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Die ukrainische ökosozialistische Organisation Sotsialnyi Rukh (Soziale Bewegung) hielt am 5. und 6. Oktober 2024 in Kyjiv ihre Jahreskonferenz ab. In der beschlossenen Resolution „Der Weg zum Sieg und die Aufgaben der ukrainischen Linken“ kritisiert sie die in der Ukraine dominierenden politischen Kräfte und wirft ihnen vor, mit ihrer antisozialen und arbeiter:innenfeindlichen Politik die Verteidigungsbereitschaft der Bevölkerung gegen die russischen Besatzungstruppen zu schwächen. Sotsialnyj Rukh will dazu beitragen, eine Partei aufzubauen, die den Arbeitenden und allen Unterdrückten eine Stimme verleiht und kämpft für eine ökosozialistische Transformation.
Wir veröffentlichen dieses wichtige Dokument, um in den deutschsprachigen Ländern Verständnis für diese Überlegungen unserer Genoss:innen der Ukraine zu wecken, die unter schwierigen Bedingungen sich am Widerstandskrieg gegen die russischen Besatzungstruppen beteiligen und zugleich politischen Widerstand gegen die neoliberale Regierung von Selenskyj leisten (Red.).
1. Eine ehrliche Antwort auf die Herausforderungen des Krieges, keine heuchlerische Politik
Die anhaltende Ungewissheit über den möglichen Sieg der Ukraine hat ihren Grund im krassen Gegensatz zwischen der notwendigen Strategie – der Mobilisierung aller verfügbaren wirtschaftlichen Ressourcen zur Unterstützung der Front und der kritischen Infrastruktur – und den Interessen der Oligarchie. Der vorherrschende Einfluss der Vorstellungen eines freien Marktes hat die ukrainische Kriegswirtschaft zu einer Karikatur verzerrt und den gefährlichen Luxus inmitten der weit verbreiteten Armut noch verschlimmert. Die Unwilligkeit der Regierung, Produktionskapazitäten zu verstaatlichen, große Unternehmen mit hohen Steuern zu belegen und den Haushalt in Richtung Aufrüstung umzuschichten, führt dazu, den Krieg, um den Preis erheblicher menschlicher Verluste und eines ständigen Mobilisierungszustandes, zu verlängern.
Wir sind der Meinung, dass die Regierung einen transparenten Dialog mit der Bevölkerung einleiten sollte, in dem sie die erreichbaren Ziele des Krieges darlegt und vor allem eine Verteidigungswirtschaft einführt oder einräumt, dass sie nicht bereit ist, für den Sieg zu kämpfen. Außerdem plädieren wir dafür, die Ungewissheit über die Dauer des Militärdienstes zu beenden, da dies eine grundlegende Frage der Fairness ist. Der Weg zum Sieg liegt in der technologischen Überlegenheit und in einem schonenden Umgang mit der Bevölkerung.
Sotsialnyj Rukh setzt sich für den Aufbau des öffentlichen Wirtschaftssektors ein, der den Prioritäten Verteidigung und Vollbeschäftigung unterliegt, und verteidigt die Rechte der Wehrpflichtigen und Soldat:innen auf eine würdige Behandlung, Demobilisierung nach einer bestimmten Dienstzeit und Rehabilitation.
2. Internationale Solidarität als Weg zur Überwindung der Krise der Weltordnung
Der anhaltende Krieg in der Ukraine ist eines der Anzeichen für eine Krise innerhalb der neoliberalen Weltordnung. Sie ist gekennzeichnet durch die Ausbeutung der armen durch die reichen Länder, den ungleichen Zugang zu lebenswichtigen Gütern und den Wohlstand der Finanzeliten auf Kosten der verschuldeten Staaten. All diese Merkmale des neoliberalen Systems haben das Vertrauen in das Völkerrecht untergraben und die globale Polarisierung angeheizt.
Um die russische Aggression zu bekämpfen und einen Wiederaufbau nach dem Krieg zu betreiben, der den arbeitenden Menschen zugutekommt, brauchen wir die Unterstützung der Weltgemeinschaft, einschließlich humanitärer und militärischer Hilfe. Die europäische Integration darf nicht als Rechtfertigung für unsoziale Reformen dienen, sondern muss auf einer fairen Grundlage erfolgen und mit der Verbesserung des Wohlergehens des ukrainischen Volkes und der Stärkung der Demokratie einhergehen. Wir sind zuversichtlich, dass unsere Verbindungen zu linken Bewegungen in ganz Europa die Fähigkeit der Ukraine stärken werden, sich besser zu verteidigen. Gleichzeitig sind wir solidarisch mit den fortschrittlichen Bewegungen in Asien, Afrika und Lateinamerika in ihrem Kampf gegen den Imperialismus. Wir verurteilen die Aggressions- und Besatzungspolitik anderer Staaten – sei es die Unterdrückung der Palästinenser:innen durch Israel, der Kurd:innen durch die Türkei oder der Jemenit:innen durch Saudi-Arabien. Wir brauchen eine neue Architektur der internationalen Beziehungen, in der es keine Privilegien für „Großmächte“, G7 oder ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats gibt, sondern die Stimmen der Völker aus der Peripherie gehört werden.
Sotsialnyj Rukh tritt für die atomare Abrüstung ein, arbeitet mit linken Kräften zusammen, die das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung anerkennen, und unterstützt den Befreiungskampf anderer Nationen.
3. Aufbau einer „Ukraine für alle“ als Raum für Solidarität und Sicherheit
Obwohl der Krieg gegen einen äußeren Feind die Menschen in der Ukraine vereinen sollte, werden in Wirklichkeit beschämende Versuche unternommen, die Ukrainer:innen in „Wahre“ und „Falsche“ zu spalten. Anstatt so viele Menschen wie möglich im Sinne von Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität zu vereinen, werden Konflikte innerhalb der Gesellschaft geschürt. Es gibt Anzeichen für sprachlichen Chauvinismus, die Rechtfertigung von Feindseligkeit gegenüber nationalen Minderheiten, der queeren Gemeinschaft und die Förderung ideologischer Gleichförmigkeit. Dies wird nicht nur den weltweiten Kampf gegen den russischen Imperialismus behindern, sondern auch die Wiedereingliederung der besetzten Gebiete erschweren.
Die Herstellung von Gleichheit ist ohne Überwindung der sozialen Schutzlosigkeit unmöglich. Umgekehrt beeinträchtigen die Kürzung der Sozialausgaben durch den Staat und die unverantwortliche Deregulierung bereits die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaft. Es ist an der Zeit, die Politik aufzugeben, die die Ungleichheit verschärft. Forderungen nach Emanzipation der Frauen, integrativen Räumen für Menschen mit Beeinträchtigungen und Unterstützung für die Opfer rechtsextremer Gewalt werden die Fähigkeit der Ukraine stärken, der Tyrannei sowohl nach außen als auch nach innen zu widerstehen. Unsere Menschlichkeit zu beweisen bedeutet, einen Vorteil gegenüber dem Angreifer zu erlangen.
Sotsialnyj Rukh widersetzt sich einer Politik, die die Gesellschaft spaltet, und kämpft für die sozialen Rechte als Voraussetzung, um die Menschenwürde zu wahren und schützen. Wir fordern, dass der Staat das Leben und das Wohlergehen der Arbeiter:innen schützt, die mehr denn je gefährdet sind.
4. Ökosozialistische Transformation – der Schlüssel zum Überleben
Der russische Öko-Terrorismus in Verbindung mit dem jahrelangen Raubbau an den natürlichen Ressourcen durch einheimische Oligarchen und der Vernachlässigung des Umweltschutzes durch die Behörden bedroht die Ökosysteme der Ukraine, einschließlich der biologischen Vielfalt, der sauberen Wasserressourcen, der Bodenfruchtbarkeit sowie der Gesundheit und des Lebens der Bevölkerung. Der Krieg und die umweltfeindliche Politik des Kapitals wirken sich negativ auf verarmte und diskriminierte Gruppen aus und verstärken ihre Verwundbarkeit.
Wir betonen die Notwendigkeit, die gesellschaftliche Produktion und die ökologische Reproduktion auf der Grundlage der Prinzipien des Ökosozialismus in Einklang zu bringen. Die grüne Transformation muss in erster Linie gerecht sein und die Interessen der Arbeitenden berücksichtigen, indem neue Arbeitsplätze geschaffen werden, Arbeiter:innen umgeschult werden und soziale Garantien und Entschädigungen für diejenigen gewährleistet werden, die ihren Arbeitsplatz durch die Schließung von Unternehmen verlieren könnten. Eine effiziente Nutzung der Energieressourcen erfordert eine Verkürzung der Arbeitszeit. Die Verstaatlichung der Energieunternehmen wird ein rationales Kapazitätsmanagement frei von kommerziellen Einflüssen ermöglichen. Wir unterstützen die bäuerlichen Familienbetriebe, um die Ernährungssicherheit und die Ökologisierung der Landwirtschaft zu gewährleisten, sowie die Idee der Entprivatisierung der gemeinsamen Ressourcen und lehnen monopolistische Agrarbetriebe, die das Ökosystem zerstören, entschieden ab.
Sotsialnyj Rukh wird mit Gewerkschaften und anderen fortschrittlichen gesellschaftlichen Organisationen zusammenarbeiten, um ein Transformationsprogramm zu entwickeln, das den langfristigen Interessen von Arbeiter:innen, Landwirt:innen sowie anderen schwachen Bevölkerungsgruppen in der Ukraine in den Bereichen Produktion, Ökologie und Energie gerecht wird.
5. Die Arbeiter:innen trage die Last des Krieges, deshalb verdienten sie eine Stimme
Seit Beginn der groß angelegten Invasion steht die Arbeiter:innenklasse im Zentrum des Widerstands, sowohl an der Front als auch im Hinterland. Leider gibt es unter den Bedingungen, unter denen die Hauptlast des Krieges auf die Arbeiter:innen abgewälzt wurde, keine linke politische Kraft in der Ukraine, die den Problemen der arbeitenden Bevölkerung eine Stimme geben und nach den Grundsätzen einer umfassenden Demokratie handeln würde. Unter den Realitäten des oligarchischen Kapitalismus dienen die Einschränkungen der Freiheiten oft den Interessen der Eliten.
Um eine ökosoziale, unabhängige Ukraine mit gleichen Rechten und Chancen aufzubauen, bedarf es einer politisch demokratischen Plattform, die die Arbeitenden und andere unterdrückte Gruppen vereinigt und ihre Interessen in der Politik vertritt, einschließlich der Teilnahme an Wahlen. Wir sind offen für die Zusammenarbeit mit politischen Parteien, die unsere Visionen teilen. Je früher ein transparenter politischer Prozess hergestellt wird, desto eher wird auch das Vertrauen in den Staat wiederhergestellt. Korruption, Zensur und andere Missbräuche durch Beamte unterminieren die Verteidigungsbemühungen. Das wirksamste Mittel gegen diese Übel ist die demokratische Erneuerung der Macht. Freiheit ist die Grundlage der Sicherheit für alle Bürger:innen.
Sotsialnyj Rukh setzt sich für die Wiederherstellung des Wahlrechts, des Rechts auf friedliche Versammlungen und Streiks der Arbeiter:innen sowie für die Abschaffung aller Einschränkungen der Arbeits- und Sozialrechte ein.