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»Genosse Präsident Lula, wirst Du in der Geschichte die Erinnerung an einen Führer hinterlassen, der Wladimir Putin stoppt?«
Offener Brief von Alain Lipietz, ehemaliger Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung Europa-Lateinamerika, an den brasilianischen Präsidenten Lula. Der Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige grüne Europaabgeordnete Alain Lipietz spricht in einem Gastbeitrag für Le Monde (2. Mai 2023) in der Form eines offenen Briefes den brasilianischen Präsidenten auf seine Haltung zum russischen Krieg gegen die Ukraine an und fordert ihn auf, sich auf die richtige Seite zu stellen. Wir publizieren diesen offenen Beitrag auf Deutsch, um den weitgehend unkritischen Verweisen in der deutschsprachigen Linken auf Lulas Position zum russischen Krieg entgegnen.
Sehr geehrter Herr Präsident Lula, lieber Genosse,
Wir haben uns 1984 am Sitz der Gewerkschaft der Metallarbeiter:innen in Sao Bernardo kennengelernt. Du hast mich in eine Spelunke geschleppt und mir von deinem Leben als Sohn eines Einwanderers aus dem Nordosten erzählt. Ich vertraute sofort darauf, dass Du eines Tages Präsident Deines großen Landes sein würdest. Zwanzig Jahre später war ich auf Deine Einladung hin in Cuzco (Peru) der einzige ausländische Gast, der in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Delegation des Europäischen Parlaments für die Andengemeinschaft das Patronat für die Entstehung der Südamerikanischen Gemeinschaft der Nationen übernahm.
Du trittst nun Deine dritte Amtszeit an, nachdem Du einen Sieg über den schrecklichen Jair Bolsonaro, einen Feind des Planeten und der Menschenrechte, errungen hast. Wir, die Linken und Umweltschützer:innen in Europa, haben diesen Sieg genauso begrüßt wie Joe Bidens Sieg über Donald Trump und aus denselben Gründen. Deshalb bin ich verblüfft, dass Du demselben Präsidenten Joe Biden vorwirfst, »die Fortsetzung des Krieges in der Ukraine zu fördern«, weil er den großartigen Widerstand des ukrainischen Volkes gegen die russischen Invasoren unterstützt, die immer wieder betonen, dass sie nur einen Frieden wollen, nämlich den, der die Eroberung von fünf Regionen der Ukraine anerkennt. Alle diese Regionen, einschließlich der Krim, hatten für die Unabhängigkeit der Ukraine gestimmt.
Ich weiß sehr wohl, dass Brasilien für alle UN-Resolutionen gegen diese Aggression und für die Wiederherstellung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine gestimmt hat. Aber welchen Beitrag leistet Brasilien unter Deiner Führung, um Russland dazu zu bewegen, dieses Urteil zu respektieren, das heißt diese fünf Regionen unverzüglich zu räumen und dem ukrainischen Volk die Freiheit zuzugestehen, souverän über seine Freundschaften und Bündnisse zu entscheiden?
Keine Wirtschaftssanktionen
Bisher weigert sich Brasilien, Waffen an dieses kleine Land zu liefern, das über keine Waffenindustrie verfügt. Es weigert sich sogar, einfache Wirtschaftssanktionen gegen das Land zu verhängen, das unverschämt gegen das Völkerrecht verstößt, dessen Truppen plündern, vergewaltigen, hinrichten, foltern und Tausende von Kindern stehlen, und dessen Bombardierungen im ukrainischen Winter einem ganzen Volk absichtlich die Heizung und den Strom abgestellt haben.
Du könntest sagen: »Das ist eine europäische Angelegenheit, das geht uns nichts an«. Aber Du ergreifst das Wort, kritisierst nicht den Invasor, sondern das Land, das dem überfallenen Land am meisten hilft, und wirfst ihm kurz gesagt vor, die Kapitulation der Ukraine zu verzögern! Du könntest noch sagen: »Ich möchte bei künftigen Friedensverhandlungen als Vermittler fungieren können.« Keine Sorge: Über die Türkei oder den Generalsekretär der Vereinten Nationen hat der Dialog zwischen der Ukraine und Russland nie aufgehört, um Gefangene auszutauschen, Weizenlieferungen über das Schwarze Meer zu sichern usw.
Es mag schwierig sein, das Handeln der USA zu würdigen und sich im derselben »Lager« wie die USA wiederzufinden. Das brasilianische Volk wurde von 1964 bis 1985 ebenso wie seine Nachbarn Chile, Argentinien und andere im Rahmen der von der CIA verdeckt geleiteten Operation Condor einer Militärdiktatur unterworfen. Aber Du weißt, dass es nicht die Länder sind, die die »Lager« bilden, sondern die Arbeiter:innen, Demokrat:innen, Feministinnen, Umweltschützer:innen, gegen diejenigen, die ausbeuten, unterdrücken und plündern. Ein Land gehört nur aufgrund der Farbe seiner Regierung zu einem »Lager«. Und das Russland unter Putin gehört zum »Lager« der Bolsonaro, Medici, Videla, Galtieri, Pinochet usw.
In den Jahren 1965-1985 demonstrierten wir in Europa gegen die Staatsstreiche in Brasilien, Argentinien und Chile, wir nahmen Flüchtlinge bei uns auf, suchten ihnen Arbeit und für diejenigen, die dort Widerstand leisteten: Waffen, Geld. Und jetzt kritisierst Du diejenigen, die den Widerstand eines gemarterten Volkes unterstützen? Was sagst Du uns, wenn Bolsonaros Nachahmer einen neuen Golpe (»Staatsstreich«) in Brasilien organisieren? Dass wir »den Golpe verurteilen«, aber dem Widerstand und der gestürzten legalen Regierung nicht »helfen« sollen, weil das den Marsch in Richtung Friedhofsruhe verlangsamen würde? Deine ehemaligen Genoss:innen in der Führung der Gewerkschaft der Metalarbeiter:innen im Donbas stehen seit 2014 an vorderster Front gegen die russische Aggression. Fast die Hälfte von ihnen hat bereits ihr Leben für ihr Heimatland geopfert. Glaubst Du, dass sie die Waffen ablehnen, die ihnen die europäischen Staaten und die USA liefern?
Die USA, das Vereinigte Königreich und Frankreich unterstützen den ukrainischen Widerstand (durch die Lieferung von Waffen, Krankenhauseinheiten, Stromgeneratoren usw.) aus einem einfachen Grund: Diese Länder wissen sich aufgrund ihrer internationalen Verpflichtungen, die sie eingegangen sind und die einen relativen Weltfrieden garantierten, dazu verpflichtet. Sie wissen, dass es auf Dauer teurer wäre, »nichts getan zu haben«.
Halluzinierender Treuebruch
1994 verzichtete die Ukraine im Budapester Memorandum auf alle ihre Atomwaffen im Gegenzug für die »Garantie ihrer territorialen Integrität und Souveränität« durch die Russische Föderation, die USA und das Vereinigte Königreich, zu denen sich bald auch China und Frankreich gesellten. Diese Garantie wurde am 4. Dezember 2009 bestätigt. Und durch einen halluzinierenden Treuebruch marschiert einer dieser Unterzeichner, nämlich Russland, heute in die Ukraine ein!
Wer wird von nun an glauben können, dass die »internationale Garantie« ein ausreichender und besserer Schutz als Atomwaffen ist, wenn sich nicht die ganze Welt mit rigorosen weltweiten Wirtschaftssanktionen gegen den Aggressor stellt, bis er seine Truppen abzieht? Die Folgen in diesem Fall: die Verbreitung von Atomwaffen und die damit verbundenen schrecklichen Risiken. Ist Brasilien in dieser Frage gleichgültig?
Heute nimmt die russische Aggression alle Regierungen und Völker der Welt in die Pflicht. So wie 1936-1939 die Nichteinmischung angesichts von Francos pronunciamento [Machtübernahme durch eine Fraktion der Armee], der Aggression gegen Äthiopien und der Zerschlagung der Tschechoslowakei geradewegs in den Weltkrieg führte, indem sie die faschistische Maßlosigkeit förderte, so führt uns die Nichteinmischung derjenigen, die verurteilen, aber nichts tun, oder sogar dem Aggressor kommerziell helfen, geradewegs in einen neuen Weltkrieg. Denn Wladimir Putin macht keinen Hehl daraus: Er will das große russische Reich von Katharina II. und Stalin wiederherstellen. Nach der Ukraine sollen Georgien, Moldau, die baltischen Staaten, Polen, Finnland usw. folgen. Und diese Länder haben das verstanden, denn auch sie unterstützen den ukrainischen Widerstand im Rahmen ihrer Möglichkeiten.
Genosse Präsident Lula, wirst Du in der Geschichte als Führer eines großen Landes in Erinnerung bleiben, der rechtzeitig zu Wladimir Putin gesagt hat: »Stopp! Geh zurück!« und Maßnahmen ergriffen hat, um ihn dazu zu bringen, dies zu tun? Oder, im Gegenteil, derjenige, der gesagt hat: »Lasst Putin annektieren, was er bereits erobert hat, und noch so viel, wie er will und kann… «?
Von dem Mann, dem Genossen, den ich gekannt habe, erwarte ich nur die erste Antwort. Und möge sie so bald wie möglich kommen, Herr Präsident.
Der offene Brief ist am 2. Mai 2023 als Gastbeitrag für Le Monde erschienen. Christian Zeller hat ihn für emanzipation übersetzt.
Bildquelle: Foto von Adrian Swancar auf Unsplash