit dem amerikanisch-irakischen Krieg im Jahr 2003 oder den Kriegen in Jugoslawien in den 1990er Jahren oder dem Krieg in Tschetschenien Anfang der 2000er Jahre, dem Vietnamkrieg in den 1970er Jahren… Aber sie funktionieren im Wesentlichen als Gegenbeispiele. Gewissermaßen ist jeder neue Krieg eine neue Art von Krieg. Und drittens hat ein Krieg aufeinanderfolgende Phasen von “Bewegung” und “Position”, in denen sich das Gleichgewicht der Kräfte verschiebt: Normalerweise entspricht dies den Veränderungen von “Grenzen”, innerhalb derer der Krieg sich befindet. In diesem Fall steckt der Krieg nach einer Anfangsphase, in der die nationalen Kräfte der Ukraine die russische Invasion zurückgedrängt haben, in einem mörderischen Angriff gegen die östlichen Verteidigungslinien des Landes fest und kehrt an seinen Ausgangsort im Jahr 2014 zurück. Aber erst mit der aktuellen Entwicklung werden alle “geopolitischen” Dimensionen sichtbar.
Die erste Definition, die wir geben können, lautet: Dies ist ein Unabhängigkeitskrieg der ukrainischen Nation. Dies ermöglicht Vergleiche mit antiimperialistischen Befreiungskriegen im 20. Jahrhundert (wie in Algerien oder Vietnam) oder sogar mit der Konstituierung frühneuzeitlicher Nationen, die sich vom britischen, spanischen oder osmanischen Reich abspalteten. Es stimmt, dass die Ukraine, die eine “föderale Republik” in der Sowjetunion war, 1991 formell unabhängig wurde, nachdem die Sowjetunion aufzulösen begann. Und sie wurde von der internationalen Gemeinschaft anerkannt. Dies ist von entscheidender Bedeutung, weil es die russische Invasion eindeutig als einen Bruch des Völkerrechts kennzeichnet. Auf der einen Seite gibt es eine Aggression, auf der anderen Seite gibt es einen Widerstand. Die russische Propaganda machte jedoch sehr deutlich, dass die Unabhängigkeit der Ukraine von Seiten des “Reiches”, zu dem der größte Teil des ukrainischen Territoriums jahrhundertelang gehörte und das trotz der von der Oktoberrevolution verkündeten demokratischen Grundsätze auch während der kommunistischen Ära weiterbestand, nicht als vollendete Tatsache akzeptiert wurde. Es kann also gesagt werden, dass die Ukrainer:innen jetzt ihren Unabhängigkeitskrieg führen, nachdem – sollten sie ihn gewinnen – die Existenz der Nation nicht länger umstritten sein wird. Dies wird allerdings um den Preis enormer Zerstörungen und Leidens erreicht.
Der Verweis auf die Fortsetzung der imperialen Herrschaft im “eurasischen” Raum, der sich vom pazifischen Ozean bis zur polnischen Grenze und sogar darüber hinaus erstreckt, und insbesondere die Auswirkungen der russischen Revolution, zwingen uns, den Krieg auch aus einem anderen Blickwinkel und auf einer anderen Ebene zu betrachten. Das ungleiche Verhältnis von Kräften (und Zerstörungen) ist gewaltig, und es gibt einige bedeutende konstitutionelle Unterschiede, aber wie die Kriege in Jugoslawien in den 1990er Jahren gehört auch dieser “Unabhängigkeitskrieg” zur Kategorie der postkommunistischen Kriege, die aus dem Zusammenbruch ehemaliger “sozialistischer Staaten” in Europa und dem Scheitern ihrer “Nationalitätenpolitik” hervorgehen, die letztlich nur feindselige Nationalismen verstärkte (und die durch die wilde Politik der neoliberalen “primitiven Akkumulation” weiter angefacht wurden). Dies lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass dieser Krieg aus der Perspektive eines Jahrhunderts nicht nur ein europäischer Krieg ist, der sich gegen europäische Völker, europäische Nationalstaaten und die sie umgebenden europäischen Machtstrukturen und Bündnisse richtet, sondern dass er eine Fortsetzung ist, oder eine neue Episode in der tragischen Geschichte des europäischen Bürgerkriegs, der mit dem Ersten Weltkrieg begann, erst durch die Oktoberrevolution, dann durch den Aufstieg des Nationalsozialismus im besiegten Deutschland mit seinem Netzwerk faschistischer Verbündeter in ganz Europa, also den Zweiten Weltkrieg, und schließlich durch den Kalten Krieg und den “Eisernen Vorhang”, der 1989 zusammenbrach, neu gestaltet wurde. Dies ist eine tragische Geschichte voll von Regimewechsel, der Zerstörung und Wiederherstellung von Nationen, Genoziden und Massakern, totalitären Herrschaften, deren Spuren nicht vollständig beseitigt sind. Wenn wir den gegenwärtigen Krieg aus dieser Perspektive betrachten, sind der “totale Krieg”, der derzeit in der Ostukraine geführt wird, und der Exodus von Millionen von Menschen in keiner Weise gerechtfertigt, aber sie sind weniger überraschend. Es handelt sich um die Wiederholung eines bereits bestehenden Musters, welches allzu leicht in Vergessenheit geraten ist, weil man davon ausging, dass die zugrundeliegenden Probleme “gelöst” seien.
Diese zweite Definition führt indes sofort zu einer weiteren Ausdehnung des Rahmens, um den Krieg einzuordnen. Die europäischen Kriege des 20. Jahrhunderts waren ebenfalls “Weltkriege” oder Teile von “Weltkriegen”, in denen Europa ein mehr oder weniger “zentraler” Platz zugewiesen wurde. Ich würde sagen, dass der derzeitige Krieg eher ein “globalisierter Krieg” ist oder auf dem Weg ist, ein “globalisierter Krieg” zu werden, obgleich mit einem “hybriden” Charakter, in den viele Teile der Welt, ihre politischen Strukturen und Bevölkerungen in einer asymmetrischen Weise involviert sind. Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass die unmittelbaren Kriegsparteien Teil globaler Allianzen sind, die Unterstützung leisten und von denen man sagen kann, dass sie einen “Stellvertreterkrieg” führen. Angesichts der zweideutigen Haltung Chinas in dem Konflikt gilt dies natürlich besonders für die “westliche Seite”. Ohne den permanenten Fluss von Waffen und Informationen wäre die ukrainische Armee bei aller Tugendhaftigkeit nicht in der Lage, dem russischen Angriff standzuhalten. Und der Westen führt auch einen “Wirtschaftskrieg” gegen Russland. Es ist höchst bezeichnend, dass während Russland offiziell leugnet, einen Krieg zu führen, und ihn als “spezielle militärische Operation” bezeichnet (wie in den Kolonialkriegen der Vergangenheit), der Westen ebenfalls leugnet, in einen Krieg verwickelt zu sein und lediglich von “Sanktionen” spricht. Wichtig ist hier vor allem die Tatsache, dass die Kombination aus kriegsbedingten Zerstörungen, der Blockade für den Export von Getreide und anderen landwirtschaftlichen Produkten und den Auswirkungen der Sanktionen auf die Weltwirtschaft die dramatische Perspektive einer Nahrungsmittelknappheit eröffnet, die die Bevölkerungen im globalen Süden mit Hungersnöten bedroht: Auch sie sind jetzt “im Krieg”.
Schließlich gibt es noch eine vierte Bestimmung des Krieges, die nicht beiseitegelassen werden kann und die gewissermaßen an seinen Rändern spukt: die Möglichkeit, dass er zu einem Atomkrieg wird. Diese beunruhigende Frage wurde von Jürgen Habermas in einer jüngsten Veröffentlichung[2] aufgeworfen, die in Deutschland eine Kontroverse auslöste. Viele Kommentator:innen glauben, dass der Einsatz von Atomwaffen in diesem Krieg ein „Erpressungsmittel“ des russische Regimes sei. Andere gehen davon aus, die russische Invasion sei ein “Kolonialkrieg mit einem nuklearen Schutzschirm, der die andere Seite (die in der NATO vereinigte, westliche Koalition) zwinge, das Ausmaß ihrer Hilfe und den Umfang ihrer Intervention zu begrenzen. Dies geht jedoch an der Tatsache vorbei, dass in einem totalen Krieg eine “Steigerung zum Äußersten” nie ausgeschlossen ist, wenn er nicht mit einem klaren Vorteil für eine Seite endet, und dass – wie Günther Anders oder Edward Thompson zur Zeit des Kalten Krieges zu Recht betonten – die Existenz (und das Ausmaß) von Atomwaffen katastrophale Möglichkeiten schafft, die von den politischen Regimen und ihren Führer:innen nicht kontrolliert werden. Der “Exterminismus”, um es mit Thompsons Worten zu sagen, ist nicht “undenkbar”.
Wir sind also wieder zurück bei der notwendigen Entscheidung, wie wir diese verschiedenartigen Dimensionen, die dennoch nicht voneinander unabhängig sind, in unseren Beurteilungen hierarchisieren. Mein Standpunkt – dessen Fragilität mir bewusst ist – beinhaltet die dringende Unterstützung des Widerstands des ukrainischen Volkes, der im Namen der Unabhängigkeit seiner Nation geführt wird, und zwar nicht, weil die nationale Unabhängigkeit per se ein absoluter Wert ist, sondern weil es eindeutig um das ihm verweigerte Selbstbestimmungsrecht geht und weil es Opfer eines verbrecherischen Krieges in großem Maßstab ist. Eine Niederlage der Ukrainer:innen wäre moralisch inakzeptabel und hätte verheerende politische Folgen für die internationale Ordnung. Aber diese Unterstützung darf keine blinde Unterstützung sein. Deshalb komme ich nun zu den beiden anderen Momenten meiner Ausführung, die sich mit der Frage des Nationalismus und der Geopolitik globaler Räume und Konflikte befassen.
Nationen und Nationalismen
Man könnte sagen, dass das “N-Wort” jetzt wieder im Mittelpunkt der politischen Debatte steht und das Gespenst von völkermörderischer Gewalt, Intoleranz und Ausgrenzung heraufbeschwört, während wir uns gezwungen sehen, die scheinbare Unreduzierbarkeit der “Form der Nation” als ultimative Referenz für die Definition der historischen Akteur:innen zu überdenken. Die ukrainische Seite ist eindeutig vom Geist der “nationalen” Einheit und Autonomie beseelt, den man als “Nationalismus” bezeichnen kann – es gibt keinen anderen Begriff. Wir können jedoch nicht einfach eine Linie der Gleichwertigkeit mit dem russischen “nationalistischen” Diskurs ziehen: Es ist nicht allein eine Frage des Ungleichgewichts der Kräfte und der unterschiedlichen Positionen im Hinblick auf das Völkerrecht (das die “Souveränität” der Nationalstaaten sakralisiert, sofern sie international anerkannt sind, was von vielen Zufällen abhängt). Es ist eine Frage der politischen Grundhaltung: Die russische Propaganda, die sich die Existenz einiger extremistischer Gruppen zunutze macht, die seit der Unabhängigkeit eine aktive Rolle in der ukrainischen Politik gespielt haben, und die Vorstellung des “Großen Krieges” gegen den Nazismus nach 1941 ausnutzt, stellt das ukrainische Regime als eine Wiederauferstehung des “Nazismus” dar.
Es ist aber in Wirklichkeit das russische Regime, das totalitäre Züge aufweist, die von der gewaltsamen Unterdrückung politischer Gegner:innen bis hin zur Entwicklung eines imperialen Diskurses reichen, in dessen Mittelpunkt die historische Mission und der überlegene Wert des “russischen Volkes” steht, das als “Herrenvolk” dargestellt wird. Daraus leite ich zwei zusammenhängende Axiome ab: Erstens gibt es so etwas wie eine “Nation” ohne Nationalismus nicht, daher ist eine vollständige Ablehnung des Nationalismus als reaktionäre Ideologie per se bedeutungslos, es sei denn, wir beschließen, dass die Nations-Form selbst abgelehnt werden sollte (was in der Tat die Position einer großen Strömung in der sozialistischen Tradition war). Aber zweitens sind die Schwankungen des Nationalismus und die Inkarnationen der Nations-Form an verschiedenen Orten und Momenten der Geschichte wechselseitig. Die Geschichte der Nationen (die weitgehend von den Kriegen bestimmt wird, in die sie verwickelt sind) bringt dramatische Veränderungen in der Bedeutung und der Grundhaltung der nationalistischen Ideologien hervor, die wiederum die Nationen in entgegengesetzte Richtungen drängen. Oder besser gesagt, was politisch zählt, sind die wechselnden Verhältnisse, die ungleichen Gleichgewichte der widersprüchlichen Formen des “Nationalismus” unter einem einzigen Namen. Mit anderen Worten: Wir sollten nicht versuchen, eine Antwort auf die Frage zu geben: “Was ist der ukrainische Nationalismus?”, sondern vielmehr: Was wird er im Laufe dieses Krieges werden?
Abermals bin ich mir bewusst, dass die Hypothesen, die ich aufstellen werde, sehr fragil sind. Sie könnten sehr schnell widerlegt werden, aber vielleicht sind sie dennoch eine Überlegung wert. Ich glaube, dass die neuralgische Frage, um die sich die politische Ausrichtung des ukrainischen Nationalismus und seine politischen Auswirkungen drehen, den Status des “Multikulturalismus” (angefangen bei der Mehrsprachigkeit) in den Institutionen des ukrainischen Nationalstaates betrifft. In Anlehnung an die heute in der politischen Soziologie weitgehend akzeptierten Kategorien des Gegensatzes zwischen Demos und Ethnos werde ich ein “optimistisches” Szenario entwerfen, das mit den Charakteristika des gegenwärtigen patriotischen Widerstands verknüpft ist und darauf hindeutet, dass sich die Ukraine und ihre ideale Identität von einer “ethnischen Nation” in Richtung einer “zivilen Nation” oder hin zu einer Vorherrschaft des Demos gegenüber dem Ethnos bewegt. Dies würde sich aus der bemerkenswerten Tatsache ergeben, dass sich – entgegen den Erwartungen der Invasor:innen – die beiden in der Ukraine existierenden “Sprachgemeinschaften”, die sich, wie wir nicht vergessen sollten, weitgehend überschneiden (was bedeutet, dass die meisten Ukrainer:innen zweisprachig sind), im patriotischen Widerstand zusammengeschlossen und mit der Idee eines unabhängigen ukrainischen Nationalstaats identifiziert haben. Dies scheint eine entscheidende Tatsache zu sein, auch wenn es klar ist, dass in verschiedenen Teilen des Landes auch gegensätzliche Kräfte am Werk sind.
An dieser Stelle ist ein kurzer Exkurs in die Muster des ideologischen Diskurses angebracht. Auf der Seite des russischen Imperialismus, der die Existenz einer ukrainischen Nation leugnet, bestehen einige Widersprüche (was die entsprechenden Ideolog:innen nicht daran hindert, ihre Kräfte zu bündeln). Ein Diskurs gründet auf der Idee, dass es eine einzige “russische Welt” gibt, mit einer in der religiösen und sprachlichen Geschichte verwurzelten Genealogie, in der die Ukrainer:innen und ihre Sprache nur ein Zweig sind, der fortwährend mit den anderen verbunden ist, symbolisch gekennzeichnet durch die “Verlegung” der Metropole von Kiew nach Moskau. Ein anderer Diskurs, der den kolonialen Diskursen in anderen Teilen der Welt ähnlicher ist, stellt das “Ukrainische” als Sprache und die sie sprechende Bevölkerung als minderwertige Rasse oder als “Volk ohne Geschichte” dar, außer durch seine Eingliederung und Erziehung im Rahmen des Reiches. Die beiden Diskurse erklären, wie umgekehrt die nationalistische Erzählung in der Ukraine konstruiert wurde: als ein Narrativ von der ununterbrochenen Existenz des ukrainischen Volkes/der ukrainischen Nation, die im Wesentlichen identisch ist mit seinem Widerstand gegen die vor allem vom russischen Reich verfolgten Zerstörung seiner kollektiven Identität. Dieses Narrativ konstruiert eine mythische Kontinuität zwischen einem mittelalterlichen Königreich namens Rus’ mit seiner Hauptstadt Kiew, und einem zeitgenössischen nationalen Wiedererwachen, trotz der vollständigen Heterogenität und Diskontinuität dieser sozialen Formationen, aber mit symbolischen Zwischenerscheinungen (die “Kosak:innen”-Fürstentümer, die republikanische “Rada” während der revolutionären Periode nach 1917). Die Kontinuität geht natürlich mit der Vorstellung einher, dass es eine dauerhafte, auf der Sprachgemeinschaft beruhende Identität gibt, die von der imperialen Macht unmöglich “ausgerottet” werden konnte. Mein Ziel ist es nicht, dieses Narrativ (das anderen nationalen Mythologien in der Welt sehr ähnlich ist) zu entkräften, sondern vielmehr aufzuzeigen, warum das Erbe der Vergangenheit in dieser Region in Wirklichkeit wahrscheinlich viel komplexer ist. Wie der Name schon sagt, ist die Ukraine (innerhalb der über die Jahrhunderte fließenden Grenzen) ein Grenzland, in dem Kultur und kollektive “Zugehörigkeit” von Vielfalt und Hybridität geprägt sind, natürlich nicht ohne Gewalt und soziale Konflikte, denn sie war immer zwischen rivalisierenden Imperien (oder Königreichen) hin- und hergerissen, Teilungen und Einverleibungen in hegemoniale Souveränitäten, demografischen Revolutionen durch Deportationen und die Einführung fremder Völker, sogar Völkermorden unterworfen (von denen es zwei im 20. Jahrhundert gab: Die bolschewistische Vernichtung der Bäuerinnen und Bauern durch Verhungern und die nationalsozialistische Vernichtung der Jüdinnen und Juden durch Massenerschießungen und Todeslager)… Das grundlegende Phänomen ist, wie ich es soeben angedeutet habe, die Zweisprachigkeit der Mehrheit der Bevölkerung, die zu einem großen Teil dem sowjetischen Schulsystem zu verdanken ist, durch das die heutige gebildete Mittelschicht geschaffen wurde.
Dies sind einige der Gründe, warum ich vorschlage, dass der wichtigste Faktor bei der Entstehung des patriotischen, die Kampfkraft des ukrainischen Volkes in diesem Krieg unterstützenden Geistes nicht das ethnische Narrativ (oder einzig dieses Narrativ) ist, sondern die demokratische Erfindung der Maidan-Revolution von 2013-2014, die einen von der ethnischen Gemeinschaft getrennten Begriff der Staatsbürgerschaft schuf. Diese demokratische Erfindung ist gewiss nicht lupenrein, sowohl da sie von sektiererischen Manövern, Manipulationen durch “Oligarch:innen” und korrupte Politiker:innen durchdrungen war, die sogar zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten Milizen führte, aber sie ist unverkennbar als ein demokratischer Volksaufstand zu verstehen, insbesondere vor dem Hintergrund regionaler Tendenzen zu Autoritarismus (oder zur “Postdemokratie”). Dies ist gewiss einer der Gründe, warum die russische Diktatur unter Wladimir Putin sie nicht länger tolerieren konnte: Weil sie eine Kritik an der Korruption und eine kollektive Hinwendung zu den offiziellen Werten der westeuropäischen demokratischen Systeme (wie “oligarchisch” sie auch selbst sein mögen, sie lassen jedoch Raum für politischen Pluralismus) auslöste und ein Modell für die Bürger:innen der russischen Föderation darstellen könnte.
Natürlich bin ich mir bewusst, dass andere Kräfte in die entgegengesetzte Richtung drängen: Die mächtigste unter ihnen ist der Krieg selbst, vor allem weil er zwangsläufig eine Russophobie entfesselt, die sich nicht nur gegen Russland als Staat richtet, sondern auch gegen die russische Kultur und Sprache, also deren Gebrauch und Aufwertung durch die ukrainischen Bürger:innen selbst. Die große Unbekannte der Situation, die politisch entscheidend für die Zukunft ist, liegt in der Entwicklung dieser Antithese.
Geopolitiken und supranationale Räume
Abschließend möchte ich auf die Idee zurückkommen, dass die verschiedenen “Kriege”, die sich in der gegenwärtigen Situation überschneiden und überdeterminieren, verständlich werden, wenn wir ihre jeweilige Logik mit einer Betrachtung heterogener politischer Räume verknüpfen, die im “Grenzland” Ukraine zusammentreffen.
Lassen Sie mich mit einem grundlegenden Paradoxon beginnen, das der Situation innewohnt und durch den Krieg selbst noch verstärkt wurde: Nationen, die ihre Unabhängigkeit anstreben, vor allem wenn sie gegen ein Imperium (oder ein politisches Gebilde, das versucht, ein vergangenes Reich wieder aufleben zu lassen) kämpfen, sind bestrebt, ihre Souveränität zu behaupten. Jedoch war nationale Souveränität (sogar für sehr mächtige Nationen, und erst recht für kleinere) immer eine “begrenzte” Souveränität, die Anerkennung durch andere Nationen und Einbindung in Bündnissysteme vorausgesetzt hat. Auf dem Höhepunkt der imperialistischen Ära wurde sie zu einer weitgehend formalen Autonomie, da die Welt in rivalisierende “Lager” geteilt war, wenn auch nicht in der gleichen Art und Weise auf beiden Seiten. Diese Situation reproduziert sich heute, oder vielleicht sollten wir sagen, dass der ukrainische “Unabhängigkeitskrieg” zeigt, dass er nie verschwunden war, sondern nur seine Geographie verändert hat und anderen geopolitischen Kräfteverhältnissen unterworfen wurde. Heute zeigt sich, dass die Ukraine sich nur dann verteidigen und retten kann, wenn sie in das Militärbündnis der NATO aufgenommen wird, d.h. in die westliche imperialistische Struktur, die von den USA im Dienste ihrer globalen Interessen hegemonisiert wird, und dass sie ihre demokratischen Werte (in einem liberalen Sinne) nur dann geltend machen und entwickeln kann, wenn sie Mitglied der “quasi-föderalen” Struktur wird, die die EU darstellt. Die beiden Prozesse, welche die Abhängigkeit als den eigentlichen Inhalt der Souveränität erzeugen, sind eng miteinander verbunden und scheinen nicht voneinander unterscheidbar zu sein, da der Krieg selbst die militärische Integration der EU-Mitgliedstaaten verstärkt, die unter der Schirmherrschaft der NATO-Mitgliedschaft stattfindet, in der die USA ebenfalls eine überwältigende Dominanz ausübt. Was in der jüngsten Vergangenheit (seit dem Ende des Kalten Krieges) wie divergierende Entwicklungen des Politischen und des Militärischen aussah, erscheint nun wieder als die zwei Seiten eines einzigen Prozesses (mit der verheerenden Folge, dass eine Logik der “Lager” in der globalen Arena wieder eingeführt und die Lösung dessen, was ich den “europäischen Bürgerkrieg” genannt habe, auf unbestimmte Zeit verschoben wird).
Rechtfertigt dieses Phänomen die russische Propaganda, die von Anfang an erklärt hat, dass der Krieg (der nicht als solcher bezeichnet wird) eine Folge der aggressiven Politik der NATO ist, die versucht, den ehemaligen kommunistischen Rivalen “zurückzudrängen” (wie es einige neokonservative Ideolog:innen geplant hatten)? Das glaube ich nicht, denn selbst wenn die NATO eine Politik der “Umzingelung” des traditionell von Russland beherrschten eurasischen, politischen Raums verfolgte, was unbestreitbar zu sein scheint, hat sie Russland zunächst nicht militärisch angegriffen. Wir dürfen nie vergessen, welche Armeen in die Ukraine einmarschiert sind und sie derzeit zerstören. Darüber hinaus sollte klar sein, dass kein Kompromiss mit dem Putin-Regime oder die Kapitulation vor seinen Forderungen das Paradoxon der Erlangung der Unabhängigkeit durch die Unterwerfung unter ein größeres Ganzes auflösen wird, während mir andererseits auch klar ist, dass es für ein demokratisches Land völlig ungleiche Perspektiven sind, von einem rückwärtsgewandten autokratischen Imperium vereinnahmt und wieder verschluckt zu werden, oder aber in eine Föderation eingegliedert zu werden, die Ungleichheiten schafft oder aufrechterhält, aber Regeln für die Aushandlung von Teilhabe aufgestellt hat. Eine Diskussion über die zeitgenössischen Formen und Stufen des Imperialismus ist an dieser Stelle angebracht, die auch eine Unterscheidung zwischen den Formen der Unterwerfung, die sie erzwingen, beinhaltet. Der nächste Schritt wäre zu versuchen, die Wahrscheinlichkeit einzuschätzen, dass für die Ukraine und für Europa selbst die politische Integration, die als unvermeidliche Folge des “Unabhängigkeitskrieges” der Ukrainer:innen erscheint, nicht vollständig mit einer militärischen Integration in ein wiederhergestelltes transatlantisches “Lager” identifiziert und diesem unterworfen wird. Dies wird von den strategischen Entwicklungen des Krieges selbst abhängen: wie lange er dauert, welche Seite “gewinnt” oder sich einfach nur in einer günstigen Position befindet, um einen Frieden oder einen Waffenstillstand auszuhandeln, welche Lösungen von der öffentlichen Meinung auf beiden Seiten unterstützt oder toleriert werden, wobei auch das russische Volk zu berücksichtigen ist.
Aber die vielleicht wichtigste Überlegung steht noch aus. Wir sollten die Ebene der geopolitischen Konflikte zwischen den Militärbündnissen und die neue Kartographie der globalen Imperialismen (in der China die entscheidende Akteurin sein könnte) nicht als letzte Instanz der Diskussion betrachten. Was ich vorhin als “hybriden Charakter” eines Krieges zu konzeptualisieren versucht habe, der weniger ein “Weltkrieg” als ein “globalisierter Krieg” ist, könnte uns in eine andere Richtung führen. Kriege werden vor allem um Grenzen und Grenzgebiete geführt, und es gibt mehrere Arten und Ebenen von Grenzen: auf einer Ebene die nationalen Grenzen, die Regeln für den Ein- und Ausschluss in eine Gemeinschaft von Mitbürger:innen definieren, die normalerweise von den Staaten durchgesetzt werden, auf einer anderen Ebene die “globalen Trennlinien”, die den Planeten und die menschliche Bevölkerung als solche zwischen “Regionen” aufteilen, die das Ergebnis kolonialer und postkolonialer Hegemonien, ungleicher Entwicklung und der Lokalisierung verschiedener Formen des Kapitalismus sind. Denken wir an die Einteilung der Weltterritorien und der Weltbevölkerung in einen globalen Norden und einen globalen Süden. Es ist klar, dass diese Einteilung eine entscheidende Rolle bei der Wahrnehmung des Krieges in den verschiedenen Teilen der Welt spielt und insbesondere die im Süden weit verbreitete Auffassung nährt, dass es sich um einen Krieg zwischen den “Imperialismen des Nordens” handelt, vielleicht sogar um einen “Stellvertreterkrieg”, der vom mächtigsten Imperialismus, nämlich der USA, geführt wird (wobei die Frage zu stellen wäre, ob dieser immer noch der mächtigste ist). Worauf ich jedoch hinweisen wollte, ist die Tatsache, dass diese Einteilung zwar real (und entscheidend) bleibt, aber auch durch andere “globale” Phänomene verschärft wird: die globale Erwärmung und die Umweltkatastrophe sind hier entscheidend. Das ist ein Phänomen, das alle Grenzen in der Welt verschiebt und zersetzt, insbesondere die Grenzen zwischen bewohnbaren und unbewohnbaren Regionen und die “Grenzräume” der ausbeutbaren Regionen auf Kosten immenser Zerstörungen von Naturlandschaften. Der Krieg fügt dem ein neues, nicht weniger verheerendes Phänomen hinzu: die Möglichkeit oder sogar die Wahrscheinlichkeit einer massenhaften Nahrungsmittelknappheit und Hungersnot in naher Zukunft in mehreren Teilen der Welt, vor allem im Süden, der weder über ausreichende Ernteerträge noch über Geldreserven verfügt, um eine knappe Ressource zu hohen Preisen zu kaufen. Dies ist eine konkrete Form der Katastrophe, zu der wir noch die Umweltauswirkungen einer gesteigerten Produktion und eines verstärkten Einsatzes von Waffen hinzufügen könnten. In seinen jüngsten Beiträgen hat der französische Philosoph Bruno Latour, der enge Beziehungen zu den ökologischen Bewegungen unterhält, darauf hingewiesen, dass zwei Kriege gleichzeitig und unabhängig voneinander geführt werden: der Krieg gegen die Freiheit der Ukrainer:innen und der Krieg gegen die Erde als lebendes System. Ich behaupte, dass die beiden tendenziell zu einem einzigen “allgemeinen” Kriegszustand im “hybriden” Sinne verschmelzen. Die Aussichten sind also düster, und die Fähigkeit, kollektiv darauf zu reagieren, scheint begrenzt.
Ich werde keine wirkliche Schlussfolgerung ziehen. Lassen Sie mich nur Folgendes sagen. Ich stelle mich in die Perspektive des Pazifismus im weiten, historischen Sinne, der zur Tradition der Linken gehört, und des Internationalismus, der ein immanenter Bestandteil des antiimperialistischen Repertoires ist. Jedoch befindet sich der Pazifismus in einer Situation widersprüchlicher Anforderungen, insbesondere aus der Sicht der europäischen Bürger:innen, wie es bereits der Fall war, als es um grundlegende Fragen der Menschenrechte ging. Was den Internationalismus betrifft, so ist er notwendiger denn je, scheint aber auf gefährliche Weise entwaffnet zu sein. Wir müssen “bedingungslos” ein Volk unterstützen, das unter einer verbrecherischen Invasion und Massenvernichtung leidet und das das Recht hat, sich zu verteidigen und seinen Unterdrücker zu besiegen. Auf der anderen Seite dürfen wir die Auffassung nicht aufgeben, dass das Putin-Regime nicht dasselbe ist wie das russische Volk (so wie das Nazi-Regime nicht dasselbe war wie das deutsche Volk, die Bush- oder Trump-Administrationen nicht dasselbe waren wie das amerikanische Volk usw.), deshalb müssen wir die Russophobie bekämpfen und größte Solidarität mit den russischen Dissident:innen zeigen, die gegen die Invasion von innen heraus Widerstand leisten. Wir müssen die Kampagne gegen die atomare Aufrüstung wiederaufnehmen und ganz allgemein jede Gelegenheit nutzen, um die Idee einer anderen Weltordnung wieder aufleben zu lassen, die auf der Unabhängigkeit der Nationen und der gegenseitigen Abhängigkeit der Völker sowie der kollektiven Sicherheit statt auf Aufrüstung, Vorherrschaft und Sanktionen beruht.
Dieser Text stellt die Grundlage der Lesung von Étienne Balibar auf der London Critical Theory Summer School 2022 dar. Er wurde auf Englisch in Commons – Journal of Social Criticism, einer linken ukrainischen Zeitschrift, veröffentlicht und von John S. Will für emanzipation übersetzt.
[1] Deserting the War | transversal texts
[2] War and Indignation. The West’s Red Line Dilemma | Reset DOC