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Wenn wir uns nicht den bewaffneten Kräften angeschlossen hätten, gäbe es in der Ukraine keine Linke mehr, sagt Taras Bilous
Taras Bilous ist ein ukrainischer Historiker und Essayist, der seit Beginn der russischen Aggression in der ukrainischen Armee kämpft. Derzeit dient er einige Dutzend Kilometer von der Frontlinie entfernt. Bilous ist einer der sichtbarsten Vertreter der ukrainischen Linken, Mitglied der Gruppe Soziale Bewegung (Sozialnyi Ruch) und Redakteur der Online-Zeitschrift Commons (Спільне). Im Ausland ist er vor allem durch seine Essays “Ein Brief an die westliche Linke aus Kiew” und “Ich bin ein ukrainischer Sozialist. Warum ich mich gegen die russische Invasion wehre” bekannt geworden.
Das Interview wurde Anfang Februar in der Ostukraine für die tschechische Zeitschrift A2larm.cz geführt. Es ist Teil einer in Kürze erscheinenden Publikation über die ukrainische antiautoritäre Szene (Red.).
Wir treffen uns außerhalb des Armeestützpunktes. Sind politische Diskussionen zwischen Soldat:innen problematisch?
Taras Bilous: Die militärische Führung zensiert die Meinungen der einfachen Soldat:innen nicht. Ich weiß jedoch aus eigener Erfahrung, dass es jüngere Offiziere nervös machen kann, wenn Untergebene mit den Medien sprechen, insbesondere über politische Themen. Mir ist es schon passiert, dass ein Kommandeur befürchtete, für mein Interview eine Verwarnung zu bekommen, obwohl realistischerweise keine solche Gefahr bestand.
Auf jeden Fall versuche ich, unnötige Diskussionen zu vermeiden. Ich verkünde nicht lautstark meine politischen Ansichten oder die Tatsache, dass ich Historiker bin, um meine Energie zu sparen. Sonst will sofort jemand, dass ich über die Kiewer Rus’ spreche, oder es kommen provokante Fragen auf. Wenn ich sehe, dass es in Zukunft eine mögliche Zusammenarbeit im Bereich des Aktivismus mit einer Person geben könnte, dann fange ich an, offener mit ihr zu reden.
Wie schwierig ist es, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die andere Ansichten haben?
Meinungen stören mich in diesem Zusammenhang nicht. Es gibt hier alle möglichen Leute, aber man kommt nur selten dazu, allgemeinere politische Themen zu diskutieren. Aber bei Themen, die unser Leben und unseren Militärdienst direkt betreffen, wie beispielsweise die Führungsebene, finden wir recht leicht eine gemeinsame Basis.
Ein viel größeres Problem beim Militär ist der menschliche Faktor. Manche Offiziere erteilen dumme Befehle, durch die unnötigerweise Menschen getötet werden. Jede:r Soldat:in, die:der mindestens sechs Monate gedient hat, kann Dir mehr als eine solche Geschichte erzählen.
Was die Masse der Soldat:innen betrifft, so haben sie sich in den ersten Monaten der Invasion zusammengerauft, aber jetzt, nach zwei Jahren, hat sich eine gewisse Müdigkeit eingestellt. Im Westen gehen viele davon aus, dass mit der Müdigkeit auch unser Kampfeswille allmählich nachlässt. Aber nur weil wir müde sind, heißt das nicht, dass es nicht wichtig ist, dass wir weiter Widerstand leisten.
Aber wie ich schon sagte, gibt es hier alle Arten von Menschen. Einige verstehen trotz der Maßnahmen der Offiziere, dass wir weiterarbeiten und weiter Druck ausüben müssen. Und andere… Ich habe einmal mit einem Soldaten aus einer anderen Kompanie gedient, und wir haben vier Tage in einem einstürzenden Graben verbracht. Ich fing an, ihn zu reparieren, und der Soldat sagte: „Hör auf mit dem Scheiß. Lass den Kommandeur kommen und den Graben selbst reparieren.“
Trotz der gemeinsamen Entschlossenheit, der russischen Aggression weiterhin Widerstand zu leisten, fragen sich alle: „Warum soll ich das Opfer bringen?“ Wenn die Führung sich in einer Sache verkalkuliert hat, warum sollten die einfachen Soldat:innen dafür mit ihrem Leben bezahlen? Und das gilt auch für Zivilpersonen, deren Bereitschaft, sich zu verpflichten, abnimmt. Sogar einige meiner Freunde, die 2022 versucht haben, sich zu melden und nicht eingezogen wurden, versuchen jetzt, sich der Mobilisierung zu entziehen. Es geht nicht so sehr um Angst, sondern um bestimmte unsinnige Praktiken, die beim Militär üblich sind: Jeder kennt sie. Sie hätten sie schon vor langer Zeit ändern können, aber bis auf wenige Ausnahmen in einzelnen Einheiten haben sie es nicht getan.
Im Jahr 2022 hast du dich entschieden, der Armee beizutreten, obwohl du nach 2014 keine Kampferfahrung mehr hattest. Unterscheiden sich diese beiden Phasen des Krieges für dich?
2014 war es ein Krieg um ein Territorium. Einige Leute wollten sich wirklich Russland anschließen, auch wenn sie eine Minderheit waren. Eine beträchtliche Anzahl von Menschen mit pro-russischen Ansichten wollte in der Ukraine bleiben, aber sie wollten eine Föderalisierung [Anm.: mehr Autonomie für Donezk und Luhansk]. Natürlich könnte man lange darüber diskutieren, welcher Prozentsatz der Bevölkerung im Donbas welche Ansicht vertritt, und natürlich haben sich die Ansichten der dort lebenden Menschen im Laufe der Zeit geändert.
Am Vorabend der russischen Großinvasion im Jahr 2022 ergab eine Umfrage im Donbas, dass den meisten Menschen das Wohlergehen wichtiger war als die Frage, in welchem Staat sie leben würden – in der Ukraine oder in Russland. Dies gilt für Menschen, die auf beiden Seiten der Frontlinie leben. Natürlich hat sich die Meinungskluft zwischen den beiden Teilen des Donbas im Laufe der Jahre vergrößert. Es sind Menschen, die sich sozusagen an eine doppelte Identität gewöhnt haben. Wenn sie nach Lviv fahren, nennt man sie Moskowiter, und wenn sie in Moskau sind, nennt man sie Chochhols [Anm. d. Red. abwertende Bezeichnung für Ukrainer].
Im Jahr 2014 begann ein Russe, Igor Girkin [auch bekannt als Igor Iwanowitsch Strelkow – Anm. d. Red.], den Krieg (als militärischer Befehlshaber der Donezker Volksrepublik, Anm. d. Red.), und noch im selben Jahr marschierten russische Truppen ein. Aber natürlich beschlossen viele Einheimische aus verschiedenen Gründen, sich dem Kampf gegen die ukrainische Armee anzuschließen.
Damals hatte der Krieg eine ganz andere Wirkung auf mich. Er tötete jeglichen Nationalismus in mir. Aber 2022 sahen wir uns einer offenen Invasion gegenüber, auch in Gebieten wie Kiew, wo niemand die russische Armee willkommen hieß; auch einer Invasion des Südens, der Regionen Cherson und Saporischschja, wo die meisten Menschen zur Ukraine zurückkehren wollen. In diesem Sinne ist es jetzt eine andere Art von Krieg. Es ist alles viel einfacher.
Spürst du den Einfluss dieser “doppelten Identität” direkt bei deinen Kampfgefährt:innen?
Die Meinungen gehen überall auseinander, auch hier in der Kompanie. Mein jetziger Kompaniechef zum Beispiel hat im Frühjahr 2014 offenbar den Anti-Maidan unterstützt. Ich habe ein angespanntes Verhältnis zu ihm, daher entnehme ich mehr daraus, wie er in Gesprächen mit anderen Offizieren argumentiert. Ihm zufolge gefiel den Menschen in der Ostukraine der Maidan nicht, also forderten sie eine Föderalisierung, aber die Regierung war nicht bereit, Verhandlungen zuzustimmen. Seit Girkins Gruppe (Separatist:innen, die von russischen Soldat:innen unterstützt werden, Anm. d. Red.) 2014 die Stadt Slowjansk eingenommen hat, sagt er jedoch, dass es sich um eine Operation des russischen Geheimdienstes handelt. Er mag auch keine Sprachaktivisten, die wollen, dass wir alle zum Ukrainischen wechseln. Der Großteil meiner Einheit stammt aus den östlichen Regionen, und soweit ich weiß, mögen sie keine Nationalist:innen. Einige meiner Bekannten haben auch in Einheiten mit Mitgliedern der ehemaligen Bereitschaftspolizei Berkut gedient, die das Janukowitsch-Regime während des Maidan verteidigt haben und ihre Ansichten über den Maidan nicht geändert haben. Dennoch verteidigen sie die Ukraine gegen die russische Aggression.
Welche militärische Position übst du aus?
In den ersten beiden Jahren der Invasion war ich hauptsächlich als Fernmelder tätig. In der Praxis war das eine recht abwechslungsreiche Tätigkeit – mal hinter einem Computer, mal beim Aufbau von Funkgeräten und beim Verlegen von Kommunikationskabeln. Meistens hielten wir uns als Funker in einem Graben auf, der mehrere Kilometer von der Frontlinie entfernt war. Wir stellen einen Ersatzkommunikationskanal für die Kamerad:innen an der Frontlinie bereit. Wenn zum Beispiel der allgemeine Kommunikationskanal ausfällt oder das Signal sie nicht erreicht, sind wir da, um sie zu unterstützen.
Vor kurzem hat sich mein Auftrag geändert, ich diene jetzt in einem Aufklärungsbataillon, aber was genau ich mache, möchte ich lieber nicht öffentlich sagen.
Im tschechischen linken Milieu ist die Solidarität mit der Zivilbevölkerung und den Flüchtlingen groß, aber es gibt wenig Sympathie für den bewaffneten Widerstand und wenig Verständnis dafür, dass sich Ukrainer:innen freiwillig der Armee anschließen. Es gibt auch Forderungen, die Waffenlieferungen zu stoppen. Was denkst du über all das?
Wenn man die Invasion am eigenen Leib spürt, verändert sie einen. Wie einer unserer Redakteure sagte, ist es in solchen kritischen Momenten viel einfacher, Prioritäten zu setzen. Es gibt viele Dinge, die einem im Alltag wichtig sind. Aber wenn das eigene Leben auf dem Spiel steht, wird das zur Hauptsache und alles andere ist zweitrangig. Das macht den Kopf ein wenig frei.
In den ersten Tagen der Invasion habe ich verstanden, dass die Zukunft der linken Bewegung in der Ukraine davon abhängt, ob wir uns aktiv am Krieg beteiligen oder nicht. Wir alle werden in solch kritischen Momenten weitgehend an unseren Handlungen gemessen. Wir – die Linke – sind in diesem Land schon jetzt nicht sehr einflussreich, und wenn wir nicht in den Kampf gezogen wären, wäre alles auseinandergefallen. Die Linke hätte aufgehört, in der Ukraine überhaupt zu existieren. Aus bestimmten Gründen war und bin ich einer der sichtbarsten Vertreter der linken Bewegung, der jetzt in den Streitkräften dient. Und so trage ich nicht nur für mich selbst, sondern auch für andere eine Verantwortung. Es war auch einfacher für mich, ich bin nicht verheiratet, ich habe nicht einmal Kinder.
Ich antworte nicht gerne auf die Fragen von Journalisten, warum ich mich für die Armee entschieden habe. Um es gelinde auszudrücken: Ich war mir nicht sicher, ob ich ein guter Soldat sein würde. Und das ist einer der Gründe, warum ich mich nicht darauf vorbereitet habe. Ich dachte immer, ich wäre auf andere Weise nützlicher, zum Beispiel beim Schreiben von Artikeln. Ehrlich gesagt, bin ich immer noch kein guter Soldat (lacht). Aber ich lerne allmählich und dann werden wir sehen. Ich habe noch mindestens ein ganzes Jahr vor mir.
Seit dem Beginn der russischen Großinvasion hast Du zwei einflussreiche Artikel geschrieben: „Ein Brief an die westliche Linke aus Kiew“ und „Ich bin ein ukrainischer Sozialist. Darum kämpfe ich gegen die russische Invasion“, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Ist es möglich, unter den Bedingungen des Krieges weiterzuschreiben?
Seit Beginn der Invasion konnte ich nur in den ersten Monaten konzentriert schreiben, wenn ich die Kraft dazu hatte. Da war mehr Zeit. Mein Adrenalinspiegel war in diesen ersten Monaten völlig außer Kontrolle. Es ist mir noch nie so leicht gefallen zu schreiben. Normalerweise quäle ich mich beim Formulieren jedes Satzes, aber damals habe ich mich hingesetzt und einen Artikel in einem halben Tag geschrieben. Jetzt nicht mehr. Ich habe weder die Energie noch das Vertrauen. Ich bin jetzt kritischer und drehe die Dinge in meinem Kopf um.
In einem Interview erwähntest du, es sei nicht sicher, was mit der prorussischen Bevölkerung der Regionen Donezk und Luhansk sowie der Krim geschehen wird, sobald diese Gebiete befreit sind. Wie wird das Verhältnis zu diesem Teil der Gesellschaft sein? Was wird geschehen?
Wir haben bereits befreite Gebiete, das heißt, wir haben eine Praxis, die wir analysieren können.
Ein Freund von mir zum Beispiel, ein Journalist und ehemaliger linker Aktivist, der 2014 von der Krim in die Ukraine geflohen ist, beschäftigt sich jetzt mit Fragen der Zusammenarbeit in Lyman. Dort werden Menschen oft zu Unrecht verurteilt. Natürlich gibt es Fälle von Personen, die sich aktiv an der Repression beteiligt haben, und die müssen natürlich verurteilt werden. Es gibt aber auch Fälle, in denen die Ukraine eindeutig zu Unrecht urteilt, beispielsweise über einen Elektriker des technischen Dienstes, der während der Besatzung die Lebensbedingungen der einfachen Menschen in Lyman aufrechterhielt.
Es gibt eine große Grauzone, in der es nicht so eindeutig ist. Der Begriff “Rechtsstaatlichkeit” trifft auf die Ukraine nicht ganz zu, wenn man bedenkt, wie viele Probleme es hier mit der Justiz gibt. Trotz alledem sind das Ausmaß der Unterdrückung und die Achtung der Menschenrechte in den von Russland besetzten Gebieten und in der übrigen Ukraine nicht vergleichbar.
Das Bild, das sich der ukrainische Mainstream von den östlichen Regionen macht, ist auch in Bezug auf die dortige Bevölkerung etwas schizophren. Einerseits sehen die Menschen sie als „unsere“, andererseits sehen sie sie alle als „Separatisten“. Es gibt keine einheitliche Darstellung dessen, was 2014 dort passiert ist. Außerdem gilt man als Separatist, wenn man bei der Beschreibung dieser Ereignisse über einen bestimmten akzeptierten Diskurs hinausgeht. In dieser Hinsicht gefällt mir die Art und Weise, wie das alles in der Ukraine abläuft, wirklich nicht.
Du hast geschrieben, dass die Regierung Zelenskyj während des Krieges eine neoliberale Politik umsetzt. Gleichzeitig bist du der Meinung, dass Zelenskyj der zentristischste Kandidat war, oder zumindest der Kandidat, der am weitesten von der radikalen Rechten entfernt war. Uns würde interessieren, wie sich dies in den letzten zwei Jahren geändert hat. Wie wird dies von den Wähler:innen wahrgenommen? Gibt es irgendwelche Veränderungen auf dieser Ebene?
Ja, es gibt Veränderungen. Damals meinte ich, dass Zelenskyj in Bezug auf den Nationalismus der moderateste unter den Politikern ist, die eine Chance haben, Präsident der Ukraine zu werden. Daran hat sich bis jetzt nichts geändert. Allerdings hat sich der allgemeine Konsens in Richtung eines stärkeren Nationalismus verschoben. Und auch Zelenskyj hat sich in diese Richtung bewegt. Es gibt auch Politiker, die offener [als Zelenskyj – Anm. d. Red.] gegenüber der russischsprachigen Bevölkerung sind, aber sie haben keine Chance, eine Präsidentschaftswahl zu gewinnen. Ich habe auch den Eindruck, dass einige in der westlichen Linken nicht verstehen, dass eine offene Haltung in Sprachfragen nicht gleichbedeutend ist mit einer generell progressiven Agenda. Meiner Meinung nach ist dies oft nur eine Strategie der Populisten, um diejenigen zu gewinnen, die früher für die prorussischen Parteien gestimmt haben.
Zelenskyj hat die ersten anderthalb Jahre seiner Amtszeit damit verbracht, Frieden im Donbas zu schaffen, und Poroschenkos Gefolgsleute machen ihn immer noch dafür verantwortlich. In den ersten Monaten nach der Invasion wandte sich Zelenskij in seinen Reden erneut an das russische Publikum. Wie viele Ukrainer:innen hoffte er, dass die Menschen in der Russischen Föderation irgendwann aufbegehren würden. Irgendwann gab er auf und begann, die Forderung zu unterstützen, dass Russen keine Visa ausgestellt und die Einreise nach Europa verboten werden sollte.
Im Herbst 2022 verkündete Putin die Mobilisierung, und Zelenskyj sprach mit den Russen wieder auf Russisch. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der ukrainische Mainstream bereits so weit verändert, dass es nicht mehr als angemessen angesehen wurde, mit den Russen auf Russisch zu sprechen. In solchen Momenten zeigt sich also, dass Zelenskyjs Politik immer noch integrativer ist als die des ukrainischen politischen Mainstreams. Ja, wir haben Glück, dass sich die Dinge so entwickelt haben.
Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass Zelenskyj sich in vielen Fragen wie ein Arschloch verhält. In letzter Zeit zum Beispiel in der Art und Weise, wie er an die Palästina-Frage herangegangen ist. Auch wie er auf Kritik reagiert, wie er mit politischen Rivalen konkurriert und wie er die Medienmacht konzentriert. Er und seine engsten Mitarbeiter sind Showbiz-Leute, und sie gehen sehr professionell-technisch vor, um die Stimmung in der Öffentlichkeit einzufangen. So haben sie beispielsweise in den ersten Tagen der russischen Invasion die Fernsehnachrichten aller Kanäle zu einem gemeinsamen Telethon zusammengefasst. Damals war das der Situation angemessen; niemand konnte eine solche Berichterstattung über aktuelle Ereignisse allein leisten. Diese Regelung hätte längst abgeschafft werden müssen, weil sie die Redefreiheit einschränkt. Aber sie ist nicht abgeschafft worden. Sie sind Arschlöcher und Idioten. Wir könnten eine lange Liste ihrer völlig unangemessenen Politik erstellen.
Was ist mit der Beteiligung der Linken am Maidan? Du warst damals nicht Teil der linken Bewegung. Kannst Du den damaligen Kontext beschreiben?
Ich habe ein widersprüchliches Verhältnis zu dieser Zeit. Ich war auf dem Maidan, aber ich mag das Pathos nicht, das ihn umgibt. Ich war schon vor dem Maidan ein Aktivist. Ein paar Monate zuvor hatten wir versucht, einen Protest zum Thema Bildung zu organisieren. Wir verteilten Flugblätter auf dem Campus, aber die Leute waren sehr passiv. Aber als der Maidan begann, haben sich dieselben Leute, die vor ein paar Monaten noch gesagt hatten, dass es keinen Sinn hat zu protestieren, oder etwas ähnlich Zynisches, plötzlich für die Sache begeistert und so revolutionäre Reden gehalten, dass ich sie einfach nur angestarrt habe (lacht). Damals wusste ich noch nicht, dass sich Menschen bei großen Aufständen plötzlich verändern.
Maidan ist eine Geschichte über den Widerstand gegen den Staat und den Repressionsapparat und über Solidarität. Aber als die Proteste in eine gewalttätige Phase übergingen, veränderte die Teilnahme an dieser Gewalt die Menschen, und das war mir ziemlich unangenehm. Ich stamme aus Luhansk und habe daher vom ersten Tag an verfolgt, was dort passiert ist. Das war einer der Gründe, warum ich den Maidan anders erlebte als meine Studienkolleg:innen und Freund:innen aus Kiew. Von Anfang an war ich besorgt, dass im Donbas etwas Schlimmes passieren könnte. Leider ist genau das passiert.
Ich wurde mitten in all dem zum Linken, im Jahr 2014, als die westliche Linke sich nicht im besten Licht zeigte. Und in der Tat war die ukrainische Linke wegen derselben Probleme, die wir jetzt jenen im Westen vorwerfen, im Verfall begriffen.
Die Reaktion der westlichen Linken ist heute im Allgemeinen besser als 2014, nicht zuletzt, weil jetzt klar ist, wer der Aggressor ist. Dennoch hielt ich es in den ersten Tagen der Invasion für notwendig, von hier aus Hilfe zu leisten, um zu erklären, worum es geht und wie, damit wir den fehlgeleiteten Reaktionen sofort ein Ende setzen können. Ich dachte in meiner überzogenen Art, dass die Menschen im Westen aufwachen würden. Jetzt sehe ich, wie naiv ich war und wie sehr ich das Ausmaß des Problems unterschätzt habe. Ich hatte bereits die Erfahrung von 2014 gemacht, genug, um von der Reaktion der westlichen Linken nicht allzu überrascht zu sein. Aber wir haben auch jüngere Mitglieder, die in den Jahren unmittelbar vor der Invasion in die linke Bewegung kamen, und für einige von ihnen war es ein Schock.
In einem deiner Artikel hast du dich mit dem Recht auf Selbstbestimmung auseinandergesetzt und die Argumente kritisiert, dass die Invasion in der Ukraine ein reiner Stellvertreterkonflikt sei. Deiner Meinung nach vertritt ein Teil der radikalen Linken in dieser Frage sogar eine “imperialistischere” Position als zum Beispiel die US-Regierung. Wie äußert sich das und wo liegen deiner Meinung nach die Wurzeln dafür?
Ein Teil der westlichen Linken hat sich auf Vorurteile gegenüber der Ukraine, unkritische Wahrnehmungen Russlands und dergleichen eingelassen. Was wollen viele linke Kriegsgegner:innen eigentlich, außer einem Stopp der Waffenlieferungen? Sie wollen, dass die USA und Russland ein Abkommen schließen, ohne die Meinung der Menschen vor Ort zu berücksichtigen. Solche Lösungen haben nichts mit den Werten der Linken zu tun. Ein solcher Ansatz impliziert eine gewisse Akzeptanz des Neo-Realismus in den internationalen Beziehungen.
Es gibt keinen linken Konsens darüber, wie man an solche Fragen herangehen sollte. Der einzige Konsens ist wahrscheinlich das Selbstbestimmungsrecht der Völker, aber das ist im Fall der Ukraine von einem Teil der Linken plötzlich vergessen worden. Wenn eine Situation kritisch wird, schreiben einige ansonsten vernünftige Leute plötzlich völligen Blödsinn.
In diesem speziellen Fall sagen die Vereinigten Staaten im Grunde, dass die Ukraine entscheiden kann, wann und unter welchen Bedingungen sie ihren Widerstand beendet. Bei vielen anderen bewaffneten Konflikten in der Welt nehmen die USA jedoch eine ganz andere Position ein, was die Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts angeht. Zumindest in den Ländern des globalen Südens. So wie jetzt, wo die westliche Linke Palästina unterstützt und die USA Israel unterstützen.
Auch wir Ukrainer:innen haben einen Solidaritätsbrief an die Palästinenser:innen veröffentlicht. Aber die westliche Linke hat verschiedene Ansätze, Palästina zu unterstützen. Es schockiert mich, wenn einige, oft dieselben westlichen Linken, die in den letzten anderthalb Jahren am lautesten über die ukrainische extreme Rechte geschimpft haben, nun unkritisch die Hamas unterstützen. Worum geht es denn da eigentlich? Ich kann keine ihrer Aussagen über die Heuchelei der westlichen Regierungen mehr ernst nehmen.
Ich habe den Eindruck, dass in dieser Position eine gewisse Moralisierung steckt?
Ja. Und das, obwohl es in den letzten Jahrzehnten viel feministische Kritik gegeben hat, die zu Recht die Diskreditierung von Frauen als emotionale und nicht objektive Wesen anprangert. Im Falle des Krieges projizieren sie diese “Emotionalität” auf uns Ukrainer. Dabei ist an Emotionalität nichts auszusetzen. Das Gegenteil von Emotionalität ist nicht Rationalität, sondern Gleichgültigkeit. Und dann kommt es zu harten Entscheidungen und die Linke vergisst irgendwie alles.
Das Hauptproblem scheint mir offensichtlich zu sein: Und das ist die Verwechslung von Antiimperialismus und Antiamerikanismus. Alle Konflikte werden unter dem Gesichtspunkt der Gegnerschaft zu den Vereinigten Staaten gesehen.
Eine andere Sache, die mich immer noch überrascht, ist die Verwechslung zwischen der Russischen Föderation und der Sowjetunion. Wir können über die Sowjetunion diskutieren und darüber, wie man sie richtig einschätzen sollte. Aber Putins Russland ist in keiner Weise die Sowjetunion. Heute ist es ein völlig reaktionärer Staat. Man kann nicht umhin zu bemerken, wie viele linke Autor:innen in ihre Texte Kommentare und Argumente einbauen, die zeigen, dass sie Russland immer noch als die Sowjetunion sehen. Und das, obwohl sie rational anerkennen, dass Putins Regime reaktionär, konservativ, neoliberal und dergleichen mehr ist. Und dann, bumm, platzen sie plötzlich mit der Behauptung heraus, die Unterstützung der Vereinigten Staaten für die Ukraine sei eine Art Rache an Russland für die bolschewistische Revolution. Was für ein Blödsinn! (lacht).
Welchen Rat würdest du der westlichen Linken geben?
Ein großer Teil der Linken hat eine absolut unangemessene Position eingenommen. Diejenigen, die ihre Zeit darauf verwenden, für die Ukraine zu argumentieren, tun immerhin das Richtige. Die Linke ist überall in der Krise. Es ist nur so, dass sie an manchen Orten völlig am Boden liegt, wie hier. An manchen Orten, wie im Westen, ist es nicht so schlimm. Wenn ich einen allgemeinen Rat geben sollte, würde ich empfehlen, weniger darauf zu achten, welche abstrakte Position richtig ist, und sich mehr auf praktische Aktionen zu konzentrieren, die uns helfen, aus dem Loch herauszukommen, in dem wir stecken.
Selbst in unserer eigenen Organisation [Soziale Bewegung – Anm. d. Red.] vertraten wir bis 2022 unterschiedliche Positionen zum Krieg im Donbas. Manchmal war es schwierig, diese Empfindlichkeiten unter einen Hut zu bringen. Um die Situation nicht eskalieren zu lassen, haben wir uns oft selbst zensiert. Eines meiner Argumente lautet: Lasst uns nicht über Dinge streiten, die wir nicht beeinflussen können. Linke sind oft herablassend, sie halten sich für die einzig Vernünftigen und Kritischen. Doch von innen heraus kann man sehen, wie viel davon erlernte Floskeln sind. Zum Beispiel die Art und Weise, wie manche Linke ihre Position und Strategie in Debatten formulieren. Anstatt die konkreten Verhältnisse zu analysieren, wiederholen sie oft nur Beispiele aus einem völlig anderen Kontext und einer anderen Zeit, die überhaupt nicht zur Situation passen. Wir müssen uns von diesen Schablonen lösen. Marxismus ist kein Dogma, aber aus irgendeinem Grund reduzieren zu viele Marxist:innen in der Praxis den Marxismus auf eine bloße Wiederholung etablierter Dogmen. „Kein Krieg außer dem Klassenkrieg“ und so weiter.
Eine bezeichnende Situation ergab sich, als die deutsche Delegation der Partei Die Linke aus dem Bundestag im letzten Frühjahr eintraf. Bis dahin war ihre Position zu Waffenlieferungen völlig negativ. Als sie abreisten, sagte der Gruppenleiter, dass sie nach ihren Erfahrungen in Kiew einige ihrer Positionen überdacht hätten. Zum Beispiel, dass die Ukrainer:innen eindeutig eine Raketenabwehr brauchen. Dieselbe Raketenabwehr, die sie bis dahin abgelehnt hatten, schützte sie nun in Kiew! Mehr als ein Jahr nach der Invasion wurde ihnen also klar, wie notwendig sie war. Es hat lange gedauert, bis sie zu dieser Einsicht gekommen sind, und es gibt noch vieles, was sie verstehen müssen (lacht). Aber dies ist zumindest das grundlegende Minimum.
Gibt es etwas, das du der tschechischen Linken sagen möchtest, zum Beispiel in Bezug auf den von dir erwähnten extremen Pazifismus?
Die tschechische Linke hat die historische Erfahrung der Niederschlagung des Prager Frühlings gemacht, deshalb verstehe ich nicht, warum sie nicht mehr Verständnis für unseren Widerstand aufbringt. Vielleicht liegt es an einer zu großen Abhängigkeit von der westlichen linken Theorie. Ehrlich gesagt, war es in unserem Land genau so und ist es in einigen Aspekten auch heute noch. Nach 1989 war die Linke in der Ukraine sehr deprimiert, und wir schauten umso mehr auf westliche Autor:innen. Bei der Zeitschrift Commons machen wir natürlich Übersetzungen. Aber auf einer gewissen Ebene verstehen und spüren wir, dass wir eine Art Dekolonisierung von uns selbst brauchen. Der 24. Februar 2022, der Tag der russischen Invasion, wurde auch für uns zu einem Moment der intellektuellen Emanzipation. Wir müssen kritischer sein gegenüber dem, was westliche Autor:innen schreiben. Wir haben viel von ihnen gelernt und geben das auch offen zu, aber wir haben einen etwas anderen Kontext. Wir dürfen uns nicht scheuen, das Ganze aus einer lokalen Perspektive zu betrachten. Und dazu gehört auch, eine lokale Analyse der Ideen westlicher linker Autoren zu entwickeln.
Auch im lokalen linken Umfeld haben wir zu unserem Nachteil oft nur die Ansichten der westlichen Linken wiederholt. Die beiden Missstände der heutigen linken Politik sind die historische Rekonstruktion und die Übernahme von Trends. Die Leute lesen hundert Jahre alte Autor:innen und erklären sich zu Marxist:innen oder Feminist:innen im Sinne dieser klassischen Texte. Die Welt hat sich sehr verändert, und die Leute lesen die Klassiker:innen zu wörtlich, auch wenn sie nicht mehr wirklich zu den aktuellen Bedingungen passen. Und zweitens kann sich die Linke nicht von ihrer Gewohnheit lösen, trendige westliche Kulturkriege oder Subkulturen zu übernehmen. Im Jahr 2016 beschlossen zwei linke Aktivisten bei einer Veranstaltung in der Ukraine, den Slogan “Geld für Bildung, nicht für Krieg!” zu skandieren. Die Sache ist die, dass sie dies aus einem völlig anderen Kontext importiert haben, nämlich aus Italien, das in imperialistische Aggressionen verwickelt war. Unser Fall ist anders: Die Ukraine ist in erster Linie ein Opfer der Aggression eines anderen Staates. Kurz gesagt, es war eine Katastrophe. Die Folgen für die lokale Linke waren verheerend. Wir befanden uns nach 2014 bereits in einer schwierigen Situation, und diese eine Aktion, dieser eine Slogan, hat alles noch viel schlimmer gemacht. Also ja, wir haben eine Menge Fehler gemacht. Es stimmt, dass einige von uns auch die falschen Schlüsse gezogen haben. Wir haben noch viel zu lernen. Aber gleichzeitig haben wir aus unserer bitteren Erfahrung einiges gelernt.
Referenzen
Quelle: A2larm 13. April 2024 https://a2larm.cz/2024/04/kdybychom-nesli-bojovat-levice-by-v-ukrajine-prestala-existovat-rika-taras-bilous/
Dieser und viele weitere Artikel von Taras Bilous in verschiedenen Sprachen können unter https://ukraine-solidarity.eu/authors-selected/taras-bilous abgerufen werden. Das ukrainische Solidaritätsschreiben mit Palästina, auf das sich Bilous bezieht, kann in verschiedenen Sprachen unter https://ukraine-solidarity.eu/peace-war-and-geopolitics/palestine-israel eingesehen werden.
Dieser Artikel wurde von Adam Novak aus dem Tschechischen übersetzt und am 17. April 2024 geändert, um kleinere Korrekturen in die Übersetzung aufzunehmen. Die Übersetzung aus der englischen Version auf europe-solidaire ins Deutsche übernahm Christian Zeller.