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Jaime Pastor spricht mit Pierre Rousset über die Entwicklung der Weltlage in diesen besonders turbulenten Zeiten, die die antikapitalistische und ökosozialistische Linke vor enorme Herausforderungen stellen.
Jaime Pastor: Es scheint klar zu sein, dass wir uns im Kontext einer multidimensionalen globalen Krise befinden, zu deren Merkmalen ein ziemliches geopolitisches Chaos gehört, in dem wir eine Vervielfachung der Kriege und eine Verschärfung der zwischenimperialistischen Konflikte erleben. Wie würdest du diese Phase definieren?
Pierre Rousset: Du sprichst von einer „multidimensionalen Weltkrise“ (ich würde eher sagen, einer planetarischen Krise). Ich denke, es ist wichtig, innezuhalten und darüber nachzudenken, bevor wir uns mit den geopolitischen Fragen befassen. Diese Krise überdeterminiert alles, und wir können uns nicht mehr damit zufriedengeben, Politik zu machen wie bisher. Wir erreichen den „Kipppunkt“, den wir schon lange befürchtet haben, und zwar viel früher als erwartet.
Jonathan Watts, Redakteur des Guardian für globale Umweltthemen, schlägt mit der Überschrift seines Artikels vom 9. April Alarm: „Zehnter monatlicher Hitzerekord in Folge alarmiert und irritiert Klimaforscher“. In der Tat: „Wenn sich die Anomalie bis August nicht stabilisiert, befindet sich die Welt auf unbekanntem Terrain‘, sagt ein Klimaexperte […]. […]. Das könnte bedeuten, dass die Erwärmung des Planeten bereits die Funktionsweise des Klimasystems grundlegend verändert, und zwar viel früher, als die Wissenschaftler erwartet hatten“.
Der zitierte Experte hält eine Stabilisierung bis August noch für möglich, aber wie dem auch sei, die Klimakrise ist bereits Teil unserer Gegenwart. Wir befinden uns mitten in ihr, und ihre Auswirkungen (Klimachaos) sind bereits dramatisch zu spüren.
Die globale Krise, mit der wir konfrontiert sind, betrifft alle Bereiche der Ökologie (nicht nur das Klima) und ihre Folgen für die Gesundheit (einschließlich Pandemien). Sie betrifft die vorherrschende internationale Ordnung (die unlösbaren Fehlfunktionen der neoliberalen Globalisierung) und die Geopolitik der Großmächte, die Vervielfachung der Konflikte und die Militarisierung der Welt, das innere soziale Gefüge unserer Gesellschaften (geschwächt durch die weit verbreitete Prekarisierung, die durch all das Genannte genährt wird).
Was haben all diese Krisen gemeinsam? Sie sind ganz oder zu einem großen Teil „menschlichen“ Ursprungs. Die Frage des menschlichen Einflusses auf die Natur ist selbstverständlich nicht neu. Der Anstieg der Treibhausgasemissionen geht auf die industrielle Revolution zurück. Diese „allgemeine Krise“ steht jedoch in engem Zusammenhang mit der Entwicklung des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg und dann mit der kapitalistischen Globalisierung. Sie ist gekennzeichnet durch das Zusammenspiel einer Reihe spezifischer Krisen, die uns in eine noch nie dagewesene Situation stürzen, an der Grenze zwischen mehreren „unbekannten Gebieten“ und einem globalen Kipppunkt.
Um es prägnant zu beschreiben, gefällt mir der Begriff „Mehrfachkrise“. Er mag etwas verwirrend und der Alltagssprache fremd sein, aber er unterstreicht die Tatsache, dass wir über EINE vielschichtige Krise sprechen, die aus der Kombination mehrerer spezifischer Krisen resultiert. Wir haben es also nicht mit einer einfachen Addition von Krisen zu tun, sondern mit ihrer Interaktion, die ihre Dynamik vervielfacht und eine Todesspirale für die menschliche Spezies (und für einen großen Teil der lebenden Arten) nährt.
Besonders empörend und, offen gesagt, verblüffend ist, dass die etablierten Mächte die spärlichen Maßnahmen, die ergriffen wurden, um die globale Erwärmung auch nur geringfügig einzudämmen, jetzt wieder rückgängig machen. Dies gilt insbesondere für die französische und die britische Regierung. Das gilt auch für die großen Banken in den Vereinigten Staaten und für die Ölkonzerne. Und das zu einer Zeit, in der es offensichtlich war, dass sie verstärkt werden mussten, und zwar dringend. Die Superreichen diktieren das Gesetz. Es kümmert sie nicht, dass wir alle im selben Boot sitzen. Ganze Regionen des Planeten stehen kurz davor, unbewohnbar zu werden, wo Temperaturanstieg und sehr hohe Luftfeuchtigkeit zusammenkommen. Das ist ihnen egal, sie werden dorthin gehen, wo das Klima noch gut ist.
Wir sind nun in das Zeitalter der Pandemien eingetreten. Die Zerstörung der natürlichen Umwelt hat Bedingungen geschaffen, die die Übertragung von Krankheiten zwischen verschiedenen Spezies begünstigen, für die Covid zum Symbol geworden ist. Das angekündigte Schmelzen des sibirischen Permafrostes könnte uralte Bakterien und Viren freisetzen, gegen die es weder eine Immunisierung noch eine Behandlung gibt. Auch hier besteht die Gefahr, dass wir Neuland betreten: Die Klimakrise schafft eine multidimensionale Gesundheitskrise.
Die Katastrophe war vorhersehbar und wurde vorhergesagt. Wir wissen heute, dass die großen Ölkonzerne bereits Mitte der 1950er Jahre eine Studie in Auftrag gaben, die die kommende globale Erwärmung mit bemerkenswerter Genauigkeit beschrieb (obwohl sie dies jahrzehntelang leugneten).
Wir haben die tausend und eine Facette der „Mehrfachkrise“ noch nicht abschließend erforscht, aber vielleicht ist es an der Zeit, einige erste Schlussfolgerungen zu ziehen.
In der Nähe der Pole sind die geopolitischen Auswirkungen der globalen Erwärmung am spektakulärsten, insbesondere in der Arktis. Im Norden eröffnet sich eine interozeanische Schifffahrtsroute und die Aussicht auf die Ausbeutung der Reichtümer unter dem Meeresboden. Der zwischenimperialistische Wettbewerb in diesem Teil der Welt nimmt eine neue Dimension an. Da China kein Land ist, das an die Antarktis grenzt, ist es auf Russland angewiesen, um dort zu operieren. Es lässt Moskau den Preis für seine Solidarität an der Westfront (Ukraine) zahlen, indem es ihm die freie Nutzung des Hafens von Wladiwostok zusichert.
In Bezug auf die globale Geopolitik möchte ich die Bedeutung von zwei Themen hervorheben, die in den folgenden Fragen nicht erwähnt werden.
Erstens: Zentralasien. Es nimmt eine zentrale Stellung im Herzen des eurasischen Kontinents ein. Für Wladimir Putin ist es Teil der privilegierten Einflusszone Russlands, für Beijing hingegen ist es eine der wichtigsten Passagen auf der Landseite seiner neuen „Seidenstraße“ nach Europa. In diesem Teil der Welt spielt sich derzeit ein komplexes Spiel ab, das in unseren Analysen jedoch kaum berücksichtigt wird.
Die globale Erwärmung erinnert uns auch an die entscheidende Bedeutung der Ozeane, die 70 % der Erdoberfläche bedecken, eine entscheidende Rolle bei der Klimaregulierung spielen und lebenswichtige Ökosysteme beherbergen, die allesamt durch den Anstieg der Meerestemperaturen bedroht sind. Wie wir wissen, ist die Übernutzung der Meeresressourcen ein großes Problem, ebenso wie die Ausdehnung der Seegrenzen, die nicht weniger Probleme aufwerfen als die Landgrenzen. Globale geopolitische Überlegungen dürfen die Ozeane und die Pole nicht außer Acht lassen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der „multidimensionalen Krise“, mit der wir konfrontiert sind, betrifft natürlich die kapitalistische Globalisierung und die Finanzialisierung. Dies hat mehr als je zuvor zur Bildung eines einheitlicheren Weltmarktes geführt, um den freien Verkehr von Waren, Investitionen und spekulativem Kapital (aber nicht von Menschen) zu gewährleisten. Mehrere Faktoren haben diese (für das Großkapital) „glückliche Globalisierung“ gestört: die Stagnation des Handels, der Aufstieg des spekulativen Finanzsektors und der Verschuldung, die Covid-Pandemie, die die Gefahren der internationalen Teilung der Produktionsketten offenbart hat, sowie der Grad der Abhängigkeit des Westens von China, der zum raschen Wandel der Beziehungen zwischen Washington und Beijing beigetragen hat (von der freundschaftlichen Entspannung zur Konfrontation).
Es war das westliche Großkapital, das China in die Werkstatt der Welt verwandeln wollte, um eine kostengünstige Produktion zu gewährleisten und die Arbeiter:innenbewegungen in ihren eigenen Ländern zu zerschlagen. Es war Europa, das sich an vorderster Front für die Verallgemeinerung der Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) einsetzte, der Beijing beigetreten war. Sie alle waren davon überzeugt, dass das ehemalige Reich der Mitte sich ihnen endgültig unterordnen würde, und so hätte es auch kommen können. Wenn dies nicht der Fall war, dann deshalb, weil der herrschende Flügel der chinesischen Bürokratie, nachdem der Widerstand des Volkes blutig gebrochen worden war (1989), seine kapitalistische Mutation erfolgreich durchführte und eine originäre Form des Staatskapitalismus hervorbrachte.
Der Staatskapitalismus hat in Ostasien eine lange Geschichte, sei es unter der Ägide der Kuomintang (Guomindang) in China oder Taiwan, in Südkorea und anderswo. Aufgrund ihrer Geschichte ist die chinesische Gesellschaftsformation selbstverständlich einzigartig, aber sie verbindet auf klassische Weise die Entwicklung des Privatkapitals und die kapitalistische Aneignung der Staatsbetriebe. Es handelt sich nicht um zwei getrennte Wirtschaftssektoren (eine im Grunde duale Wirtschaft); sie sind vielmehr durch vielfältige Verbindungen sowie durch Familienclans, die in allen Sektoren präsent sind, eng miteinander verknüpft.
Zuallererst begann das zum Kapitalismus konvertierte China unter der Ägide von Deng Xiaoping in aller Stille seinen imperialistischen Aufstieg und konnte von der geografischen Entfernung zu den Vereinigten Staaten profitieren, die lange Zeit nicht in der Lage waren, sich wieder auf Asien zu konzentrieren (dies gelang erst Joe Biden nach dem Afghanistan-Debakel).
Zum Abschluss dieses Abschnitts halte ich sechs Sachverhalte fest:
- Die internationale geopolitische Lage wird nach wie vor von der Konfrontation zwischen dem etablierten Imperialismus (USA) und dem aufstrebenden Imperialismus (China) beherrscht. Sie sind nicht die einzigen Akteure in dem großen globalen Spiel zwischen großen und kleinen Mächten, aber keine andere Macht hat so viel Gewicht wie die beiden „Supermächte“.
- Ein besonderes Merkmal dieses Konflikts ist das sehr hohe Maß an objektiver gegenseitiger Abhängigkeit. Die Krise der neoliberalen Globalisierung mag offensichtlich sein, aber ihr Erbe ist immer noch präsent. Eine „glückliche Globalisierung“ gibt es nicht mehr, aber auch keine „glückliche (kapitalistische) De-Globalisierung“. Geopolitische Konflikte sind sowohl ein Symptom dieser Strukturkrise als auch eine Zuspitzung ihrer Widersprüche. In gewisser Weise haben wir auch hier ein „Neuland“ betreten, das es zuvor nie gegeben hat.
- Die Vereinigten Staaten sind zwar immer noch die wichtigste „Supermacht“, aber ihre Hegemonie hat relativ abgenommen. Sie können die Welt nicht mehr ohne die Hilfe verlässlicher und effizienter Verbündeter kontrollieren, von denen es nur wenige gibt. Sie wurden durch die von Donald Trump ausgelöste politische und institutionelle Krise und ihre dauerhaften diplomatischen Folgen (Vertrauensverlust bei den Verbündeten) geschwächt. Man könnte sagen, dass es angesichts des Ausmaßes der Deindustrialisierung des Landes keinen „klassischen“ Imperialismus mehr gibt. Joe Biden mobilisiert jetzt beträchtliche finanzielle und juristische Ressourcen, um zu versuchen, die Dinge in diesem Bereich zu ändern, aber das ist keine leichte Aufgabe. Erinnern wir uns daran, dass ein Land wie Frankreich nicht einmal in einer lebensbedrohlichen Notsituation (Covid) in der Lage war, hydroalkoholisches Gel, chirurgische Masken und N95-Masken, Kittel für das Pflegepersonal, herzustellen. Und dabei handelt es sich nicht um Spitzentechnologie!
- China befand sich in diesem Bereich in einer viel besseren Position. Es hatte aus der maoistischen Ära eine einheimische industrielle Basis, eine Bevölkerung mit einer für die Dritte Welt hohen Alphabetisierungsrate und eine ausgebildete Arbeiter:innenklasse geerbt. Jetzt ist es die Werkstatt der Welt und hat für eine neue Welle der Industrialisierung gesorgt (teilweise abhängig, aber nicht ausschließlich). Es wurden enorme Mittel in die Produktion von Spitzentechnologien investiert. Der Parteistaat war in der Lage, die nationale und internationale Entwicklung des Landes zu organisieren (es gab einen Piloten im Flugzeug). Allerdings ist das chinesische Regime heute undurchschaubarer und verschwiegener denn je. Wir wissen, wie sich die politische und institutionelle Krise auf den US-Imperialismus auswirkt. Es ist sehr schwierig zu wissen, was in China vor sich geht. Allerdings scheint die Hyperzentralisierung der Macht unter Xi Jinping, der Präsident auf Lebenszeit geworden ist, nun ein Faktor der strukturellen Krise zu sein.
- Der relative Niedergang der Vereinigten Staaten und der unvollendete Aufstieg Chinas haben einen Raum geöffnet, in dem sekundäre Mächte eine bedeutende Rolle spielen können, zumindest in ihrer eigenen Region (Russland, Türkei, Brasilien, Saudi-Arabien usw.). Ich glaube, dass Russland nicht aufgehört hat, China an den Ostgrenzen Europas vor eine Reihe von vollendeten Tatsachen zu stellen. Durch ihr gemeinsames Handeln waren Moskau und Beijing weitgehend Herr der Lage auf dem eurasischen Kontinent. Zwischen dem Einmarsch in die Ukraine und einem eventuellen Angriff auf Taiwan besteht jedoch keine Abstimmung.
Können wir in diesem Zusammenhang davon ausgehen, dass die russische Invasion in der Ukraine und die Unterstützung der Westmächte für die Ukraine als Reaktion darauf diesen Krieg zu einem zwischenimperialistischen Krieg machen, der uns dazu veranlasst, als Antwort die Zimmerwald-Politik[1] (Krieg gegen den Krieg) zu erwecken? Oder haben wir es im Gegenteil mit einem nationalen Befreiungskrieg zu tun, der, obwohl von den imperialistischen Mächten unterstützt, die westliche Linke dazu verpflichtet, sich mit dem Widerstand des ukrainischen Volkes gegen die russische Invasion zu solidarisieren?
Zimmerwalds Politik bestand darin, zum Frieden ohne Annexionen aufzurufen. Nun schlagen einige der Leute, die sich als Zimmerwalds Erben präsentieren, vor, dieses oder jenes Stück der Ukraine an Russland abzutreten, dort Referenden zu organisieren, um die Abtrennung von der Ukraine zu bestätigen, usw., aber lassen wir das auf der Seite.
Diese Frage lässt sich am einfachsten beantworten, wenn man sich die Abfolge der Ereignisse vergegenwärtigt. Eine Invasion wird durch die Mobilisierung erheblicher militärischer Ressourcen an den Grenzen vorbereitet, was Zeit braucht und offensichtlich ist. Das ist das, was Putin getan hat. Damals befand sich die NATO nach dem Afghanistan-Abenteuer mitten in einer politischen Krise, und der Großteil ihrer Einsatzkräfte in Europa war noch nicht nach Osten verlegt worden. Bidens Hauptsorge galt China, und er versuchte immer noch, Moskau gegen Bejing auszuspielen. Die US-Geheimdienste waren die ersten, die vor einer möglichen Invasion warnten, aber die Warnung wurde weder von den europäischen Staaten noch von Zelenskyj selbst ernst genommen.
Die meisten von uns Linken in Westeuropa hatten wenig Kontakt zu unseren Genoss:innen in Osteuropa (insbesondere in der Ukraine), und viele von uns analysierten die Ereignisse unter rein geopolitischen Gesichtspunkten (ein Fehler, der niemals begangen werden sollte) und dachten, dass Putin einfach nur dabei war, starken Druck auf die Europäische Union auszuüben, um innerhalb der NATO nach Afghanistan Zwietracht zu säen. Wäre dies der Fall gewesen, hätte die Invasion nicht stattfinden dürfen, denn sie hätte das Gegenteil bewirkt: Sie hätte der NATO eine neue Bedeutung verliehen und es ihr ermöglicht, ihre Reihen zu schließen. Und genau das ist geschehen! Hinzu kommt, dass vor dem russischen Einmarsch die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung in einem bündnisfreien Land leben wollte. Heute sieht nur noch eine sehr kleine Minderheit ihre Sicherheit anders als in einem engen Bündnis mit den NATO-Staaten.
Ich für meinen Teil hatte erst kurz vor der Invasion das Gefühl, dass diese möglich war, und wurde von meinem Freund Adam Novak darauf aufmerksam gemacht.
Heute wissen wir viel mehr: Die Invasion war seit mehreren Jahren vorbereitet worden. Sie war Teil eines großen Plans zur Wiederherstellung des Russischen Reiches innerhalb der Grenzen der stalinistischen UdSSR, mit Katharina II. als Bezugspunkt. Die Existenz der Ukraine sei lediglich eine Anomalie, deren sich Lenin schuldig gemacht habe (in Putins eigenen Worten), und sie müsse wieder in den russischen Schoß eingegliedert werden. Die Ukrainer:innen sprechen von einer umfassenden Invasion und weisen darauf hin, dass die Unterwanderung und militärische Besetzung Donbas-Region, von Luhansk und der Krim im Jahr 2014 eine erste Phase der Invasion war. Die „Sonderoperation “ (das Wort „Krieg“ war bis vor Kurzem verboten und ist es in der Praxis immer noch) sollte sehr schnell ablaufen und bis nach Kiew vorstoßen, wo eine Marionettenregierung eingesetzt werden würde. Die unvorbereitet getroffenen Westmächte würden sich den vollendeten Tatsachen nur beugen können und würden überrumpelt werden. Selbst Washington reagierte politisch nur langsam.
Das Sandkorn, das die Kriegsmaschinerie zum Stillstand brachte, war das Ausmaß des ukrainischen Widerstands, der von Putin, aber auch im Westen nicht vorhergesehen wurde. Wir können wirklich von einem massiven Volkswiderstand sprechen, der im Einklang mit den Streitkräften stand. Es war ein nationaler Widerstand, an dem sich viele russischsprachige Menschen beteiligten (und das gesamte politische Spektrum, mit Ausnahme einiger weniger Moskau-Loyalist:innen). Für diejenigen, die daran zweifelten, gab es keinen klareren Beweis als diesen: Die Ukraine existiert weiterhin. Das ist das zweite von Dir erwähnte Szenario.
Die Zeit kann diese „grundlegende“ Wahrheit und unsere Verpflichtung zur Solidarität nicht auslöschen. Eine doppelte Verpflichtung zur Solidarität, möchte ich hinzufügen. Mit dem nationalen Widerstand des ukrainischen Volkes und mit den Kräften der Linken, die in der Ukraine selbst weiterhin für die Rechte der Arbeiter:innen und Gewerkschaften, für die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, gegen den Autoritarismus des Selenskyj-Regimes und gegen die (von der Europäischen Union befürwortete) neoliberale Politik kämpfen …
Natürlich ist die Ukraine zu einem Brennpunkt im russisch-westlichen Machtkampf geworden. Ohne die Waffenlieferungen vor allem aus den Vereinigten Staaten hätten die Ukrainer:innen keine „Front“ halten können. Die Waffenlieferungen blieben jedoch stets hinter dem zurück, was nötig gewesen wäre, um Moskau entscheidend zu besiegen. Bis heute wurde die Luftherrschaft der russischen Armee nicht bekämpft. Und die NATO-Länder sind einmal mehr gespalten, während das Vorwahlgetöse der Parteien in den Vereinigten Staaten die Abstimmung über die Mittel für die Ukraine blockierte.[2]
Nachdem Moskau die Möglichkeit hatte, die Verteidigungsanlagen in der Tiefe aufzubauen und sich neu zu organisieren, ist es weiterhin die treibende Kraft hinter der militärischen Eskalation in der Ukraine, mit Hilfe nordkoreanischer Granaten und der Finanzierung durch Indien und China (über den Verkauf von Erdölprodukten). Und es treibt die Politik der vollendeten Tatsachen bis hin zur Schande voran: die Deportation ukrainischer Kinder und ihre Adoption in russische Familien.
Wenn dem so ist, wie reagieren wir dann auf diejenigen, die glauben, dass die Unterstützung des Widerstands den Interessen der westlichen Mächte (mit Billigung der Regierung Selenskyj) diene, die den Krieg ungeachtet der (menschlichen und materiellen) Zerstörungen, die er anrichtet, verlängern wollten, und, dass es daher notwendig sei, eine aktive Politik zur Verteidigung eines gerechten Friedens zu fördern?
Ich selbst bin nicht aktiv an der Ukraine-Solidarität beteiligt. Ich verfolge meine Asien-Solidaritätsaktivitäten gegen den Strom der aktuellen Ereignisse. Ich habe mich in die israelisch-palästinensische Frage vertieft (mit der es schwer zu leben ist). Ich werde also zurückhaltend bleiben.
Wir alle sind uns des Ausmaßes der durch diesen Krieg verursachten Verwüstung bewusst, umso mehr, als Putin einen Krieg führt, der sich schamlos gegen die Zivilbevölkerung richtet. Das ist unerträglich.
Aber nicht unsere Unterstützung, sondern Putin verlängert diesen Krieg. Wir dürfen uns nicht aus der Verantwortung stehlen. Wenn wir unter „gerechtem Frieden“ einen unbefristeten Waffenstillstand an der gegenwärtigen Frontlinie verstehen, würde dies fünf Millionen Ukrainer:innen in den besetzten Gebieten dazu verdammen, unter einem Regime der Zwangsassimilation zu leben, wobei mehrere Millionen Menschen in die Russische Föderation selbst deportiert würden.
Ich glaube, dass die Rolle unserer Solidaritätsbewegung vor allem darin besteht, dazu beizutragen, die besten Bedingungen für den Kampf des ukrainischen Volkes und in diesem Rahmen auch für die ukrainische gesellschaftliche und politische Linke zu schaffen. Es ist sicherlich nicht unsere Aufgabe, die Bedingungen für ein Friedensabkommen zu bestimmen. Ich denke, wir müssen auf die Forderungen der ukrainischen Linken, der Frauenbewegung, der Gewerkschaften, der krimtatarischen Bewegung und der Umweltschützer:innen (und anderer) hören und auf ihre Appelle eingehen.
Wir müssen auch auf die Linke und die Antikriegsbewegungen in Russland selbst hören. Die Mehrheit der russischen antikapitalistischen Linken glaubt, dass die Niederlage Russlands in der Ukraine der Anstoß für die Demokratisierung des Landes und das Entstehen verschiedener sozialer Bewegungen sein könnte. Diejenigen in der westlichen Linken, die behaupten, dass die Linke in Osteuropa „kaum existiert“, irren sich.
Zu glauben, dass ein schlechter Kompromiss auf dem Rücken der Unkrainer:innen den Krieg beenden könnte, ist eine Illusion, die mir gefährlich erscheint. Damit vergisst man, warum Putin in den Krieg gezogen ist: um die Ukraine zu liquidieren und die Wiederherstellung des russischen Imperiums fortzusetzen, aber auch, um sich ihres wirtschaftlichen Reichtums (einschließlich ihrer Landwirtschaft) zu bemächtigen und ein Kolonialregime in den besetzten Gebieten zu errichten.
Putins Staatsapparat ist durchsetzt mit Geheimdienstleuten (KGB-FSB). Er hat bereits in seinem gesamten Einflussbereich interveniert, von Tschetschenien bis Zentralasien und Syrien. Er existiert international nur durch seine militärischen Fähigkeiten und seine Verkäufe von Waffen, Erdöl und landwirtschaftlichen Produkten…
Ich habe ein totales Misstrauen gegenüber „unseren“ Imperialismen, deren Machtfülle ich sehr wohl kenne und die ich immer wieder bekämpfe. Ich werde mich niemals auf sie verlassen, um ein Friedensabkommen auszuhandeln oder zu erzwingen. Sehen wir uns nur an, was mit den Osloer Abkommen in Palästina geschehen ist!
Für mich kommt es also nicht in Frage, dass sich Solidaritätsbewegungen „in die Logik der Mächte einordnen“ (welche auch immer das sein mögen). Sie müssen ihre völlige Unabhängigkeit von Staaten und Regierungen (auch von der von Selenskyj) bewahren. Ich wiederhole: Wir hören auf die Kräfte der ukrainischen Linken und der Antikriegslinken in Russland.
Auf der anderen Seite nutzen die USA und die EU den russischen Krieg in der Ukraine und die zunehmenden internationalen Spannungen als Alibi für Aufrüstung und höhere Militärausgaben. Kann man von einem „neuen kalten Krieg“ oder gar von der Gefahr eines Weltkriegs sprechen, bei dem der Einsatz von Atomwaffen nicht ausgeschlossen ist? Welche Position sollte die antikapitalistische Linke angesichts dieser Aufrüstung und dieser Bedrohung einnehmen?
Ich bin gegen die Aufrüstung und die Erhöhung der Militärausgaben durch die Vereinigten Staaten und die Europäische Union.
Ich denke aber, dass wir eine breitere Perspektive einnehmen müssen. Es ist ein neuer Rüstungswettlauf im Gange, bei dem China (und sogar Russland) in mehreren Bereichen die Initiative zu haben scheinen, einschließlich Überschallwaffen, die die bestehenden Raketenabwehrschilde unwirksam machen oder es ermöglichen würden, die Armada eines Flugzeugträgers aus sehr großer Entfernung zu treffen. Meines Wissens ist noch nichts wirklich getestet worden, und ich weiß nicht, was wahr und was Science-Fiction ist, aber andere Genoss:innen kennen sich auf diesem Gebiet sicher besser aus als ich.
Das Wettrüsten selbst ist jedoch ein großes Problem. Aus den üblichen Gründen (Militarisierung der Welt, Inanspruchnahme eines exorbitanten Anteils der öffentlichen Haushalte durch den militärisch-industriellen Komplex usw.), aber auch wegen der Klimakrise, die es noch dringlicher macht, aus dem Zeitalter der permanenten Kriege herauszukommen. Die Ausgaben für Rüstung und deren Einsatz [sowie der Treibstoffverbrauch von Armeen, Anm. Red.] werden in der offiziellen Berechnung der Treibhausgasemissionen nicht oder unvollständig berücksichtigt.[3] Das ist eine schreckliche Verleugnung der Realität.
Putin hat wiederholt mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht, ohne Erfolg (ich verlange nicht, dass er mit seinen Erklärungen konsistent ist). Ich bezweifle, dass die Androhung eines Atomkriegs eine direkte Folge des aktuellen Ukraine-Konflikts ist (ich hoffe, dass ich Recht habe), aber ich denke dennoch, dass dies (leider) ein reales Thema ist. Auch hier werde ich die Perspektive erweitern.
Es gibt bereits vier örtlich begrenzte nukleare „Brennpunkte“. Einer davon befindet sich im Nahen Osten: Israel. Drei befinden sich in Eurasien: Ukraine, Indien-Pakistan und die koreanische Halbinsel. Letztere ist der Einzige, der „aktiv“ ist. Das nordkoreanische Regime führt regelmäßig Tests durch und startet Raketen in einer Region, in der die US-Luftwaffe stationiert ist und in der sich der größte Komplex von US-Stützpunkten im Ausland befindet (in Japan, insbesondere auf der Insel Okinawa). Joe Biden hat bereits alle Hände voll zu tun mit der Ukraine, Palästina und Taiwan und könnte auf eine Verschärfung der Situation in diesem Teil der Welt (und auch in China) durchaus verzichten, eine Situation, für die Trump eine große Verantwortung trägt, aber auch der letzte Spross der nordkoreanischen Erbdynastie.
Ein kleines Problem: Es dauert zwanzig Minuten, bis eine nordkoreanische Atomrakete Seoul, die Hauptstadt Südkoreas, erreicht. Unter diesen Bedingungen wird die Verpflichtung, als erstes keine Atomwaffen einzusetzen, schwer einzuhalten sein.
Frankreich gehört zu den Ländern, die die öffentliche Meinung politisch auf den möglichen Einsatz einer „taktischen“ Atombombe vorbereiten. Wir müssen uns diesem Versuch, Atomwaffen alltäglich zu machen, energisch widersetzen. Leider gibt es eine Art nationalen politischen Konsens, der dazu führt, dass „unser“ Atomwaffenarsenal keine Frage des Prinzips für politische Vereinbarungen ist, auch nicht auf der Linken und selbst dann nicht, wenn man für dessen Abschaffung ist.
Die Frage der Aufrüstung, des neuen Wettrüstens, der Atommacht, muss ein fester Bestandteil der Aktivitäten der Antikriegsbewegungen auf beiden Seiten der Grenze sein. So setzen sich die pakistanische und die indische Linke trotz der schrecklichen interkommunalen Gewalt, die die Teilung Indiens 1947 begleitete, gemeinsam für die Abrüstung ein.
Können wir von einem „neuen Kalten Krieg“ sprechen? Ich fand diese Formulierung immer sehr eurozentrisch. In Asien war der Krieg erbittert (die US-Eskalation in Vietnam). Was bedeutet er heute, wo Russland Krieg führt in der Ukraine? Ich verstehe, dass der Begriff in der Presse und in Debatten verwendet wird, aber ich glaube nicht, dass wir ihn selbst verwenden sollten, und zwar aus zwei Hauptgründen:
- Er reduziert die Analyse auf einen sehr begrenzten geopolitischen Ansatz. Krieg ist nur „kalt“, weil es keine direkte Konfrontation zwischen Großmächten gibt. Diese Formel verhindert zwar nicht eine konkrete Analyse „heißer“ Konflikte, aber sie trägt auch nicht dazu bei.
- Generell bin ich nicht angetan von historischen Analogien: „Sind wir in…“. Wir sind nie „in…“, sondern in der Gegenwart. Ich weiß, dass die Geschichte hilft, die Gegenwart zu erklären, und dass die Gegenwart hilft, die Vergangenheit zu überdenken, aber die Formel „neuer Kalter Krieg“ verdeutlicht meine Zurückhaltung. Im „ersten“ Kalten Krieg standen sich der „Westblock“ und der „Ostblock“ gegenüber. Zu dieser Zeit hatten der Sowjetblock und China nur begrenzte wirtschaftliche Beziehungen zum kapitalistischen Weltmarkt. Die revolutionäre Dynamik schritt voran (Vietnam, etc.).
Heute ist der kapitalistische Weltmarkt universell geworden. Die Globalisierung hat sich durchgesetzt. China ist zu einer ihrer Säulen geworden. Es besteht eine enge wirtschaftliche Verflechtung zwischen China, den Vereinigten Staaten und den Ländern Westeuropas. Es ist unmöglich, die Komplexität des Konflikts zwischen China und den USA zu verstehen, ohne diesen Faktor vollständig zu berücksichtigen. Warum also auf eine alte Formel zurückgreifen und dann hinzufügen: aber jetzt ist natürlich alles anders.
Ich würde sagen, dass das Konzept des neuen Kalten Krieges den Campist:innen [Anhänger:innen eines Denkens in geopolitischen Lagern, Anm. Red.]auf beiden Seiten entgegenkommt. Denjenigen, die ihre Unterstützung für Moskau und für Beijing rechtfertigen wollen. Oder denjenigen, die sich auf die Seite der Demokratie und der westlichen Werte gegen Autokraten stellen wollen.
Ein kleiner Kontrapunkt zum Schluss: Biden ist ein Mann der Vergangenheit. Er hat in mehreren großen Krisen gelernt, mit nuklearen Bedrohungen umzugehen. Diese Erfahrung kann ihm auch heute noch von Nutzen sein.
Was steht bei Israels Vernichtungskrieg in Gaza auf dem Spiel? Warum unterstützen die Vereinigten Staaten Israel weiterhin, obwohl sie sich kürzlich im UN-Sicherheitsrat der Stimme enthalten haben? Welche Rolle sollte unsere internationalistische Solidarität mit dem palästinensischen Volk spielen?
Was steht in diesem Krieg auf dem Spiel? Es geht um das Überleben der Menschen in Gaza. Ein Spezialist für diese Fragen (die Auslöschung von Bevölkerungsgruppen) hat einen Satz gesagt, den ich für sehr treffend halte. Er hatte noch nie eine Situation gesehen, die in ihrer „Intensität“ so ernst war. In anderen Fällen ist eine größere Anzahl von Menschen gestorben, aber Gaza ist ein winziges Gebiet, das einem vielschichtigen Angriff von noch nie dagewesener Intensität ausgesetzt ist. Selbst wenn die Bombardierungen aufhörten und die Hilfsgüter in Massen einträfen, würde die Zahl der Toten mit der Zeit weiter steigen.
Die gesamte Bevölkerung wird mit wiederholtem posttraumatischem Stress leben müssen, angefangen bei den Kindern, deren Sterblichkeitsrate erschreckend hoch ist. Die kleinsten Kinder, die Opfer von Unterernährung sind, werden nie das Recht auf ein „normales“ Leben haben.
Außerdem geht es um die Existenz des Westjordanlands, wo die Palästinenser:innen täglich der Gewalt jüdischer Siedler:innen ausgesetzt sind, die von der Armee und paramilitärischen Einheiten unterstützt werden. Werden die überlebenden Bewohner:innen des Gazastreifens über Ägypten oder das Meer ins Exil gezwungen werden? Werden die überlebenden Palästinenser:innen aus dem Westjordanland nach Jordanien vertrieben werden? Wird sich das Projekt Groß-Israel durchsetzen?
Die Kolonisierung Palästinas kann als ein langfristiger Prozess betrachtet werden, aber dies ist ein schrecklicher Wendepunkt. Netanjahu hat seine Kriegsziele nie definiert (abgesehen von der totalen Zerstörung der Hamas, ein Unterfangen, das kein Ende hat). Ich werde nicht versuchen, sie für ihn zu definieren, zumal die Situation unberechenbar ist.
Der Bombenangriff auf das iranische Konsulat in Damaskus am 1. April ist ein Beispiel für Netanjahus überstürzte Flucht über die Grenzen Palästinas hinaus. Dies ist ein eklatanter Verstoß gegen das Wiener Übereinkommen zum Schutz diplomatischer Vertretungen. Das Ziel des Angriffs waren hochrangige Hisbollah-Führungspersonen, die sich dort aufhielten, aber das „rechtfertigt“ nichts. In diplomatischen Vertretungen gibt es immer „Feinde“, die man sich aussuchen kann, auch hochrangige Militärs. Die Israelis wissen das sehr gut, denn als Diplomat:innen getarnte Mossad-Agent:innen haben schon mehr als eine Person im Ausland ermordet oder entführt. Es ist merkwürdig und besorgniserregend, dass dieser Bombenangriff keine größeren Proteste ausgelöst hat.
Teheran will keinen Krieg, aber es muss reagieren. Wir befinden uns auf Messers Schneide. [Das Interview wurde vor dem jüngsten Angriff des iranischen Regimes auf Israel geführt].
Joe Biden hat sich selbst eine Falle gestellt, indem er aus seinem eigenen Zionismus heraus und ohne Rücksprache mit den Expert:innen in seiner eigenen Administration von Anfang an seine bedingungslose Unterstützung für die israelische Regierung erklärt hat. Da hat zu einer Reihe von schockartigen Rücktritten geführt. Er kann das Unerträgliche nicht mehr unterstützen, aber er hat die Lieferung von Waffen und Munition an Israel nicht eingestellt. Ich mag mich irren, aber ich habe den Eindruck, dass er in der arabischen Welt einfach kein diplomatisches Geschick mehr hat und derzeit damit beschäftigt ist, Verteidigungsabkommen mit Japan und den Philippinen auszuhandeln, für den Fall, dass Trump die nächsten Präsidentschaftswahlen gewinnt.
[Eine Aktualisierung: Der Iran hat in der Nacht vom 13. auf den 14. April einen Luftangriff auf Israel durchgeführt. Nach einer israelischen Zählung wurden mehr als 300 Flugkörper abgefeuert: 170 Drohnen, 30 Marschflugkörper und 110 ballistische Raketen. Teheran hatte die Operation angekündigt, was von den Vereinigten Staaten bestätigt wurde. Die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich und Jordanien beteiligten sich an der Abwehroperation. Ein israelischer Militärstützpunkt wurde dennoch getroffen. Das Ziel dieser Operation war eindeutig politisch, eine Warnung als Reaktion auf den Anschlag in Damaskus. Es war das erste Mal, dass das iranische Regime Israel auf diese Weise direkt angegriffen hat. Teheran kündigte an, dass es seine Operation nicht weiterverfolgt werde, zumindest nicht, wenn die Israelis es dabei beließen. Gegenüber dem Iran ist Joe Biden immer noch in der Lage, eine Front aus westlichen und arabischen Ländern zu aktivieren. Das bestätigt die Abhängigkeit Israels von seinen Beschützermächten].
Lass uns zur letzten Frage kommen. Was sind meiner Meinung nach die Aufgaben der internationalistischen Solidarität mit dem palästinensischen Volk?
Zunächst einmal die absolute Dringlichkeit, über die ein sehr breiter Konsens erzielt werden kann: ein sofortiger Waffenstillstand, der Zugang zu massiven Hilfslieferungen über alle Zugangswege zum Gazastreifen, der Schutz der Konvois und der humanitären Helfer:innen (von denen viele getötet wurden), die Wiederaufnahme der Mission des UNRWA, dessen Rolle unersetzlich ist, ein Siedlungsstopp im Westjordanland und die Wiederherstellung der Rechte der enteigneten Palästinenser:innen, die Freilassung der israelischen Geiseln und der palästinensischen politischen Gefangenen usw.
Wir verteidigen das Recht der Palästinenser:innen auf Widerstand, einschließlich des bewaffneten Widerstands, ohne Wenn und Aber. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir die Hamas politisch unterstützen oder leugnen, dass am 7. Oktober Kriegsverbrechen begangen wurden, wie zahlreiche unabhängige Quellen bestätigen. Zu diesen Quellen gehören Physicians for Human Rights-Israel (PHRI); beduinische Dorfbewohner:innen im Negev, denen Israel den Schutz verweigert, die aber wiederholt von der Hamas angegriffen wurden; israelische Aktivist:innen, die ihr Leben der Verteidigung der Rechte der Palästinenser gewidmet haben…
Die Hamas ist heute die wichtigste militärische Komponente des palästinensischen Widerstands, aber hat sie auch ein emanzipatorisches Projekt? Wir haben immer die Bewegungen analysiert, die an den von uns unterstützten Befreiungskämpfen beteiligt waren. Warum sollte das heute anders sein?
Unsere Rolle als Internationalist:innen besteht auch darin, eine – wenn auch dünne – Linie zwischen den gegenwärtigen Aufgaben und einer emanzipatorischen Zukunft zu ziehen. Wir verteidigen das Prinzip eines Palästina, in dem die Bewohner:innen dieses historischen Landes „zwischen Meer und Fluss“ zusammenleben können (einschließlich der Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge). Dies wird nicht ohne tiefgreifende soziale Umwälzungen in der Region geschehen, aber wir können dieser Perspektive Substanz verleihen, indem wir die Organisationen unterstützen, die heute gemeinsam handeln, Juden/Jüdinnen und Araber:innen/Palästinenser:innen, trotz aller Widrigkeiten. Sie alle gehen große Risiken ein, um diese jüdisch-arabische Solidarität auch unter den gegenwärtigen Bedingungen zu zeigen. Wir sind ihnen unsere Solidarität schuldig.
Die jüdisch-arabische Solidarität ist auch einer der Schlüssel für die Entwicklung internationaler Mobilisierungen, insbesondere in den Vereinigten Staaten, wo die Bewegung Jüdische Stimme für den Frieden eine sehr wichtige Rolle dabei gespielt hat, der Propaganda der pro-israelischen Lobbys entgegenzuwirken und den Raum für Protest zu öffnen.
Wie analysierst du die außenpolitische Strategie Chinas und den Konflikt mit Taiwan?
Ich denke, dass Xi Jinpings Prioritäten darin bestehen, Chinas globale Expansion und Konsolidierung fortzusetzen, mit den Vereinigten Staaten im Bereich der Hochtechnologie mit ziviler und militärischer Nutzung zu konkurrieren, bedeutende diplomatische Bündnisse anzustreben (eine Achillesferse gegenüber den Vereinigten Staaten), eigene Einflusszonen in Regionen zu entwickeln, die in dieser Phase als strategisch angesehen werden (wie der Südpazifik), und seine militärischen Luft- und Raumfahrtfähigkeiten sowie seine Überwachungs- und Desinformationsfähigkeiten zu stärken. Die Invasion Taiwans stünde nicht auf der Tagesordnung.
Chinas Expansionskurs unterscheidet sich von dem seiner Vorläufer. Die Zeiten haben sich geändert. Beijing verfügt nur über einen einzigen großen konventionellen Militärstützpunkt, nämlich in Dschibuti. Allerdings schließt es mit einer wachsenden Zahl von Ländern Abkommen, um Zugang zu deren Häfen zu erhalten. Noch besser ist es, wenn es diese Häfen ganz oder teilweise in Besitz nimmt, wodurch es über ein umfangreiches maritimes Netz von Anknüpfungspunkten für zivile und militärische Zwecke verfügt. Die Sicherheitsdienste in den chinesischen Unternehmen im Ausland werden von Militärangehörigen gestellt, die es der Armee ermöglichen, Informationen zu erhalten und Kontakte zu knüpfen.
Die chinesische Politik ist imperialistischer Natur und es ist schwer zu erkennen, wie sie anders sein könnte. Jede große kapitalistische Macht muss die Sicherheit ihrer Investitionen und ihrer Kommunikation sowie die politische und finanzielle Rentabilität ihrer Verpflichtungen gewährleisten.
Beijing hat seine Souveränität über das gesamte Südchinesische Meer, eine wichtige internationale Transitzone, proklamiert, die es ohne Rücksicht auf die Seerechte der Nachbarländer militarisiert hat. Es bemächtigt sich der Fischbestände und schürft auf dem Meeresboden. Ein autoritäres Regime wendet autoritäre Methoden an, wo immer es dies zu können glaubt. Natürlich kann ein so genanntes demokratisches imperialistisches Regime dasselbe tun…
Neben den langwierigen Kriegen in Syrien, Jemen, Sudan und der Demokratischen Republik Kongo gibt es auch einen Krieg in Birma, über den im Westen wenig gesprochen wird. Kannst Du etwas zur aktuellen Lage in diesem Konflikt sagen?
Vorher noch einige Worte zum Sudan. In diesem Land gibt es eine Fülle von Erfahrungen mit dem Basiswiderstand unter extrem schwierigen Bedingungen, die es verdienen, besser bekannt gemacht (und unterstützt) zu werden.
Birma war ein Lehrbuchfall. Am 1. Februar 2021 ergriff das Militär in einem Putsch die Macht. Am nächsten Tag kam es im ganzen Land zu Unruhen in Form einer weit verbreiteten Arbeitsniederlegung und einer großen Bewegung des zivilen Ungehorsams. Der Putsch wurde abgebrochen, aber die Armee konnte mangels sofortiger internationaler Unterstützung nicht ausgeschaltet werden. Die Militärs erlangten durch ein gnadenloses Vorgehen schrittweise die Initiative zurück. In der Zentralregion, die zunächst friedlich war, musste der Volkswiderstand in den Untergrund gehen und dann bewaffneten Widerstand leisten. Er suchte die Unterstützung bewaffneter ethnischer Bewegungen, die in den Gliedstaaten der gebirgigen Peripherie des Landes operierten.
Man kann sich kaum eine breitere zivile Widerstandsbewegung als die in Birma vorstellen – aber der bewaffnete Kampf wurde zu einer lebenswichtigen Notwendigkeit, die ihre Legitimität auf den Tatbeweis der Selbstverteidigung gründete. Auf diese Weise konnte er der Feuerprobe standhalten und sich nach und nach als unabhängige Guerilla oder verbunden mit der Regierung der Nationalen Einheit organisieren, die Ausdruck des vom Militär aufgelösten Parlaments ist und (endlich) den ethnischen Minderheiten offensteht.
Der Konflikt nahm erschreckend harte Formen an, besonders durch das Monopol der Armee über eine Luftwaffe. Er war auch komplex, da jeder ethnische Staat über eigene Merkmale und Optionen verfügte. Nach und nach verlor die Junta jedoch die Oberhand. Sie wurde von China (einem Nachbarland) und Russland unterstützt, erwies sich jedoch als unfähig, Beijing die Sicherheit seiner Investitionen und den Bau eines Hafens mit Zugang zum Indischen Ozean zu garantieren. Die internationale Isolation des Landes hat sich vertieft, und seine ASEAN-Verbündeten sind sich uneins geworden.
Heute verliert die Armee in vielen Regionen an Boden und die Oppositionsfront gegen die Junta hat sich verbreitert. Birma hat eine sehr reiche Geschichte, die im Westen leider nur wenig bekannt ist.
Schließlich scheinen die Verschärfung der Wirtschaftskrise und die Zunahme von Konflikten sowohl auf internationaler als auch auf regionaler Ebene auf einen Wendepunkt im internationalen Kontext hinzudeuten, der uns zwingt, die Politik der internationalistischen Solidarität neu zu überdenken. Welche Möglichkeiten gibt es, einen Internationalismus aufzubauen, der dem sich verändernden Charakter der internationalen Konflikte im 21. Jahrhundert entspricht?
Es findet eine tiefgreifende Neuzusammensetzung statt, bei der der Gegensatz zwischen „Campismus“ und Internationalismus die wichtigste Hauptunterscheidungslinie darstellt. Wir können viele Unterschiede in der Analyse haben, aber die Frage ist, ob wir alle Opferbevölkerungen verteidigen.
Jede Macht wählt jene Opfer aus, die ihr passen, und lässt die anderen im Stich. Wir weigern uns, uns auf diese Art von Logik einzulassen. Wir verteidigen die Rechte der kanakischen Bevölkerung in Kanaky, unabhängig davon, was Paris denkt, die Syrer:innen und die Völker Syriens gegen die unerbittliche Diktatur des Assad-Clans, die ukrainische Bevölkerung unter der russischen Feuerwalze, die Puertoricaner:innen unter der US-Kolonialherrschaft, die Haitianer:innen, denen die so genannte „internationale Gemeinschaft“ Schutz und Asyl verweigert, die Palästinenser:innen unter der Flut von US-Bomben, die Völker Birmas, selbst wenn die Junta von China unterstützt wird.
Wir lassen die Opfer nicht im Namen geopolitischer Erwägungen im Stich. Wir unterstützen ihr Recht, frei über ihre Zukunft zu entscheiden und, und, wenn die Situation es erfordert, ihr Recht auf Selbstbestimmung. Wir stehen an der Seite fortschrittlicher Bewegungen auf der ganzen Welt, die die Logik des „Hauptfeindes“ ablehnen. Wir stehen nicht auf der Seite irgendeiner Großmacht, sei sie japanisch-westlich, russisch oder chinesisch. Die Besatzung ist in der Ukraine ebenso ein Verbrechen wie in Palästina.
Angesichts der Militarisierung der Welt brauchen wir eine globale Antikriegsbewegung. Das ist einfach gesagt, aber schwer umzusetzen: Können wir uns auf lokale grenzüberschreitende Solidarität (Ukraine-Russland, Indien-Pakistan) verlassen, um dies zu erreichen? Oder auf die große Solidaritätsbewegung mit Palästina? Oder auf Sozialforen wie dasjenige, das gerade in Nepal stattgefunden hat?
Wir müssen auch die Klimafrage in die Themen der Anti-Kriegs-Bewegungen einbeziehen, und umgekehrt würden militante Umweltbewegungen davon profitieren, wenn sie die Anti-Kriegs-Dimension in ihren Kampf einbeziehen würden, sofern sie dies nicht bereits getan haben. Das Gleiche gilt für die Atomwaffen.
Die Persönlichkeit von Greta Thunberg scheint mir das Potenzial der jungen Generation zu verkörpern, die mit der Gewalt der Mehrfachkrise konfrontiert ist. Aber ihr Engagement erfordert Hartnäckigkeit, an der es ihr sicherlich nicht mangelt, und die Fähigkeit, langfristig zu handeln, was keineswegs einfach ist. Meine Generation von Aktivist:innen wurde durch den Radikalismus der 1960er Jahre und, für uns in Frankreich, durch die wegweisende Erfahrung des Mai ’68 in die Umlaufbahn geworfen. Wie stehen wir heute da?
Referenzen
Das Interview erschien ursprünglich am 16. April 2024 in der spanischsprachigen Zeitschrift VientoSur und am 14. April auf Englisch auf Europe Solidaire sans Frontières . Christian Zeller übersetzte das Interview aus dem Spanischen und Englischen ins Deutsche.
Bildquelle: Foto von Alina Grubnyak auf Unsplash
[1] An der Konferenz von Zimmerwald bei Bern trafen sich während des Ersten Weltkriegs vom 5. bis 8. September 1915 37 Teilnehmer:innen aus sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien aus zwölf Ländern. Die Konferenz unterstützte eine gemeinsame Deklaration der deutschen und französischen Delegierten, die einen Frieden ohne Annexion forderte. Sie verpflichteten sich, die Burgfriedenspolitik in den jeweiligen Ländern zu bekämpfen und den Klassenkampf anzufachen, um ihre Regierungen zu zwingen, den Krieg zu beenden. Das Zimmerwald Manifest, dem alle drei anwesenden Strömungen zustimmten, beklagte den Verrat der sozialdemokratischen Parteien, die dem Krieg ihrer Regierungen zustimmten und den Klassenkampf einstellten. Die Unterzeichner:innen forderten den sofortigen Stopp des Krieges. „Dieser Kampf ist der Kampf für die Freiheit, für die Völkerverbrüderung, für den Sozialismus. Es gilt, dieses Ringen um den Frieden aufzunehmen, für einen Frieden ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen. Ein solcher Friede aber ist nur möglich unter Verurteilung jedes Gedankens an eine Vergewaltigung der Rechte und Freiheiten der Völker. Weder die Besetzung von ganzen Ländern noch von einzelnen Landesteilen darf zu ihrer gewaltsamen Einverleibung führen. Keine Annexion, weder eine offene, noch eine maskierte, auch keine zwangsweise wirtschaftliche Angliederung, die durch politische Entrechtung nur noch unerträglicher gemacht wird. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker muss unerschütterlicher Grundsatz in der Ordnung der nationalen Verhältnisse sein.“
Leo Trotzki: Das Zimmerwalder Manifest. 15. September 1915 (https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1915/09/zimmerwald.htm).
Bemerkenswert ist, dass jene linken Strömungen, die sich der Unterstützung des ukrainischen Widerstandes verweigern und die Ukraine und Russland gleichsetzen, und zwar mit dem Verweis auf die Zimmerwald-Konferenz, willentlich verschweigen, dass die Delegierten damals Frieden ohne Annexionen forderten und sich explizit auf des Selbstbestimmungsrecht der Völker beriefen [Anm. Red.].
[2] Das Repräsentantenhaus billigte das entsprechende Gesetz am 20. April 2024 nach einer neunmonatigen Blockade durch die republikanische Partei. Von den 60,84 Mrd. USD sind allerdings nur 23 Mrd. für Waffenhilfe vorgehen. Der größte Teil der Ausgaben des Pakets verbleibt in den USA. 10 Mrd. Wirtschaftshilfe werden als Darlehen gegeben und erhöhen damit Verschuldung der Ukraine. Tatsächlich lieferten die USA bereits ab August 2023 nur noch wenig Militärhilfe an die Ukraine (Franz, C.G.:Kharitonov, I.; Kumar, B.; Rebinskaya, E.; Schade, C.; Schramm, S.; & Weiser, L. (2024). “The Ukraine Support Tracker: Which countries help Ukraine and how?” Kiel Working Paper, No. 2218, 1-75. [Anm. Red.]
[3] Stuart Parkinson and Linsey Cottrell: (2022) Estimating the Military’s Global Greenhouse Gas Emissions. Scientists for Global Resonsibility and Conflict and Environment Observatory. Lancaster and Mytholmroyd, UK https://ceobs.org/wp-content/uploads/2022/11/SGRCEOBS-Estimating_Global_MIlitary_GHG_Emissions_Nov22_rev.pdf [Anm. Red]