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Nur durch den Aufbau einer öffentlichen Verteidigungsinfrastruktur, die Vergesellschaftung kritischer Infrastrukturen und die Bewirtschaftung der ukrainischen Ressourcen zum Wohle der heutigen und künftigen Generationen können wir hoffen, unsere Freiheit zu schützen. Die Menschen haben einen Anspruch auf Teilhabe an der Zukunft des Landes. Die Achtung der Menschenwürde muss im Mittelpunkt einer Gesellschaft stehen, die von ihren Mitgliedern verlangt, ihr Leben für sie zu riskieren.
Leider ist davon in Selenskyjs „Siegesplan“, der Mitte Oktober endlich der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, nichts zu spüren. Im Gegenteil, der Plan fällt dadurch auf, dass er sich in unverhältnismäßiger Weise auf den Westen stützt. Auf diese Weise vollzieht sich ein bemerkenswerter Wandel von den früheren emotionalen Appellen an die Solidarität hin zum Einwerben von Unterstützung. Dafür wird der Zugang zu unseren natürlichen Ressourcen angeboten und es wird versprochen, unsere Truppen für die Sicherheit der EU außerhalb des Landes einzusetzen. Soweit diese Vision von unseren innigsten Träumen über die Wiederaufnahme in die „europäische Familie“ entfernt ist, so nüchtern mag sie angesichts der allgegenwärtigen Heuchelei in der internationalen Politik sein. Aber noch demütigender ist es, fast sofort abgewiesen zu werden. Während zuvor durch unnachgiebigen Druck – der an Aufdringlichkeit grenzte – das Unvorstellbare erreicht wurde, signalisiert das heutige veränderte politische Umfeld, dass diese Grenzen erreicht sind.
Diese Abhängigkeit von externen Akteuren zur Lösung unserer Probleme ist symptomatisch für den eingeschlagenen politischen Kurs, den unsere eigene Bevölkerung als selbstverständlich hingenommen hat und der zu einer kaum verdeckten inneren Zerbrechlichkeit geführt hat. Die „Soziale Bewegung“ (Sotsialnyi Rukh) verlangt einen aufrichtigen Dialog mit der Gesellschaft darüber, wie wir in diese Situation geraten sind und was realistischerweise erwartet werden kann. Die militante Rhetorik der Regierung weckt Erwartungen, aber das Versäumnis, diese durch die Einigung der gesamten Gesellschaft und die Mobilisierung aller Ressourcen für die Verteidigung in die Tat umzusetzen, vertieft nur das Misstrauen und die Enttäuschung.
970 Kriegstage sind vergangen im Moment ich diesen Artikel schreibe. Nach Zehntausenden von Toten, Hunderttausenden von Verwundeten und Millionen von Vertriebenen ist die Zahl der Opfer immens. Nur wenige Familien bleiben von dieser Verwüstung verschont. Frühere Hoffnungen, die durch eine erfolgreiche Offensive in der russischen Oblast Kursk geweckt wurden, sind mit dem langsamen Rückzug im Osten der Angst und Unsicherheit gewichen. Die russischen Streitkräfte drohen, Pokrowsk einzunehmen, wodurch die Hauptquelle für Kokskohle abgeschnitten und unsere Hüttenindustrie lahmgelegt werden könnte. Erschöpfte Soldat:innen, die oft in unterbesetzten Einheiten ohne angemessene Ruhe- und Erholungszeiten kämpfen, sind empört über die Pläne der Regierung, es zu erlauben, sich zumindest zeitweilig eine Befreiung vom Militärdienst legal erkaufen zu können. Sie fordern klare Dienstzeiten. Einige können es nicht mehr ertragen – Medienberichten zufolge wurden in den ersten sechs Monaten des Jahres 2024 fast 30.000 Fälle von unentschuldigtem Fehlen registriert.
Die Frage bleibt offen: Wer wird an die Stelle der Frontsoldat:innen treten? Die Zivilpersonen sind sich der Bedingungen in der Armee bewusst und stehen nicht mehr an den Einberufungsstellen Schlange, sondern entziehen sich aktiv der Mobilisierung. Die gemeldeten Fälle von Wehrdienstverweigerung haben sich seit 2023 verdreifacht, und Umfragen zeigen immer wieder, dass fast die Hälfte der Befragten dies für vernünftig hält. Appelle an die Bürgerpflicht klingen hohl, wenn der Staat offen erklärt, dass er seinen Bürgern nichts schulde. Die Ministerin für Sozialpolitik Oksana Zholnovich sagte sogar, dass „wir alles, was heute sozial ist, aufbrechen und den neuen Sozialvertrag über die Sozialpolitik in unserem Staat einfach von Grund auf neu formulieren müssen“ und als Chefin der Sozialpolitik erklärte sie: „Wir sind kein Zahlungsministerium, die Ukrainer:innen sollten sich mehr selbst versorgen und sich weniger auf den Staat verlassen“. Die Brutalität und Straflosigkeit von Einberufungsoffizieren, die Männer von der Straße einziehen, verschärfen das Problem noch. Im Jahr 2024 wurden über 1 600 Beschwerden beim Bürgerbeauftragten eingereicht, aber die Ergebnisse stehen noch aus. In der Zwischenzeit zeigen Berichte vom Schlachtfeld, die beschreiben wie unmotivierte, unausgebildete und sogar untaugliche Rekruten die restliche Truppe gefährden, wie problematisch das Ergebnis dieses zunehmenden Zwangs ist.
Das Gesamtbild deutet darauf hin, dass sich die herrschenden Eliten bewusst dafür entschieden haben, die Last der Aggressionsabwehr auf die einfachen Menschen abzuwälzen. Steigende Preise, niedrige Löhne und soziale Sparmaßnahmen gehen Hand in Hand mit eingeschränkten Tarifverhandlungen, höheren Steuern für Bezüger:innen niedriger und mittlerer Einkommen und fortgesetzter Korruption – sogar in Verteidigungsangelegenheiten. Erschwerend kommt hinzu, dass die politische Klasse die Chance auf eine noch nie dagewesene Einigkeit, die wir alle nach Beginn der Invasion erlebt haben, bewusst nicht wahrgenommen hat. Stattdessen hat sie sich dafür entschieden, Spaltungen zu säen, indem sie die Ängste der traumatisierten Gesellschaft ausnutzt und Misstrauen schürt und indem sie ständig neue innere Feinde auswählt: Russischsprachige, „Opfer des kolonialen Denkens“, Anhänger der Moskauer Priester, Kollaborateur:innen, Kreml-Agent:innen und Queers. Die Ukrainer:innen an der Front werden auf die Undankbaren im Hintergrund verwiesen, die wiederum den „Bequemen“ im Ausland die Schuld geben sollen.
Damit sind wir wieder beim „Siegesplan“ des Präsidenten, der, obwohl er die Stärke betont, nur unsere Schwächen aufdeckt. Manche meinen, dies sei Selenskyjs letztes Ultimatum an den Westen, das zur Ablehnung verurteilt sei, bevor es zu einer völligen Umkehr hin zu einem erzwungenen Kompromiss mit dem Feind kommen werde. Das ist nicht unbegründet, denn Umfragen zufolge wäre mehr als die Hälfte der Bevölkerung zu Verhandlungen oder einem Einfrieren des Konflikts bereit, wenn der Westen seine Unterstützung zurückzieht.
Doch wie groß sind die Chancen, dass ein Abkommen mit Russland zu einem dauerhaften, geschweige denn gerechten Frieden führt? Selbst wenn man davon ausgeht, dass Putin bereit wäre, in gutem Glauben zu verhandeln, was nicht gegeben ist, könnten solche Gespräche zum Scheitern verurteilt sein, zu einer Totgeburt führen oder nur eine vorübergehende Pause darstellen, bevor die Kämpfe wieder aufflammen.
Eine Anerkennung der Annexion der besetzten Gebiete kommt natürlich nicht in Frage. Für die Ukrainer:innen bleiben sie besetzt, und es gibt keine Möglichkeit, diese Realität zu beschönigen. Die Ukraine ohne Sicherheitsgarantien zu lassen, zumal Russland weiterhin in seine militärische Stärke investiert, wäre eine offene Einladung für eine erneute Aggression. In der ukrainischen Gesellschaft sehen 45 % einen ungerechten Frieden als Verrat an den gefallenen Landsleuten an, und 49 % würden gegen den Kompromiss auf die Straße gehen. Der einzige Kompromiss, der eine Chance hat, unterstützt zu werden, und zwar nur mit knappem Vorsprung, ist die Räumung der Regionen Saporischschja und Cherson in Verbindung mit der Mitgliedschaft in der NATO und der EU.
Andererseits scheint nichts anderes als die Kapitulation und Unterwerfung die Ziele des Kremls in diesem Angriffskrieg zu erfüllen, was Putin selbst vor dem BRICS-Gipfel in Kasan bekräftigte. Darüber steigert Russland die Militärausgaben in dem kürzlich verabschiedeten Dreijahreshaushaltsplan auf ein Rekordniveau. Daher wäre es ein großer Fehler, diplomatische Bemühungen gegen militärische Unterstützung auszuspielen. Ohne sinnvolle Solidarität werden die Ukraine und ihre Bevölkerung untergehen – wenn nicht jetzt, dann später.
Es gibt zwar keine einfachen oder vorgefertigten Lösungen, aber Ehrlichkeit ist für die Bereitschaft unerlässlich. Sollte es zu einem Waffenstillstand kommen, wird er vielleicht nicht lange dauern, aber jeder Tag muss genutzt werden, um die Widerstandsfähigkeit unserer Gesellschaft zu stärken. Unser Ökosystem, das durch jahrelangen Raubbau und russischen Öko-Terrorismus bereits geschwächt ist, ausländischen Investoren auszuliefern, ist keine Lösung. Ungleichheit, Entfremdung und Entmündigung werden uns nicht zu mehr Widerstandskraft verhelfen. Die unsichtbare Hand des Marktes – die alles kommerzialisiert und von Kurzfristigkeit und Profitgier geplagt wird – wird uns nicht stärker machen.
Die Wurzel unserer Probleme liegt darin, dass die Interessen derjenigen, deren unsichtbare Arbeit das Land am Laufen hält, ignoriert werden. Hoffentlich haben wir dieses Mal unsere Lektion gelernt. Deshalb erklärt „Sotsialnyi Rukh“ öffentlich die Bereitschaft, mit anderen Kräften zusammenzuarbeiten, um eine politische Bewegung aufzubauen, die sicherstellt, dass die Stimme des Volkes in den Korridoren der Macht gehört wird. Wenn die Wahlen abgehalten werden, können sie über unser Schicksal für die nächsten Jahre entscheiden.
23. Oktober 2024
Der Artikel erschien zunächst in der dänischen Zeitschrift Danish Solidaritet und wurde ursprünglich auf Englisch verfasst. Wir haben ihn aus International Viewpoint übernommen. Übersetzung: Christian Zeller