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Ukrainische Feministinnen haben sich zusammengeschlossen und ein gemeinsames Manifest verfasst. Darin pochen sie auf ihr Recht auf bewaffneten und unbewaffneten Widerstand und fordern einen Wiederaufbau der Ukraine, der sich auf eine gerechte soziale Reproduktion, Arbeitsrechte, Gleichheit und Demokratie stützt. Damit schaffen die ukrainische Feministinnen einen starken Pol der Solidarität und erheben ihre Stimme in einer Debatte unter vorwiegend westlichen Feministinnen, welche in einem früheren Aufruf ohne jeglicher Beteiligung ukrainischer, osteuropäischer oder russischer Feministinnen der Ukraine das Recht auf Selbstbestimmung absprechen und sie zur Kapitulation drängen. Problematisch an diesem “westlichen” Aufruf war zudem, dass er sich auf eine breite und erfolgreiche Initiative russischer Feministinnen stützte, deren Position jedoch ignorierte und sie in Geiselhaft der westlichen Debatte nahm (siehe dazu das Interview mit der russischen Aktivistin Sasha).(red.)
Wir, Feministinnen aus der Ukraine, rufen Feministinnen weltweit auf, sich mit dem Widerstand des ukrainischen Volkes gegen den imperialistischen Angriffskrieg der Russischen Föderation zu solidarisieren. In Erzählungen über den Krieg werden Frauen* meist als Opfer dargestellt. In Wirklichkeit haben sie immer eine Schlüsselrolle in den Widerstandsbewegungen gespielt, sowohl auf dem Schlachtfeld als auch an der Heimatfront, von Algerien bis Vietnam, von Syrien bis Palästina, von Kurdistan bis zur Ukraine.
Es ist dieses Recht auf Widerstand, als ein grundlegender Akt der Selbstverteidigung der Unterdrückten, das die Autorinnen des Manifests “Feminist Resistance against War” den ukrainischen Frauen* absprechen. Im Gegenteil, wir sehen feministische Solidarität als eine politische Praxis, die denjenigen eine Stimme geben muss, die direkt von imperialistischer Aggression betroffen sind, und die ihr Recht verteidigt, ihre eigenen Bedürfnisse, politischen Ziele und Strategien zu deren Erreichung zu bestimmen. Ukrainische Feministinnen haben nicht bis jetzt gewartet, um gegen systemische Unterdrückung, gegen Patriarchat, Rassismus und kapitalistische Ausbeutung zu kämpfen: Wir haben gekämpft, kämpfen und werden diesen Kampf in Zeiten des Krieges und in Zeiten des Friedens fortsetzen. Aber die russische Invasion zwingt uns, unsere Energien auf den allgemeinen Abwehrkampf der ukrainischen Gesellschaft um das Überleben, um grundlegende Rechte und Freiheiten und um politische Selbstbestimmung zu konzentrieren. Wir fordern eine sachkundige Beurteilung der konkreten Situation anstelle von abstrakten geopolitischen Analysen, die den historischen, sozialen und politischen Kontext außer Acht lassen. Ein abstrakter Pazifismus, der alle kriegführenden Kräfte gleichermaßen verurteilt, führt zu unverantwortlichen praktischen Schlussfolgerungen. Wir bestehen auf dem wesentlichen Unterschied zwischen Gewalt als Mittel der Unterwerfung und legitimer Selbstverteidigung.
Die russische Aggression untergräbt die Errungenschaften der ukrainischen Feministinnen im Kampf gegen politische und soziale Unterdrückung. In den besetzten Gebieten werden Massenvergewaltigungen und andere Formen der geschlechtsspezifischen Gewalt als militärische Strategie eingesetzt. Die Errichtung eines russischen Regimes in diesen Gebieten droht, LGBT+-Personen zu kriminalisieren und häusliche Gewalt zu entkriminalisieren. Das Problem der häuslichen Gewalt verschärft sich in der gesamten Ukraine. Die enorme Zerstörung der zivilen Infrastruktur, Umweltrisiken, Inflation, Knappheit und Vertreibung der Bevölkerung bedrohen die soziale Reproduktion. Der Krieg verstärkt die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und verlagert die Arbeit der sozialen Reproduktion noch mehr auf die Frauen* unter besonders schwierigen und prekären Bedingungen. Steigende Arbeitslosigkeit und der Angriff der neoliberalen Regierung auf die Arbeitsrechte verschärfen die sozialen Probleme weiter. Auf der Flucht vor dem Krieg sind viele Frauen* gezwungen, das Land zu verlassen, was sie in eine prekäre Lage bringt, da sie Schwierigkeiten haben, Zugang zu Wohnraum, sozialer Infrastruktur, stabilem Einkommen und medizinischer Versorgung (einschließlich Verhütung und Abtreibung) zu erhalten, und sie dem Risiko des Menschenhandels ausgesetzt sind.
Wir fordern Feministinnen auf der ganzen Welt auf, unseren Kampf zu unterstützen. Wir fordern:
- Das Recht auf Selbstbestimmung, den Schutz des Lebens und der Grundfreiheiten sowie das Recht auf Selbstverteidigung (auch mit Waffen) des ukrainischen Volkes – wie auch anderer Völker – gegen imperialistische Aggression.
- umfassender Frieden zu den Bedingungen der Gerechtigkeit
- internationale Gerechtigkeit in Bezug auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der imperialistischen Kriege der Russischen Föderation und anderer Länder
- wirksame Sicherheitsgarantien für die Ukraine und wirksame Mechanismen zur Verhinderung weiterer Kriege, Aggressionen und der Eskalation von Konflikten in der Region und in der Welt
- Freizügigkeit, Schutz und soziale Garantien für alle Flüchtlinge sowie für Binnenvertriebene jeglicher Herkunft
- Schutz und Ausbau der Arbeitsrechte, Abschaffung von Ausbeutung und Überausbeutung, Demokratisierung der Arbeitsbeziehungen
- Priorisierung des Bereichs der sozialen Reproduktion (Kindergärten, Schulen, medizinische Einrichtungen, Sozialhilfe usw.) beim Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg
- Erlass der Auslandsschulden der Ukraine (und anderer Peripherieländer) für den Wiederaufbau nach dem Krieg und Verhinderung einer weiteren Austeritätspolitik
- Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt, Umsetzung der Istanbul-Konvention
- Achtung und Ausweitung der Rechte von LGBT+ Menschen, ethnischen Minderheiten, Menschen mit Behinderungen und anderen unterdrückten Gruppen
- Sicherstellung der reproduktiven Rechte von Mädchen und Frauen, einschließlich des allgemeinen Rechts auf sexuelle Aufklärung, Medizin, Verhütung und Abtreibung.
- Sichtbarmachung der aktiven Rolle der Frauen im antiimperialistischen Kampf,
- Einbeziehung von Frauen als Gleichberechtigte in alle gesellschaftlichen Prozesse und Entscheidungsmechanismen, sowohl in Kriegs- als auch in Friedenszeiten
Der russische Imperialismus bedroht heute die Existenz der ukrainischen Gesellschaft und betrifft die ganze Welt. Unser gemeinsamer Kampf gegen ihn erfordert gemeinsame Prinzipien und globale Unterstützung. Wir rufen zu feministischer Solidarität und zum Handeln auf, um Menschenleben und -rechte, soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit zu schützen. Sollte die ukrainische Gesellschaft die Waffen niederlegen, dann gibt es keine ukrainische Gesellschaft! Sollte die Russische Föderation die Waffen niederlegen – dann gibt es keinen Krieg!
Wir stehen für das Recht auf Widerstand.
Wenn die ukrainische Gesellschaft ihre Waffen niederlegt, wird es keine ukrainische Gesellschaft mehr geben.
Wenn Russland seine Waffen niederlegt, wird der Krieg enden.
Liste der Unterzeichnenden
Wir dokumentieren hier die Erstunterzeichnerinnen des Manifests. Eine aktualisierte Auflistung findet sich auf der Website des Commons Magazins bzw. des European Network for Solidarity with Ukraine. Einen Link zum unterzeichnen des Manifests gibt es hier.