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Wohnungsnot und eskalierende Mietpreise sind kein neues Phänomen. Bereits Friedrich Engels hat in der Veröffentlichung Zur Wohnungsfrage von 1873 auf die skandalöse Wohnsituation der unteren sozialen Klassen in den großen Industriestädten hingewiesen (Engels 1873). Diese Situation kennzeichnet auch viele europäische Großstädte der Gegenwart. Aber nicht nur Phänomene wie hohe Wohnkosten und schlechte Wohnbedingungen sind ein Zeichen der Vergangenheit und der Gegenwart. Auch dominante Lösungsstrategien gleichen sich über die Jahrhunderte. Schon zu Engels Zeiten wurden Arbeiter zur Bildung von Wohneigentum aufgerufen, um die Wohnungsnot zu lindern, die Bewohner sesshaft zu machen und Vermögen aufzubauen. Dies gilt auch für die Gegenwart, in der in vielen europäischen Ländern verstärkt auf Eigentumsbildung als Antwort auf instabile Wohn- und Lebensverhältnisse gesetzt wird. Aber sowohl früher als auch heute gilt, dass Wohneigentum angesichts von Arbeitsmarktunsicherheiten, geringen Einkommen, den Unwägbarkeiten von Finanzmärkten sowie einer notwendigen beruflichen und räumlichen Mobilität keine Lösung der Wohnungsnot für alle darstellen kann.
Im folgenden Artikel soll es vor allem um die Hintergründe der Eigentumsorientierung und den Bedingungen des gegenwärtigen Anstiegs von Wohnkosten in vielen europäischen Städten gehen. Diese liegen nicht alleine in der Zuwanderung bzw. Reurbanisierung (Bundesministerium für Verkehr 2010, Brake/Herfert 2012, kritisch dazu: Füller und Marquardt 2010), sondern in einer Finanzialisierung bzw. Responsibilisierung im Bereich Wohnen. Finanzialisierung und Responsibilisierung verweisen auf einen gemeinsamen Nenner, der in einem Wandel hin zu einem finanzdominierten Akkumulationsregime besteht (Aglietta 2000, Boyer 2000, Chesnais 2004). Dieser Wandel geht mit einer Infragestellung des sozialstaatlichen Kompromisses im Fordismus einher. Statt des Versuchs eines sozialen Ausgleichs und der gesellschaftlichen Umverteilung werden Maßnahmen zur Verbesserung ökonomischer Verwertungsbedingungen ergriffen, die von einer Deregulierung der Arbeit über die Liberalisierung des Finanzsystems bis hin zum Abbau des Sozialstaates reichen. Diese Bedingungen eröffnen zusammen eine neue Perspektive auf Immobilien als Verwertungs- und Anlagegut und erklären damit das starke Interesse von Privatpersonen und institutionellen Investoren an Immobilien (…)