Share This Article
Die Welt befindet sich in einer Krise.
Die Welt steht in Flammen.
Eine Revolution ist dringender als je zuvor.
Können wir sie erreichen, fragt Neil Faulkner in diesem Artikel, der zuerst am Vorabend des Jahres 2022 in Anticapitalist Resistance erschienen ist.
Die neoliberale Ära (ab ca. 1975) ist gekennzeichnet durch a) eine sich beschleunigende vielschichtige Krise des kapitalistischen Weltsystems und b) eine noch nie dagewesene Folge explosiver Volksaufstände von unten. Diese beiden Merkmale der Epoche sind selbstverständlich eng miteinander verbunden.
Dreimal in seiner Geschichte hat der Kapitalismus auf langwierige Wirtschaftskrisen mit einer radikalen Umgestaltung seiner Funktionsweise reagiert. Die Lange Depression, die 1873 begann, bildete den Rahmen für den Übergang zum Imperialismus, der eine enge Verflechtung von Staat, Banken und Industrie, einen aggressiven Wettbewerb um Rohstoffe und Märkte sowie steigende internationale Spannungen und Rüstungsausgaben mit sich brachte und im Ersten Weltkrieg gipfelte.
Die Große Depression, ausgelöst durch den Wall-Street-Crash von 1929, führte zu verschiedenen Formen des Staatskapitalismus, bei denen die Volkswirtschaften durch eine Mischung aus öffentlichem Eigentum, staatlichen Verträgen, staatlicher Regulierung, Ankurbelung der Wirtschaft usw. gesteuert wurden. Dies wurde während des Zweiten Weltkriegs normalisiert und bildete dann die Grundlage für den Nachkriegsboom (1948-73).
Die Krise, die 1973 begann, führte zur neoliberalen Wende. Dabei handelte es sich im Wesentlichen um eine Gegenoffensive der internationalen herrschenden Klasse, die darauf abzielte, die Errungenschaften der Nachkriegszeit wieder rückgängig zu machen und neue Möglichkeiten für den privaten Profit zu schaffen.
Der Reichtum wurde von der Arbeiter:innenklasse, sowie den öffentlichen Diensten und staatlichen Leistungen, auf die diese angewiesen war, auf die Reichen und Unternehmen umverteilt. Hierzu wurden die Wohlfahrtsstaaten im Globalen Norden und die nationalen Entwicklungsprogramme im Globalen Süden abgebaut.
Bis 2008 war die Strategie aus Sicht der herrschenden Klasse relativ erfolgreich. Die gewerkschaftliche Organisation wurde zerschlagen. Die sozialdemokratischen Parteien wurden zu Echokammern des neoliberalen Konsenses. Löhne, Renten und Sozialleistungen wurden gekürzt. Der Lebensstandard der Mehrheit der Bevölkerung sank oder stagnierte. Wohnungsbau, Bildung und Gesundheitswesen wurden privatisiert. Die Zahl der staatlichen Arbeitsplätze sank stark und die Arbeitslosigkeit stieg sprunghaft an. Die Vermögen der Reichen stiegen in schwindelerregende Höhen. Die Macht der Konzerne zerstörte die Gesellschaft und den Planeten.
Doch das Wachstumsniveau und die Rentabilität der staatskapitalistischen Ära wurden nicht wieder erreicht hatte. Um die Kapitalakkumulation aufrechtzuerhalten, wurde das System stattdessen zunehmend pathologisch, abhängig von: Finanzialisierung, Vermögensinflation und Spekulationsblasen; Handel mit Schulden und Eigentum; Privatisierung und Zerstörung der Gemeingüter, d. h. “Akkumulation durch Enteignung”; die militarisierte Akkumulation, die durch steigende Militär-, Polizei- und Sicherheitsausgaben ermöglicht wird, und manische Formen des Konsumverhaltens.
Vieles davon beinhaltet “Profitieren ohne zu produzieren”, sei es in Form von Ausbeutung in der Konsumsphäre (Monopolpreise, Schuldzinsen, Gebühren und Abgaben, Rentenzahlungen usw.) oder in Form “hohler” transnationaler Konzerne, deren gesamte Produktion auf Sweatshops im globalen Süden ausgelagert ist, die sich jedoch den Großteil des Profits durch die Kontrolle über das Vertriebsnetz aneignen.
Dies hat dazu geführt, dass die Krise des kapitalistischen Weltsystems vertieft und beschleunigt wurde, anstatt sie zu lösen. Dies hat wirtschaftliche, ökologische, epidemiologische, soziale, geopolitisch-militärische und politisch-kulturelle Dimensionen.
Etwas ausführlicher ausgedrückt, birgt unsere Welt a) eine anhaltende langfristige Krise der Überakkumulation, der relativen Stagnation und pathologischer Formen der Akkumulation; b) eine immer dringlichere Krise des ökologischen Zusammenbruchs aufgrund des Klimawandels und anderer Formen der Umweltverschmutzung; c) eine neue Krise pandemischer Krankheiten, die in der Natur des kapitalistischen Agrobusiness wurzelt und nun in die globale Gesellschaft eingebettet ist; d) eine soziale Krise, in der sich eine winzige Unternehmenselite absurde Mengen an Reichtum aneignet, während Milliarden von Menschen in absoluter Armut leben; e) eine Krise des geopolitischen Systems, die mit steigenden Rüstungsausgaben, zunehmender Kriegsgefahr und einer Vielzahl “gescheiterter Staaten” einhergeht, in denen es zu Warlordismus, mafiöse Strukturen, Massenvertreibung und sozialem Zusammenbruch kommt; und f) eine Flutwelle von Autoritarismus, Nationalismus, Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Faschismus und antisozialem Narzissmus.
Im Gegensatz zu 1873, 1929 und 1973 hat die neue Krisenperiode, die 2008 begann, nicht zu einem neuen Paradigma der Kapitalakkumulation geführt. Stattdessen hat die gescheiterte neoliberale Ordnung ihr Scheitern intensiviert. Die internationale Bourgeoisie – die Herren des Kapitals und die Staatsfunktionär:innen, die nach ihrer Pfeife tanzen – haben für keines der großen Probleme, mit denen die Menschheit und der Planet konfrontiert sind, eine Lösung. Die Mainstream-Politik, die durch ihre eigene Sinnlosigkeit ausgehöhlt ist, hat sich auf Spin und Spektakel reduziert.
Eine Revolution von unten – eine Revolution der Arbeiter:innenklasse, der Unterdrückten und der Armen, die 90 % der Weltbevölkerung ausmachen – ist zu einem existenziellen Gebot für die Menschen und den Planeten geworden. Wie stehen die Chancen? Im Folgenden ist dieser Artikel der Versuch, die globalen Kräfteverhältnisse, die Stärken und Schwächen der Massenbewegungen und was es braucht, dass aus einem Volksaufstand eine Weltrevolution wird, zu analysieren.
Eine Welt in Flammen
Eine Welle von pro-demokratischen Revolutionen vernichtete 1989 die alten stalinistischen Regime in ganz Osteuropa. Zwischen 1990 und 1994 wurden nicht weniger als 35 afrikanische Regierungen durch Protestbewegungen, Massenstreiks und Neuwahlen gestürzt. In den 1990er und 2000er Jahren schwappte eine “marea rosa” durch Lateinamerika, die Bolivien, Brasilien, Ecuador, Mexiko, Paraguay und Venezuela erfasste und in einigen Fällen konservative Regierungen stürzte und durch radikalere, in Massenbewegungen verwurzelte Regierungen ersetzte. Zwischen 1999 und 2003 wurde die Welt zunächst von massiven Antiglobalisierungsprotesten und dann von massiven Anti-Kriegs-Protesten erfasst, an denen oft Hunderttausende von Menschen teilnahmen.
Nach dem Crash von 2008 erschütterte eine Welle von Anti-Austeritäts- und Pro-Demokratie-Protesten die Welt, wobei es in Großstädten wie Athen, Madrid und Istanbul mitunter zu massiven Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant:innen und der Polizei kam. In Europa stürzten eine Reihe von Regierungen, die die Austeritätspolitik befürworteten, aber ihren Höhepunkt erreichte die Bewegung im Nahen Osten, wo die Aufstände des “Arabischen Frühlings” weite Teile der Region erfassten und die Diktatoren in Ägypten, Libyen, Tunesien und Jemen stürzten.
Ende der 2010er Jahre brach eine neue Welle von Massenprotesten in der ganzen Welt aus, mit großen Kämpfen in Weißrussland, Chile, Frankreich, Hongkong, Iran, Libanon, Sudan, Thailand und vielen anderen Ländern. Bis zu 25 Millionen Amerikaner:innen beteiligten sich an den Black-Lives-Matter-Protesten im Jahr 2020 und setzten damit eine Bewegung in Gang, die sich weltweit ausbreitete und zu den größten antirassistischen Mobilisierungen der Weltgeschichte führte.
Wie sind diese außergewöhnlichen Turbulenzen zu erklären, diese Abfolge von gewissermaßen “revolutionären Versuchen”, bei denen halbaufständische urbane Massenbewegungen die Autorität des repressiven Staates in den metropolitanen Kerngebieten des neoliberalen Kapitalismus herausfordern?
Als Bookmarks 1987 einen von Colin Barker herausgegebenen Band mit dem Titel „Revolutionary Rehearsals“ veröffentlichte, wurden darin fünf Massenkämpfe der vorangegangenen zwei Jahrzehnte vorgestellt – die Ereignisse vom Mai-Juni 1968 in Frankreich, die Regierung der Unidad Popular von 1970-73 in Chile, die portugiesische Revolution von 1974-75, die iranische Revolution von 1979 und die Solidarność-Bewegung in Polen von 1980-81.
Die organisierte Arbeiter:innenschaft – d. h. die in Gewerkschaften und betrieblichen Versammlungen organisierten Arbeiter:innen – stand bei all diesen Kämpfen im Mittelpunkt. Auch wenn andere Kräfte mehr oder weniger stark involviert waren, war die Beteiligung der organisierten Arbeiter:innenklasse – an Massenstreiks, Fabrikbesetzungen und großen Straßenprotesten – entscheidend.
Letztes Jahr veröffentlichte Haymarket eine Art Fortsetzung, „Revolutionary Rehearsals of the Neoliberal Age“, wiederum herausgegeben von Colin Barker, aber jetzt mit Gareth Dale und Neil Davidson als Mitherausgebern. Neben zwei theoretischen Artikeln, die den Anfang und das Ende des Buches bilden, enthält es detaillierte Studien über die osteuropäischen Revolutionen von 1989, das Ende der Apartheid in Südafrika, drei Jahrzehnte des Kampfes in Afrika südlich der Sahara, den Sturz von Suharto in Indonesien 1998, die Volksbewegungen in Bolivien Anfang der 2000er Jahre, die argentinische Rebellion von 2001, die „marea rosa“ in Lateinamerika im Allgemeinen und die ägyptische Revolution von 2011-13. Das Buch kann sehr empfohlen werden. Es ist reich an Lektionen.
Es wird deutlich, dass zwischen den Umwälzungen von 1968-81 und denen seit 1989 ein entscheidender Unterschied besteht. Die Arbeiter:innenklasse ist natürlich immer präsent, wie sie es bei fast jeder Art von Massenprotestbewegung in der modernen Welt sein muss, aber in der neoliberalen Ära nur gelegentlich und episodisch als organisierte Arbeiter:innenklasse, die durch ihre eigenen Massenorganisationen (Gewerkschaften, Versammlungen, Parteien) handelt.
Kennzeichnend für die meisten Kämpfe der letzten Zeit ist die durchgängige Vorherrschaft bürgerlicher Führung der einen oder anderen Art. Massenbewegungen können eine bürgerliche Opposition an die Macht bringen, die liberaler und demokratischer ist und den Forderungen des Volkes mehr nachkommt, zumindest anfänglich.
Aber der neoliberale Kapitalismus mit seinen Imperativen der Ausbeutung und Akkumulation bleibt in diesem “politischen Zirkus der recycelten Eliten” unangefochten. Das Versagen des Systems ein neues Paradigma der kapitalistischen Entwicklung zu erschaffen, bedeutet, dass auch die neue Elite wenig zu bieten hat. Sie setzt die neoliberale Politik fort, unterdrückt den Widerstand und muss, zu gegebener Zeit, mit weiteren Volksaufständen rechnen.
Der Film der Geschichte wird immer wieder neu gedreht. Das ist das allgemeine Muster. Betrachten wir nun diesen Prozess im Detail.
Von der Zustimmung zum Zwang
Als sich der italienische Revolutionär Antonio Gramsci in der Zwischenkriegszeit mit der Widerstandsfähigkeit des Kapitalismus angesichts von Volksaufständen auseinandersetzte, entwickelte er die Konzepte der “Hegemonie” und des “Alltagsverstand”. Hegemonie, so argumentierte er, sei nicht einfach eine Sache der plumpen Indoktrination mit reaktionären Ideen, sondern etwas, das die Institutionen, Strukturen, Prozesse, Normen und Werte des täglichen gesellschaftlichen Lebens durchdringe. Sie wurde zu einer Reihe von Selbstverständlichkeiten, dem Alltagsverstand, – unhinterfragt, unausweichlich, selbstverständlich -, an denen sich die Menschen in ihrem täglichen Leben orientierten.
Entscheidend ist jedoch, dass Hegemonie und Alltagsverstand – die ein hohes Maß an Zustimmung zur Klassenherrschaft ermöglichten – in sozialen und politischen Realitäten verankert waren, die den Menschen eine gewisse Beteiligung am System zu ermöglichen schienen. Darin lag der besondere Vorteil der liberalen parlamentarischen Demokratie – mit ihren Wahlen, nationalen Versammlungen, lokalen Räten, demokratischen Freiheiten usw. – gegenüber der Diktatur. Dieser Vorteil des Systems erlaubte es den Gewerkschaften sich zu organisieren, und gab sozialdemokratischen Parteien die Möglichkeit, aktiv zu werden und Wohlfahrtsreformen zu verabschieden. Der Staat schien die universellen Interessen der gesamten Gesellschaft zu vertreten, seine Führung wurde von den Menschen selbst bestimmt.
Der Neoliberalismus hat diese Vorstellung erschüttert. Die Deregulierung beseitigte die soziale Absicherung. Kürzungen, Auslagerungen und Privatisierungen führten zu einem massiven Abbau öffentlicher Dienste und Sozialleistungen. Gewerkschaftsfeindliche Gesetze und Polizeigewalt gegen Lohnabhängige brachen die Macht der organisierten Arbeiter:innenschaft.
Im globalen Süden haben die vom IWF und der Weltbank auferlegten – und von den lokalen Eliten umgesetzten – “Strukturanpassungsprogramme” die nationalen Entwicklungsprogramme ausgehöhlt, die fragilen Volkswirtschaften dem Wettbewerb mit dem globalen Kapital ausgesetzt und Arbeitslosigkeit und Armut in die Höhe schnellen lassen.
Die Fundamente der Zivilgesellschaft erodierten. Der integrale Staat wurde zum Zwangsstaat. Korruption und Vetternwirtschaft, die die lokalen Eliten mit dem globalen Kapital verbanden, blühten auf.
Auch andere Faktoren zersetzten die Grundlagen von Hegemonie und Alltagsverstand. Die ungezügelte Macht der transnationalen Unternehmen wurde auf die Welt losgelassen, und die Geschwindigkeit, mit der sich das Kapital umdrehte, beschleunigte sich mit den Möglichkeiten digitalisierter Kommunikation, globaler Lieferketten und Geld per Mausklick zu bewegen drastisch. Im Zuge dieser neoliberalen Umwälzungen wurden Hunderte von Millionen Menschen enteignet und vertrieben, wobei alte Formen des sozialen Lebens zerbrachen und überlieferte Strukturen, Routinen und Sitten mit Füßen getreten wurden. Riesige Slum-Megastädte wurden zu Sammelstellen für die neuen Prekären und die neuen Überschüssigen.
Auf der einen Seite schuf der Neoliberalismus eine unverbundenere, instabilere, unbeständigere, unberechenbarere und explosivere soziale Masse. Andererseits zerstörte er einen Großteil der alten Infrastruktur des Widerstands – klassenbasierte Gemeinschaft, verwurzelte Arbeitsorganisation, kollektive Erinnerungen an Kämpfe. Gewerkschaften schrumpften, die betriebliche Organisation verkümmerte, die Streikraten sanken stark. Und noch etwas ging verloren: die Idee der Macht von unten und des Sozialismus selbst.
Mit dem Rückzug des Staates und dem Zusammenbruch des Stalinismus (“real existierender Sozialismus”) im Jahr 1989 verlor ein Großteil der Linken die Orientierung. Sowohl die sozialdemokratisch-reformistische als auch die stalinistische Tradition hatten sich am Staat orientiert. Der Sozialismus war entweder das Geschenk eines liberal-demokratischen Staates, der von sozialistischen Politiker:innen erobert wurde, oder das eines staatskapitalistischen Regimes, angeführt von einer bürokratischen Diktatur. Keine der beiden vorherrschenden linken Traditionen dachte in Begriffen des Sozialismus von unten – der Arbeiter:innenklasse, die für sich selbst handelt, alternative Strukturen aufbaut und für eine neue demokratische Ordnung auf der Grundlage von Volksversammlungen kämpft.
Die Linke begegnete der neoliberalen Ära, insbesondere der Zeit der tiefen Krise seit 2008, schwach und desorientiert. Dies hat es den bürgerlichen/neoliberalen politischen Kräften – sozialdemokratischen, liberalen und sogar konservativen – ermöglicht, die Kontrolle über die durch wiederholte Volksaufstände ausgelösten politischen Prozesse zu behalten.
Insbesondere diese Volksaufstände, auch wenn sie meist von sozialer Not angetrieben werden, bildeten sich üblicherweise um die Frage der Demokratie – der liberalen parlamentarischen Demokratie – heraus, und dies hat es den „recycelten“ Eliten ermöglicht, die Revolten unter Kontrolle zu behalten. Der Übergang zum Zwang, zur Militarisierung des Verhältnisses zwischen Staaten/Eliten und dem einfachen Volk, hatte die ironische Folge, dass politische Revolutionen nicht zu sozialen Revolutionen “heranwuchsen”.
Auf dem Weg zur Doppelmacht?
Die Trennung von Wirtschaft und Politik war schon immer ein zentrales Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft. Die Verschmelzung der beiden hingegen war schon immer von zentraler Bedeutung für eine sozialistische Revolution.
In der bürgerlichen Gesellschaft wird der Bereich des Privateigentums, der Kapitalakkumulation und der gesellschaftlichen Ausbeutungsverhältnisse von dem der Parteien, Wahlen, Parlamente und Regierungen getrennt. Ersteres, die ökonomische Grundlage der Gesellschaftsordnung, ist eine Gegebenheit, etwas Dauerhaftes, Unvermeidliches, das nicht in Frage steht. Letzteres, der politische Überbau, ruht auf diesem Fundament. Die liberale parlamentarische Demokratie ist also in zweierlei Hinsicht begrenzt: Sie ist nicht bloß repräsentativ, sondern wirkt auch nur in einem eng umgrenzten politischen Bereich, nicht in den Betrieben, im Bereich des Eigentums oder lokaler Gemeinschaften.
Erst wenn diese Trennung aufbricht, bewegen wir uns auf eine sozialrevolutionäre Krise zu, das heißt, wenn die Menschen beginnen, sich selbst demokratisch zu organisieren und an der Basis direkt zu handeln. Wenn die Arbeiter:innen die Fabriken, die Bäuerinnen und Bauern das Land und die Gemeinschaften die Verwaltung der Besitztümer, Schulen, Krankenhäuser usw. übernehmen, wird die Existenz des Kapitalismus selbst in Frage gestellt.
Solange das System die Unzufriedenheit des Volkes im Rahmen des bürgerlichen Staates kanalisieren kann – und sie auf eine Frage auszutauschender (recycelter) Eliten reduziert, wird es nicht grundsätzlich herausgefordert. Die Entstehung von Organen direkter Demokratie – die russischen Sowjets von 1917, die italienischen Fabrikräte von 1920, die spanischen Kollektive von 1936, die chilenischen „Cordones“ von 1972, die iranischen „Shuras“ von 1979, die argentinischen „Asambleas Populares“ von 2001 – schafft hingegen eine potenzielle “Doppelmacht”, zwei alternative Staatsformen, die in einem Moment der revolutionären Krise nebeneinander existieren: der alte repressive bürgerliche Apparat auf der einen Seite, der neue Volksstaat, der organisch im Kontext des Massenkampfes von unten entsteht, auf der anderen.
Was hat die Entwicklung von Formen der Doppelmacht in den meisten Revolutionen der neoliberalen Ära verhindert? Was hat dafür gesorgt, dass sie sich auf Massenproteste auf der Straße beschränkten, die entweder unterdrückt (durch Polizeieinsatz) oder eingedämmt (durch demokratische Zugeständnisse) werden konnten?
Betrachten wir für einen Moment eine teilweise Ausnahme. Während der bolivianischen Wasser- und Gaskriege in den frühen 2000er Jahren – eine Welle von Massenkämpfen, die schließlich Evo Morales und die Partei Movimiento al Socialismo (MAS – Bewegung zum Sozialismus) 2006 an die Macht brachte – war das Epizentrum die Slumstadt El Alto. Am Rande einer Hochebene liegend, blickt El Alto auf La Paz, die bolivianische Hauptstadt in der darunterliegenden Tiefebene, hinab. In El Alto lebt eine schnell wachsende proletarische Bevölkerung, von der viele ehemalige Bergarbeiter oder indigene Bauern sind. Anfang der 2000er Jahre waren es etwa 650.000 Menschen, heute sind es rund eine Million.
Sowohl die Bergleute als auch die Bäuerinnen und Bauern brachten eine Kultur des Widerstands nach El Alto. Als der Kampf zunahm, wurde El Alto in ein Netz von Volksversammlungen gegliedert, von denen einige Stadtteile, andere bestimmte Gruppen von Arbeiter:innen, Mieter:innen oder Verbraucher:innen repräsentierten. Auf dem Höhepunkt des Kampfes zogen riesige Kolonnen von Demonstranten von El Alto nach La Paz und belagerten das neoliberale Regime des Präsidenten. Ein anderes Mal wurden unter massivem Polizeiangriff Barrikaden auf den Zufahrtsstraßen errichtet und Zehntausende mobilisiert, um den Slum zu verteidigen.
El Alto bildete – wie Petrograd 1917, Barcelona 1936 oder Budapest 1956 – eine revolutionäre Avantgarde, ein Modell für Organisation und Militanz, das den Widerstand im ganzen Land anspornte. Erschüttert von Streiks, Demonstrationen und Straßenschlachten im Oktober 2003, bei denen 400.000 Menschen die Innenstadt von La Paz füllten, brach das neoliberale Regime zusammen, als der Präsident floh.
Die Volksbewegung hat die Macht nicht übernommen. Ihre Energie wurde von Evo Morales’ MAS gebündelt – und diese linksreformistische Partei der “Marea Rosa”, die 2006 an die Macht kam, passte sich schließlich dem Neoliberalismus an, schloss neue Verträge mit ausländischen Unternehmen ab, baute den Rohstoffsektor der Wirtschaft aus und stellte die lokale Industrie und kleinbäuerliche Landwirtschaft hintan.
Die große revolutionäre Krise Boliviens hätte jedoch eine radikalere Wendung nehmen können, da zwei wesentliche Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution gegeben waren: ein Netzwerk von verwurzelten, stabilen, auf Volksversammlungen und direkter Demokratie basierenden Massenorganisationen und organisierte, große, offen antikapitalistische/revolutionäre politische Strömungen, die in dieses Netzwerk eingebettet sind.
Man könnte noch weitere Beispiele anführen. Die Bewegung von 2001 in Argentinien umfasste Fabrikbesetzungen, Volksversammlungen und eine militante Bewegung der Arbeitslosen. Die Revolution 2019 im Sudan wurde von Netzwerken von lokalen Widerstandskomitees koordiniert.
Aber keiner dieser Bewegungen ist es gelungen, die neoliberale Zwangsjacke zu durchbrechen; keiner ist es gelungen, von Protest und Widerstand zu einer auf direkter Demokratie basierenden Selbstemanzipation überzugehen; keiner ist es gelungen, auf diese Weise die Frage nach der Staatsmacht zu stellen. Bis jetzt.
Von der Hegemonie zum kapitalistischen Realismus
Dieses historische Versagen der radikalen Vorstellungskraft hat sich vor dem Hintergrund eines außergewöhnlichen Zusammenbruchs der Hegemonie ereignet. Meinungsumfragen und Wahlergebnisse zeigen, dass die Unterstützung für Politiker:innen, Richter:innen, Polizei und Medien, aber auch für Unternehmen, Staatsfunktionär:innen und alle Arten von bürokratischer Autorität rapide sinkt.
Der Begriff “Demokratiedefizit” kann das Ausmaß des Zynismus und des Rückzugs nicht erfassen. Die gesamte Gesellschaftsordnung wird als Gaunerei empfunden, die Eliten, die ihr vorstehen, als durchweg korrupt und eigennützig. Der Neoliberalismus steht vor einer potenziell tödlichen “Legitimationskrise”.
Was hat verhindert, dass hieraus eine sozialrevolutionäre Kampfansage entstand? Ich möchte drei Faktoren anführen:
1. Die Vorherrschaft des kapitalistischen Realismus
Ich verwende natürlich den Begriff, der von dem verstorbenen Mark Fisher geprägt wurde. Ich denke, er beschreibt eine grundlegende ideologische Herausforderung, vor der die Linke zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht. Ich möchte diesen Punkt mit einem historischen Vergleich unterstreichen.
Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass es zwischen den 1880er und den 1970er Jahren buchstäblich Dutzende Millionen Menschen gab, die glaubten, dass der Sozialismus eine realisierbare Alternative zum Kapitalismus sei, die in naher Zukunft verwirklicht werden könne.
Dies war nicht nur die Vision einer revolutionären Minderheit. Sie stand auf den Fahnen, war in den Verfassungen verankert und wurde von den Plattformen der gesamten Arbeiter:innen- und sozialdemokratischen Bewegung verkündet. Der Streit zwischen Revolutionär:innen und Reformist:innen drehte sich nicht um das Ziel – den Sozialismus -, sondern nur um die Methode – Aufstand zum Sturz des Staates versus Wahlen, um die Kontrolle über den Staat zu erlangen und die neue Ordnung gesetzlich zu verankern.
Die neoliberale Konterrevolution hat diese sozialistische Vision weitgehend ausgelöscht. Die Zerschlagung der Arbeiter:innenorganisationen, die Degeneration der Sozialdemokratie, der Zusammenbruch des Stalinismus, der Rückzug des Staates, die Aushöhlung der öffentlichen Dienste und der Wohlfahrtsleistungen, der Zerfall stabiler Gemeinschaften der arbeitenden Klasse – diese Entwicklungen haben die Grundlagen der sozialistischen Vision zerstört.
Was bleibt, ist ein weitaus stärker ausgeprägter “Alltagsverstand”, der besagt, dass es wirklich keine Alternative zum Kapitalismus gibt, als Gramsci es sich hätte vorstellen können. Die organisierte Arbeiter:innenklasse der 1930er Jahre war instinktiv sozialistisch. Atomisiert, entfremdet und anomisch findet es die desorganisierte Arbeiter:innenklasse von heute, wie Fredric Jameson es ausdrückte, “einfacher, sich das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen”.
2. Der Aufstieg der autoritären Rechten
Wir haben an anderer Stelle ausführlich über den schleichenden Faschismus geschrieben. Wir haben auch ausdrücklich eine Verbindung zu William I. Robinsons Konzept des globalen Polizeistaats hergestellt. Diese beiden Entwicklungen sind komplementär.
Einerseits hat die Legitimationskrise des Systems vor dem Hintergrund zunehmender sozialer Not und Unzufriedenheit zu einem radikalen ideologischen Wandel geführt, weg von progressivem Universalismus hin zu autoritärem Nationalismus und Rassismus, d. h. von einer Politik, die auf allgemeinem Wohlbefinden basiert, hin zu einer Politik, die auf Sündenbockdenken, Chauvinismus und Hass beruht. Auf der anderen Seite haben wir eine deutliche Verschiebung hin zu einer zwanghaften, repressiven, militarisierten Staatsgewalt erlebt.
Dieser ideologische Wandel entspringt einer Pandemie eines extrem narzisstischen Individualismus, d. h. der Verinnerlichung der vorherrschenden neoliberalen Kultur des Wettbewerbs, des Materialismus und des Egoismus, die mit dem Zerfall der integrativen zivilgesellschaftlichen Institutionen gediehen ist.
Die Gemeinschaften der Arbeiter:innenklasse waren einst durch familiäre, nachbarschaftliche, gewerkschaftliche und parteipolitische Bande sowie durch ein allgemeines Klassenbewusstsein miteinander verbunden. Vieles davon ist verschwunden. Der Einzelne wurde in eine dystopische soziale Welt instrumenteller Wechselbeziehungen, unerbittlicher Bürokratie und existenzieller Einsamkeit geworfen. Dies ist der Nährboden für den neuen Faschismus.
Er unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von jenem der 1930er Jahre. Ein Unterschied, der für die Argumentation hier relevant ist, besteht darin, dass er weitgehend ohne Substanz ist. Während die Faschist:innen der Zwischenkriegszeit Arbeitsplätze und Sicherheit im Rahmen des nationalen Wirtschaftsaufschwung boten, bieten die neuen Faschist:innen im Dienste des transnationalen Kapitals vor allem eine psychologische Entschädigung für den niedrigen Status und die magere Entlohnung.
Der Begriff “Sado-Populismus” wurde verwendet, um dies zu beschreiben. Tief verwurzelte psychische Unsicherheit, Leere und Wut finden ihre Katharsis in der Misshandlung anderer. Es ist der Alptraum, der in Orwells „1984“ beschrieben wird:
„Wenn du eine Vorstellung von der Zukunft haben willst, dann stell dir einen Stiefel vor, der auf ein menschliches Gesicht tritt – unaufhörlich.“
3. Das Fehlen revolutionärer Handlungsfähigkeit
Die Vorherrschaft der Sozialdemokratie und des Stalinismus – beides Varianten des staatsorientierten “Sozialismus von oben” – zwischen den 1920er und 1970er Jahren wirft einen langen Schatten auf unsere Welt. „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden”, schrieb Marx in seiner Analyse des Scheiterns der Revolution von 1848 in Frankreich. So ist es auch bei uns.
Unter einem Berg sozialdemokratischer Vernebelung und stalinistischer Verunglimpfung liegt die revolutionäre Tradition des “Sozialismus von unten”, der Selbstemanzipation der Arbeiter:innenklasse, der Zerschlagung von Kapital und Staat durch eine auf direkter Demokratie und Massenmobilisierung beruhende Volksbewegung begraben.
Es geht hier nicht um eine Alternative zum “Sozialismus von oben”: Es ist die einzige Art von Sozialismus, die es gibt. Die Sozialdemokrat:innen verwalteten eine kapitalistische Wirtschaft und führten nur solche Reformen ein, die mit ihr vereinbar waren. Die Stalinist:innen schufen eine staatskapitalistische Wirtschaft auf der Grundlage von Ausbeutung und Akkumulation, die sich zwar in der Form, nicht aber im Inhalt vom Unternehmenskapitalismus unterscheidet.
Ein nicht geringes Problem, mit dem wir konfrontiert sind, ist das Vermächtnis des theoretischen Durcheinanders, das wir von der Linken des 20. Jahrhunderts geerbt haben. Wir müssen die wirkliche marxistische Tradition wieder ins allgemeine Bewusstsein rücken und eine neue Generation für ihre zentrale Vorstellung von der Macht des Volkes gewinnen, von arbeitenden Menschen, die für sich selbst handeln, um die Welt zu verändern – und nicht aufhören, bis sie den repressiven Staat zerschlagen, die Konzerne übernommen und die Reichen ihres Vermögens enteignet haben.
Die revolutionäre Vorstellungskraft
Einer der Gründe, warum es vielleicht einfacher ist, sich das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen, liegt darin, dass die Welt, wie wir sie kennen, sehr wohl untergehen und der Kapitalismus dennoch überleben könnte. Ist es nicht durchaus möglich, sich eine Form des Kapitalismus inmitten der Trümmer des ökologischen und sozialen Zusammenbruchs vorzustellen? Oder sogar inmitten des radioaktiven Winters nach einem Atomkrieg?
Das Kapital ist die Selbstexpansion des Wertes. Es ist ein ewiger Prozess der Ausbeutung und Akkumulation. Im Laufe der Geschichte hat es immense Erneuerungs- und Durchsetzungskräfte gezeigt.
Moderne gescheiterte Staaten wie Afghanistan, Libyen, Somalia und der Kongo sind deutliche Beispiele dafür. Gesellschaften, die durch Krieg, Vertreibung und Verarmung handlungsunfähig geworden sind und in denen die Menschheit in einen primitiven Überlebenskampf gestürzt wird, haben virulente Formen des Warlord- und Gangsterkapitalismus hervorgebracht.
Auf globaler Ebene können wir uns in einer Zukunft, die von der autoritären Rechten beherrscht wird, Enklaven der Ethno-Barbarei vorstellen, in denen die Zentren der Kapitalakkumulation von einem repressiven Apparat aus militarisierten Grenzen, Konzentrationslagern, staatlicher Überwachung, Massenindoktrination und Polizeigewalt geschützt werden – so ähnlich wie im stalinistischen Russland der 1930er Jahre – oder, was das betrifft, wie in Orwells satirischer Karikatur „Airstrip One“ (Großbritannien) in „1984“.
Diejenigen, die behaupten, dass alle – auch die Reichen – ein Interesse daran haben, eine Katastrophe abzuwenden, sind Narren. Es tut mir leid, so unverblümt zu sein. Aber wir können uns den Luxus der politischen Dummheit nicht leisten.
Die Reichen sind die Verkörperung des Kapitals, des Prozesses der Kapitalakkumulation, seiner Logik und seiner Imperative. Sie sind genuin unfähig, antikapitalistisch zu handeln. Wie jede herrschende Klasse in der Geschichte werden sie ihren Reichtum und ihre Macht schützen, indem sie das System, von dem sie abhängt, mit allen Mitteln verteidigen – mit Krieg, Faschismus, Völkermord, mit allem, was nötig ist.
In dem Film Elysium (2013) leben die Reichen und Mächtigen auf einer luxuriösen künstlichen Welt über der Erde, während die Masse der Menschheit auf dem Planeten darunter in Armut, Krankheit und Elend versinkt. Versionen dieser Dystopie sind bereits in Vorbereitung. Der Markt der Superreichen für Luxusyachten und Privatinseln boomt. Milliardäre sind zu Weltraumtouristen geworden.
Doch viele der Voraussetzungen für eine internationale Revolution der Arbeiter:innenklasse, der Unterdrückten und der Armen sind bereits gegeben.
Die Produktionskapazität der Weltwirtschaft war noch nie so groß wie heute. Sie reicht heute aus, um alle materiellen Grundbedürfnisse der gesamten Menschheit zu befriedigen. Eine sozialistische Wirtschaft, die a) auf Effizienz und Nachhaltigkeit, b) auf die Beseitigung aller Formen von Verschwendung und c) auf die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und nicht auf privaten Profit oder Kriegsführung ausgerichtet ist, könnte die Produktion von gesellschaftlich nützlichen Gütern und Dienstleistungen rasch und massiv steigern.
Die Arbeiter:innenklasse macht heute die große Mehrheit der Weltbevölkerung aus. Sie konzentriert sich in großen Betrieben und Megastädten und ist – wie die revolutionären Versuche der neoliberalen Ära immer wieder gezeigt haben – zu erstaunlichen Leistungen der Organisation, Mobilisierung und des Widerstands fähig. Gelegentlich hat sie auch ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, die soziale Krise auf einen entscheidenden Punkt zu bringen, indem sie einen embryonalen alternativen Staat auf der Grundlage neuer Organe der partizipativen Demokratie schuf.
Hinzu kommen die Tiefe und Ausweglosigkeit der sich beschleunigenden Krise des Systems, einer mehrschichtigen Krise, die heute eine deutliche und gegenwärtige Gefahr für die menschliche Zivilisation darstellt und uns in den kommenden Jahrzehnten mit einem umfassenden ökologischen und sozialen Zusammenbruch bedroht.
Was fehlt, ist ein sozialistisches Bewusstsein – oder was ich hier “revolutionäre Vorstellungskraft” nenne – so wie es Millionen von Menschen im frühen 20. Jahrhundert begeisterte.
Bewusstsein und Vorstellungskraft müssen organisiert werden. Um zu einer politischen Kraft zu werden, müssen sie in Massenorganisationen oder Parteien verankert werden.
Revolutionär:innen können nicht vorhersagen, wann die soziale Unzufriedenheit in einem Massenkampf explodieren wird, geschweige denn, dass sie ihn durch ihr eigenes Handeln auslösen. In Anbetracht der Tiefe der Krise, der Unbeständigkeit der sozialen Masse und der großen Zahl und Bandbreite von Volkseruptionen, die wir in der neoliberalen Ära erlebt haben, können sie jedoch davon ausgehen, dass wir in einem Zeitalter der Revolution leben. Die Frage ist nicht, ob es weitere Explosionen geben wird, sondern wann und wo.
Aber wir können nicht wissen, wann und wo es soweit sein wird. Die gesamte Geschichte revolutionärer Bewegungen ist eine Geschichte plötzlicher, spontaner, unerwarteter Brüche.
Revolutionär:innen, die sagen, dass es im nächsten Jahrzehnt keine Revolution geben wird, sind Mystiker:innen, keine Marxist:innen. Sie geben vor, eine Kristallkugel zu haben, in die Zukunft sehen zu können, zu wissen, was nicht sein kann.
Die Aufgabe der Revolutionär:innen ist es, sich vorzubereiten. Die Aufgabe von Revolutionär:innen ist es, das zu leben, was George Lukacs “die Aktualität der Revolution” nannte. Das bedeutet zu wissen, dass die Revolution ein existenzieller Imperativ ist, dass sich revolutionäre Krisen wiederholen werden, dass solche Krisen Formen der Doppelherrschaft hervorbringen können und dass dann direkte Demokratie und sozialistische Transformation auf der Tagesordnung stehen können.
Vorbereitung bedeutet, sich an jedem unmittelbaren, partiellen, reformistischen Kampf zu beteiligen, aber immer im Rahmen solcher Kämpfe zu versuchen, den Widerstand zu verallgemeinern, zu vertiefen und zu verbreiten, und auch zu versuchen, eine radikale Vision einer massiven, vielschichtigen, aber einheitlichen Explosion zu entwerfen.
Es ist notwendig, revolutionäres Bewusstsein und Vorstellungskraft durch den Aufbau antikapitalistischer Parteien – in welcher Form auch immer – in der Gegenwart zu organisieren. Es stimmt zwar, dass Massenorganisationen aus Massenbewegungen erwachsen, aber es stimmt auch, dass die Organisationen, die heute in der Lage sind am meisten zu wachsen, in der Regel diejenigen sind, die zu gegebener Zeit am schnellsten eine kritische Masse erreichen können.
Eine revolutionäre Krise ist ein Bruch, eine Lücke in der Zeit, ein Moment der größten Chance. Die herrschende Klasse wird diese Lücke so schnell wie möglich schließen, und zwar mit der Mischung aus Zwang und Zugeständnissen, die ihr am geeignetsten erscheint. Revolutionär:innen müssen daran arbeiten, diese Lücke aufzubrechen und die Massen davon zu überzeugen ihren Weg durchzusetzen.
Wie Daniel Bensaïd es ausdrückte:
„Seid bereit! Bereit für das Unwahrscheinliche, für das Unerwartete, für das, was passiert”.
Um bereit zu sein, müssen wir einen organisierten Ausdruck des revolutionären Bewusstseins und der revolutionären Vorstellungskraft aufbauen.
Alle objektiven Bedingungen für eine rot-grüne Revolution sind vorhanden. Was fehlt, ist die subjektive Voraussetzung: ein internationales Netzwerk von sozialistischen Revolutionär:innen, die eine Vision von direkter Demokratie, antikapitalistischer Revolution und einer veränderten Welt verkörpern.