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In der Woche seit dem Beginn der russischen Invasion dürften die Syrer*innen, die gegen Präsident Bashar al-Assad sind, nur noch von den Ukrainer*innen selbst übertroffen werden, wenn es darum geht, jeden Schrecken des Krieges zu verfolgen, den das Regime von Wladimir Putin in der Ukraine führt. Der Grund für diese eigenartige Situation sollte eigentlich auf der Hand liegen. Russland hält seit Ende September 2015 einen Teil Syriens besetzt und unterstützt auf brutale Weise das Regime Assads, dessen oberstes Ziel es ist, für immer an der Macht zu bleiben, selbst wenn er das Land expansionistischen Kräften von außen wie dem Iran und Russland selbst unterwerfen muss.
Seit sechseinhalb Jahren hält Russland im Nordwesten Syriens einen großen Militärstützpunkt namens Hmeimim, zu dem Assad in der Regel beordert wird, wenn Putin oder sein Verteidigungsminister ihre Truppen dort besuchen. Im Jahr 2019 sicherte sich Russland einen Pachtvertrag über 49 Jahre für den Hafen von Tartus, wo es nun Kriegsschiffe im Mittelmeer stationieren kann. Der russische Verteidigungsminister rühmte sich, in Syrien mehr als 320 verschiedene Waffen aus seinem Militärarsenal erfolgreich getestet zu haben. Putin selbst lobte die Kampferfahrung, die mehr als 85 Prozent der Kommandeure der russischen Armee in Syrien gesammelt haben.
Syrien war ein Testgelände für das russische Militär. Dieses setzte Phosphormunition, thermobarische Bomben und Streubomben – die laut internationalem Übereinkommen verboten sind – gegen zivile Einrichtungen ein, wobei Krankenhäuser, Schulen und Märkte angegriffen wurden. Es bezeichnete alle, die sich dem Assad-Regime widersetzten, als Terrorist*innen (genau wie Assad es auch tat). Das bedeutet einfach, dass deren Leben nicht zu beklagen ist, dass es kein Verbrechen ist, sie zu töten. Es ist sogar eine gute Sache, die belohnt werden sollte oder zumindest Beifall verdient. Tatsächlich wurde Putin von islamfeindlichen rechten Organisationen im Westen und von Anhänger*innen des Autoritarismus überall für seinen imperialistischen Krieg in Syrien gelobt, bei dem bisher etwa 23.000 Zivilist*innen getötet wurden.
Dennoch gibt es im Westen kaum Stimmen, die Putins Krieg in Syrien verurteilen. Warum eigentlich? Wegen des langen und verbrecherischen «Kriegs gegen den Terror», der die Grundlage für eine breite internationale Koalition gegen Terroristen – d. h. nihilistische sunnitische islamische Gruppen – bildet, bei dem die Vereinigten Staaten und die Europäische Union de facto ein Bündnis mit Russland, Assad, dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi, dem saudi-arabischen Präsidenten Mohammed bin Salman und dem Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate, Mohammed bin Zayed, und natürlich dem Apartheidstaat Israel eingegangen sind. Dies war nicht nur ein Verrat an den Syrer*innen, die seit zwei Generationen für die Demokratie kämpfen, sondern ein Verrat an der Demokratie überall auf der Welt.
Der Krieg gegen den Terror bot Putin eine einmalige Chance, seine imperialistischen Ambitionen zur Wiedererrichtung des russischen Imperiums zu verwirklichen, angefangen in Syrien. Putin betrachtet den Untergang der Sowjetunion bekanntlich als «wirkliche Tragödie» und «größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts» – nicht wegen irgendwelcher kommunistischer Gefühle, sondern weil die Sowjetunion zu einem großen Teil ein russisches Imperium war. Und nun will Putin, ermutigt durch ein Mandat über Syrien, das ihn nichts kostete, die Ukraine annektieren, die seiner Meinung nach nie über «Traditionen wirklicher Staatlichkeit» verfügte.
Diese Aggression stützt sich auf drei widersprüchliche Vorwände. Erstens soll die Ukraine «entnazifiziert» werden, was diesen Krieg zu einer Fortsetzung des «Großen Vaterländischen Krieges» der Sowjetunion gegen Hitler macht – und nicht zur Fortsetzung von Putins eigenen Expansionskriegen in Tschetschenien, Georgien, der Krim und Syrien. Zweitens, um die Ukraine zu «entmilitarisieren», d. h. ihre Streitkräfte zu zerstören und zu verhindern, dass sie jemals der NATO beitritt. Und drittens, weil die Ukraine keine «echte Nation» ist, wie Putin behauptet, sondern ein Teil Russlands.
Man fühlt sich an die «Kesselgeschichte» von Freud erinnert. Ein Mann lieh sich von seinem Nachbarn einen Kessel und brachte ihn beschädigt zurück. Um sich selbst freizusprechen, brachte er drei Argumente vor: Der Kessel war nicht beschädigt, als er ihn zurückgab; er war bereits beschädigt, als er ihn auslieh; er hatte den Kessel überhaupt nicht ausgeliehen. Das ist die Logik des unbändigen Machtstrebens eines Diktators, der sich in seinem fünften Krieg in diesem Jahrhundert nicht zügeln kann oder will. Doch Putins drei Argumente sind bereits in sich zusammengebrochen. Es stimmt zwar, dass es in der Ukraine rechtsextreme, ultranationalistische Gruppen gibt, aber sie sind eine Minderheit mit begrenzter politischer Macht, und sie sind keineswegs diejenigen, gegen die sich der Einmarsch Russlands richtet. Wenn überhaupt, gibt Putins Krieg der Ukraine die volle Rechtfertigung, sich auf jede erdenkliche Weise gegen ihren aggressiven, tyrannischen Nachbarn zu verteidigen. Die Ukraine beweist ihre nationale Realität durch den Widerstand gegen die russischen Invasoren.
Eine russische Niederlage wäre nicht nur ein Sieg für die Ukraine, sondern für die ganze Welt. Eine Niederlage Putins könnte auch sein politisches Leben beenden, was die beste Nachricht für die russischen Demokrat*innen ist, die mutig gegen die Aggression im Namen ihres Landes protestieren. Auch für die Syrer*innen kann dies eine gute Nachricht sein, denn es würde auch das barbarische und verräterische Regime Assads schwächen, ebenso wie die wachsenden autoritären Tendenzen im gesamten Nahen Osten und in der Welt. Und während eine Niederlage unseres gemeinsamen Feindes Putin nicht unbedingt ein Sieg für uns Syrer*innen sein muss, wäre ein Sieg des Putinismus eine noch größere Niederlage für uns, da er unsere ohnehin schon geringen Möglichkeiten, unser eigenes Land zurückzuerobern, noch weiter einschränken würde.
Aber selbst wenn die Ukraine Russland zurückdrängen kann, werden die möglichen Sieger diejenigen sein, die mitschuldig an der Auslieferung Syriens, unseres Landes, an eben diesen Feind sind. Ich meine die westlichen Mächte, insbesondere die Vereinigten Staaten, die Urheber des Krieges gegen den Terror. Das putinistische Russland wird auf der einen Seite als aggressiver Eindringling wahrgenommen, auf der anderen Seite als der Barbar, der den dreckigen Job des Westens erledigen kann. Doch das ist ethisch verwerflich und politisch kontraproduktiv, wie die Ukraine beweist.
Wir brauchen Politik und Gerechtigkeit gegen den Terror, nicht einen Krieg gegen den Terror. Das Wort für diese Politik und diese Gerechtigkeit lautet Demokratie. Die Demokratie auf dem Altar des Krieges gegen den Terror und der Priorität der Sicherheit zu opfern, ist prinzipienlos und selbstzerstörerisch, nicht nur in Syrien und dem Nahen Osten, sondern auch im Westen selbst.
Imperialismus und Demokratie sind unvereinbar. Das gilt für Russland, aber auch überall sonst. Das Gleiche gilt für den Westen. Der Imperialismus, der in Europa zuvor in Form des Nationalsozialismus seinen Bumerangeffekt hatte, wie Hannah Arendt in ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft argumentierte, hat seine analoge Wirkung bereits in unserer Zeit in Form des Rechtspopulismus, der schrittweise normalisiert wurde und sich schnell von der extremen Rechten zum akzeptablen Mainstream bewegte, in direktem Zusammenhang mit dem Krieg gegen den Terror und der sogenannten Migrant*innen- und Flüchtlingskrise.
Als Geflüchtete, die aus ihrer Heimat entwurzelt und in 127 Länder verstreut wurden, sind wir Syrer*innen nun unsere eigene internationale Gemeinschaft. Als solche sind wir dazu aufgerufen, in jeden Kampf auf dem Planeten einzugreifen.
Die Ukraine ist eine syrische Angelegenheit. Und die Welt ist es ebenfalls.
Dieser Text ist zuerst am 4. März 2022 auf Arabisch und English in DAWN – Democracy for the Arab World Now veröffentlicht worden. Harald Etzbach hat ihn für Emanzipation übersetzt.
Bildquelle: Ali Haj Suleiman/Al Jazeera
Der syrischer Künstler Aziz Al-Asmar malte ein Wandgemälde in Solidarität mit dem ukrainischen Volk auf die verbliebene Wand eines von russischen Kampfflugzeugen zerstörten Hauses in der Provinz Idlib.