Share This Article
Kavita Krishnan, indische feministische Aktivistin, Marxistin und Redakteurin, erklärt, warum internationale emanzipatorische Bewegungen an der Seite der Ukraine stehen sollten, warum die Unterstützung Putins der globalen extremen Rechten nützt und wie man den geopolitischen Zugang zur linken Politik infrage stellt (Red./he)
Du bist aus der Kommunistischen Partei Indiens (Marxistisch-Leninistisch) Befreiung (CPIML) wegen deren Haltung zum Krieg in der Ukraine ausgetreten. Worin liegen die Unterschiede in Euren Auffassungen? Warum geschah dies genau zu diesem Zeitpunkt und nicht früher?
Ich war schon seit Jahren mit der Haltung der CPIML zu verschiedenen internationalen Konflikten unzufrieden. Mir wurde klar, dass wir uns in unserer Berichterstattung über den Krieg in Syrien auf die Möglichkeit einer US-Intervention konzentrierten. Die Unterdrückung durch die Assad-Regierung und später die militärische Intervention Russlands, ihr tatsächliches Ausmaß und ihre Auswirkungen wurden kaum zur Kenntnis genommen. Ich muss gestehen, dass ich erst nach und nach zu dieser Erkenntnis kam, denn anfangs teilte ich diese Haltung. Wenn man weltweit linke Websites und Artikel von Leuten liest, die man immer respektiert hat, denkt man, dass sie ihre Hausaufgaben gemacht haben müssen. Ich habe einige Zeit gebraucht, um zu erkennen, dass etwas an dem Bild nicht stimmt. Ich muss mich bei Menschen aus Syrien in Großbritannien bedanken, die einen Weg gefunden haben, ihre Positionen ins Internet zu stellen und zu sagen, dass Koalitionen wie «Stop the War» einfach keine syrischen Antikriegsstimmen auf ihren Plattformen zulassen. Das war ein Wendepunkt, und seither bin ich in dieser Hinsicht besonders wachsam.
Vor dem Krieg in der Ukraine hatte ich bereits einige Bücher über die Geschichte der Ukraine gelesen. Natürlich hätte ich schon viel früher damit anfangen sollen. Ich las über die Zeit unter der Herrschaft Stalins und darüber, was sie für die verschiedenen Nationalitäten, insbesondere für die Bäuer:innen, bedeutete, da die nationale Frage in den Agrarregionen besonders akut war. Als sich der Krieg in der Ukraine anbahnte, brachte die CPIML eine Erklärung heraus, die ich mitverfasst habe. Ich sagte, dass wir deutlich machen müssten, dass sich die russischen Truppen an die [Vorkriegs-]Grenze zurückziehen sollten, und meine Genoss:innen stimmten zu. In informellen Gesprächen gaben sie jedoch zu, dass sie der Meinung waren, diese Situation sei nur amerikanische Kriegstreiberei und dass Russland nicht in die Ukraine einmarschieren werde. Ich erinnere mich, dass ich sagte, Russland sei bereits 2014 in die Ukraine einmarschiert: «Warum sollte es das jetzt nicht mehr tun, da Putin der Ukraine weiterhin das Existenzrecht abspricht?» Die Antwort war, dass dies nur Rhetorik sei und das eigentliche Problem darin bestehe, dass die NATO Russland umzingelt und Putin zu dieser Art rhetorischer Eskalation greifen müsse, weil er befürchte, die Ukraine könnte der NATO beitreten. Am nächsten Tag marschierte Russland in die Ukraine ein. Ich rief sofort meine Genoss:innen an, und wir brachten eine weitere Erklärung heraus, in der wir einerseits die Invasion und Putins Behauptung, Lenin habe die Ukraine geschaffen, verurteilten und andererseits die Rolle der NATO erläuterten.
Dieser Krieg ist eine Frage von Leben und Tod für die Ukraine, und wenn sie aufhört zu kämpfen, wird sie aufhören, als Land und als Volk zu existieren.
Ich schlug auch einen Protest gegen den Einmarsch in die Ukraine vor, und die Partei organisierte Proteste in verschiedenen Teilen Indiens. Wir waren die Einzigen, die das taten. Die Slogans verurteilten die russische Invasion in der Ukraine sowie die Beteiligung der USA und der NATO. Dennoch hielt ich die Situation für noch zu retten, weil die Leute mehr Zeit brauchten, um die Fakten zu erfahren, die sie vielleicht übersehen hatten. Was mir Hoffnung gab, war die Tatsache, dass die CPIML schon immer eine andere Position vertrat als die Kommunistische Partei (CPI) und die Kommunistische Partei (Marxistisch) (CPIM). Dies sind zwei große linke Parteien, die an der Zentralregierung beteiligt waren und derzeit die Macht in Kerala innehaben. Ihre Position ist offen pro-russisch, und sie benutzen nicht einmal das Wort «Invasion». Sie sagen nicht einmal, dass es sich um einen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine handelt, und die Ukraine wird kaum einmal erwähnt. Sie sehen diesen Konflikt so, als ob es sich um einen Konflikt zwischen Russland und der NATO handele. Seit langem sehen sie Russland und China als Herausforderer der US-Hegemonie und haben sich daher auf deren Seite gestellt. Die CPIML ist anders, also dachte ich, es ginge darum, mehr zu wissen.
Aber dann habe ich festgestellt, dass es einen enormen Widerstand gegen die Fakten gibt. In diesem Jahr erschien zum Beispiel ein Leitartikel in unserer Wochenzeitschrift, dem ich energisch widersprochen habe. Darin hieß es, Putin sei in ukrainische Gebiete einmarschiert, nachdem ein gewählter Präsident «gestürzt» worden sei, ein Wort, das mich an einen von den USA unterstützten Putsch erinnerte. Auf keinen Fall würden wir so etwas über das sagen, was kürzlich in Sri Lanka passiert ist. Das war ein Aufstand des Volkes gegen einen korrupten Präsidenten. In dem Leitartikel heißt es auch, dass 2014 unverhältnismäßig viele Nazis an der Maidan-Bewegung beteiligt gewesen seien. Natürlich gibt es in jedem europäischen Land Rechtsextreme, das ist richtig. Die Behauptung, der Maidan sei faschistisch gewesen, ist jedoch falsch, denn am Anfang stand ein muslimischer Journalist afghanischer Herkunft, der auf Facebook dazu aufrief, auf die Straße zu gehen, und zwar auf Russisch.[1] Und dann habe ich mich mit den Verantwortlichen der Partei getroffen, und sie sagten mir, dass es keine Möglichkeit gebe, die Fakten für 2014 zu ermitteln: «Alle Websites, denen wir vertrauen, sagen das.» Ich schlug vor, dass wir ukrainische Berichte lesen sollten, und wenn keiner Seite zu trauen sei, das zu lesen, was ukrainische Linke zu sagen haben. Ich habe immer wieder versucht, ihnen zu schicken, was ukrainische Linke geschrieben haben, zum Beispiel die offenen Briefe an Chomsky, in denen erklärt wird, wo er falsch liegt. Sechs Monate lang habe ich gekämpft.
Das heißt also, dass die Partei nicht auf Deine Bedenken eingegangen ist?
Aufgrund meiner Intervention hat die CPIML ihren Standpunkt geändert. Ich schrieb einen Artikel über Putins faschistisches Projekt, das von [Aleksandr] Dugin vertreten wird, und darüber, wie die Invasion der Ukraine in dieses Projekt passt. Der Artikel wurde in Liberation (der Zeitschrift der CPIML) veröffentlicht, aber er wurde nicht als Position der Partei übernommen. Mehrere ältere Mitglieder gaben zu, dass Putin und Dugin Faschisten sind. Die Position der CPIML lautet nun: «Wir geben der NATO keine Schuld an der Invasion und hoffen, dass es der Ukraine gelingen wird, ihre Souveränität zu verteidigen.» Sie betonten jedoch, dass die Partei die Ukraine nicht wie den Irak, Afghanistan und Vietnam unterstützen könne, da die Machtverhältnisse völlig anders seien und die Ukraine alle westlichen Länder auf ihrer Seite habe. Sie wollten die Menschen daran erinnern, dass die USA am meisten von diesem Krieg profitierten, während die Ukraine und Russland bluteten. Darauf habe ich geantwortet: «Natürlich bluten die russischen Soldaten, und das Land leidet, aber das liegt daran, dass das russische Regime einmarschiert ist, und es kann jederzeit aufhören zu bluten.» Man kann Russland und die Ukraine nicht gleichsetzen. Dieser Krieg ist eine Frage von Leben und Tod für die Ukraine, und wenn sie aufhört zu kämpfen, wird sie aufhören, als Land und als Volk zu existieren. Das wäre ein Völkermord. Wie kann man behaupten, dass die Ukrainer:innen nicht das Recht haben, von der NATO und den USA Waffen zu erhalten? Sie haben ein Recht darauf, Waffen zu verlangen. Es gab auch den Gedanken, dass so viel Sympathie für die Ukraine [aber nicht für den Irak oder Syrien] auf Rassismus zurückzuführen sei. Das stimmt, und wir hätten sagen sollen, dass auch das syrische Volk Waffen verdient, und wir hätten die Syrer:innen dann auch unterstützen sollen. Außerdem sind die Ukrainer:innen in Europa immer noch Rassismus ausgesetzt, obwohl sie weiß sind.
Der koloniale Charakter der Beziehungen Russlands zur Ukraine und Stalins bemerkenswerter Beitrag zur Industrialisierung wären ohne die Enteignung von Getreide und anderen Ressourcen aus der Ukraine und anderen Kolonien nicht möglich gewesen.
Auch die Reden Putins und die Frage, was er mit dieser Invasion bezweckt, wurden kaum analysiert. Den Teil über Lenin hat die Partei gerne analysiert, aber nicht andere wichtige Teile. Jede Zeile ist es wert, untersucht zu werden, um zu verstehen, wie er die Welt sieht und was er gleichgesinnten Führern und Regimen weltweit sagt.
Die Partei fühlte sich auch sehr beunruhigt, als ich auf Stalin, Völkermord, Holodomor und Massenmorde hinwies. Sie sagen, sie seien eine Partei, die Stalin kritisch gegenübersteht, aber sie sind sich einig, dass 70 Prozent seiner Taten gut waren. Selbst wenn man das vor 30 Jahren sagen konnte, ist es heute nicht mehr akzeptabel, denn es gibt eine immense Menge an Archivmaterial und Studien. Ich erklärte den kolonialen Charakter der Beziehungen Russlands zur Ukraine und dass Stalins bemerkenswerter Beitrag zur Industrialisierung ohne die Enteignung von Getreide und anderen Ressourcen aus der Ukraine und anderen Kolonien nicht möglich gewesen wäre. Sie waren nicht bereit, dies zu akzeptieren, und versprachen, diese Frage zu einem späteren Zeitpunkt zu erörtern, behaupteten jedoch, der Kampf gegen Modis Regime habe nationale Priorität. «Warum bist Du so besessen von der Ukraine und Stalin? Du verlierst den Blick für die Gegenwart.» Dem stimme ich nicht zu. Mir geht es um den Kampf gegen den Faschismus. Dennoch habe ich das Gefühl, dass sie zwar sehen, dass Modi Trump nahe steht, aber nicht die Beziehung zwischen Trump und Putin, die eine materielle Beziehung ist, nicht nur eine ideologische.
Ich habe gesagt, dass wir die schattenhaften Beziehungen, die die Faschisten unterhalten, genauer untersuchen müssen. Russland baut seine Beziehungen zu China und Israel aus, während Indien sich auch den Chinesen annähert. Offiziell gibt es einen Konflikt zwischen Modis Partei und China; es gibt eine Menge antichinesischer Rhetorik. Die USA hoffen in der Tat, Indien zur Eindämmung Chinas nutzen zu können. Die CPIML kritisiert China in einer sehr brüderlichen Art und Weise, als sei es ein sozialistisches Regime, das vom Weg abgekommen ist. Dem Regime geht es jedoch nicht um kommunistische Positionen, es ist autoritär. In diesem Sinne hat sich Modi viel von China, insbesondere dem Regime von Xi Jinping, abgeschaut und viele ähnliche Praktiken in Indien übernommen, einschließlich der Überwachungstechnologie, die gegen muslimische Minderheiten eingesetzt wird. Meine Genoss:innen haben diesen Punkt nicht verstanden und meinten, ich würde einfach alles in die Diskussion hineinziehen. Sie untersagten mir, öffentlich etwas zu diesen Themen zu schreiben. So kam es zum Bruch.
Obwohl die CPIML in ihrer Erklärung die Ukraine unterstützte, untergrub sie ihre Position, indem sie die von Putins Propaganda verwendeten Argumente übernahm. Auch sie fordert immer wieder Verhandlungen zur Beendigung des Krieges: Wenn den russischsprachigen Regionen mehr Autonomie eingeräumt wird, wird sich Putin zurückhalten. Putin hat jedoch erklärt, dass diese Regionen jetzt ein Teil Russlands sind. Wie kann man das einfach so akzeptieren? Der Faschist kann machen, was er will, und alle sind damit einverstanden? Was sind das für Verhandlungen? Ich kann mich an keine Verhandlungen mit George Bush erinnern, als er im Irak und in Afghanistan einmarschierte. Wenn die USA in ein anderes Land einmarschieren, gehen wir auf jedes Element ihrer Propaganda ein und entlarven rassistische und islamophobe Hetzparolen. Im Jahr 2003 war ich Redakteurin der Zeitschrift Liberation, und damals gab es kein Problem mit dieser nationalen Priorität. Jetzt droht Putin der Ukraine mit einem Atomangriff, bei dem Zivilist:innen getötet werden, und irgendwie schweigen wir alle dazu und zu der Gefahr, die von seiner Ideologie ausgeht.
Er zitiert wirklich faschistische Autoren wie Iwan Iljin. Das hat mich sehr gestört; das ist inakzeptabel.
Du hast gesagt, die Unterstützung Putins spiele Modi und der Bharatiya Janata Party (BJP) in die Hände. Warum ist das so?
Wenn wir im Kampf gegen Modis Regime die internationalen Beziehungen nicht in den Griff bekommen, wenn wir weiterhin so tun, als sei die Welt noch dieselbe wie vor 20 Jahren, dann machen wir einen großen Fehler, der sich auf die nationalen Kämpfe auswirkt. Es ist klar, dass Modi die Beziehungen zu den USA pflegt und umgekehrt. Hier sind allerlei zweifelhafte Interessen im Spiel, die des amerikanischen Imperialismus, die von Modis Vormachtstellung. Die besseren Teile der indischen Linken, die keine Putin-Fans sind, wie die CPIML, glauben, dass Modi die Beziehungen zu Russland und China nur pflegt, um mehr Verhandlungsmacht gegenüber den USA zu haben. Sie ignorieren jedoch Fakten wie Putins jüngste Rede über die Annexion ukrainischer Territorien. Er sieht die Multipolarität als Mittel zur Stärkung seiner Souveränität gegenüber der Unipolarität und dem Imperialismus der USA. Gleichzeitig sagte er, dass in Europa und den USA viele Gleichgesinnte in einer antikolonialen Bewegung gegen die unipolare Hegemonie kämpfen. Hier muss man genau hinschauen und zwischen den Zeilen lesen.
Jetzt droht Putin der Ukraine mit einem Atomangriff, bei dem Zivilisten getötet werden, und irgendwie schweigen wir alle darüber und über die Gefahr, die von seiner Ideologie ausgeht.
Putin sagt, dass in Ländern, in denen Multikulturalismus als selbstverständlich angesehen wird, die Menschen für eine weiße, auf der Idee rassischer Überlegenheit aufbauende Version dieser Länder kämpfen. Man muss die Verbindung zwischen seinen Worten und den Worten von Steve Bannon, Donald Trump, Marine Le Pen herstellen… Wenn er von Multipolarität spricht, sagt er, dass die meisten Länder sich von westlichen Menschenrechtsstandards befreien wollen. Nehmen wir an, man sagt, man könne nicht in ein Land einmarschieren, Zivilisten massakrieren oder Minderheiten in Konzentrationslager stecken (wie in China). In diesem Fall [so Putins Argument] würde man den meisten Ländern eine westliche hegemoniale Weltsicht aufzwingen. In einer gemeinsamen Erklärung vom 4. Februar erklärten Xi Jinping und Wladimir Putin, dass es bei der Einführung von Demokratie keine «Einheitsgröße» gebe und es jedem Land freistehe, die Demokratie nach seinen eigenen Vorstellungen zu interpretieren. Demokratie und Menschenrechte sind keine allgemeingültigen Werte, weshalb sie sich das Recht herausnehmen, sie durch das Prisma der Geschichte ihres Landes zu interpretieren. Solange man also behauptet, dass man von der Bevölkerung unterstützt wird, sollte alles, was man tut, als demokratisch angesehen werden, und es besteht keine Notwendigkeit, sich an internationale Standards zu halten.
Wir können diese Äußerungen mit denen der Regierung Modi vergleichen, z. B. mit denen von Amit Shah [Innenminister, ehemaliger Vorsitzender der BJP], der Modis rechte Hand ist und der Ermordung eines Häftlings und anderer Dinge beschuldigt wurde. Er sagt, dass westliche Standards für Indien nicht gelten; die Menschenrechte sollen eine indische Perspektive haben. Sie teilen also die Vorstellung, dass die Länder, die historische zivilisatorische Imperien sind, die Welt neu ordnen müssen, damit sie die Kontrolle haben und so herrschen können, wie es ihnen gefällt. Wenn man sich gegen Menschenrechtsverletzungen in Indien, gegen die Polizeigewalt und die Misshandlung nationaler Minderheiten in Kaschmir oder im Nordosten ausspricht, wird man sofort als Agent:in des Westens bezeichnet. Aus diesem Grund wurden Menschenrechtsaktivist:innen in Indien unter dem Antiterrorismusgesetz verhaftet und auf unbestimmte Zeit inhaftiert.
Es gibt auch eine ideologische Beziehung zwischen Dugin und indischen Faschisten. Dugin hat Indien viele Male besucht. Dugins Verlag Arktos Media hat auch Sri Dharma Pravartaka Acharya veröffentlicht, der behauptet, ein hinduistischer Gottesmann zu sein. Dieser Mann schreibt, dass die Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS)[2], der der Premierminister angehört, noch weiter rechts stehen müsse, als sie es ohnehin schon tut. Er hat das Dharma-Manifest geschrieben, und «Dharma» ist ein Wort, das in seiner Bedeutung verfälscht wurde, so dass es eine hinduistische, rassistische Konnotation hat. Im ersten Satz ruft er dazu auf, verschiedene Menschen aufgrund ihrer Identität und Ideologie zu vernichten.
«Wenn man sich gegen Menschenrechtsverletzungen in Indien, gegen die Gewalt in den Gefängnissen und gegen die Misshandlung nationaler Minderheiten in Kaschmir ausspricht […], wird sofort gesagt, dass diese Person ein:e Agent:in des Westens ist.»
Im Jahr 2012, noch bevor Modi an die Macht kam, besuchte Dugin Delhi. Er sagte, wir müssten strategische Allianzen bilden, um die gegenwärtige Ordnung der Dinge zu stürzen, die auf den Menschenrechten, der Anti-Hierarchie und der politischen Korrektheit (in Indien bedeutet dies jede Opposition zum Kastensystem) beruht. Diese sind, wie er sagt, das Gesicht des Tieres, des Antichristen oder des Kali Yuga. Letzteres ist in der Mythologie ein imaginäres Zeitalter, in dem alle Hierarchien auf den Kopf gestellt werden. Das Kali Yuga wird im Mahabharata[3] als eine Situation beschrieben, in der die Kasten, die eigentlich herrschen sollten, zu unterwürfigen Kasten werden und umgekehrt. Man kann das mit Putins Aussage vergleichen, dass westliche Liberale und Ukrainer:innen Satanist:innen sind, weil sie LGBTQ+-Rechte unterstützen. Dieses Gerede ist faschistisch.
In einem anderen Zitat aus dem Jahr 2019, nach Modis zweitem Wahlsieg, sagt Dugin: «In den letzten Jahrzehnten haben wir einen spektakulären Aufschwung rund um die Frage der Identität beobachtet, mit dem nachdrücklichen Anspruch, Indiens kulturelle, religiöse und geopolitische Größe wiederherzustellen. Dies führte zum Wahlerfolg von Narendra Modi.» Er bezieht sich immer wieder auf die indische Identität, womit er die hinduistische Identität der rassistischen Überlegenheit meint: «Die spektakulär wachsende indische Identität, die auf einem Wertesystem basiert, ist völlig unvereinbar mit dem westlichen Liberalismus […] Die multipolare Weltordnung, die auf dem Prinzip der Pluralität der Zivilisationen beruht und sich gegen die falsche Anmaßung der so genannten ‹Universalität› der ‹westlichen Werte› und der ‹Unvermeidlichkeit› des westlichen Weges des Fortschritts und der Entwicklung wendet, entspricht viel besser der indischen Auffassung von einer Wiedergeburt des Landes auf den Grundlagen der Tradition.[…] Die Multipolarität befürwortet also eine Rückkehr zu den zivilisatorischen Grundlagen jeder nicht-westlichen Zivilisation […] und eine Ablehnung der liberalen Demokratie und der Menschenrechtsideologie.» Dies ist ein Artikel, der über Modi geschrieben wurde. Meine Frage ist: Warum schauen sie darüber hinweg? Die indische Linke hatte kein Problem damit, zu erkennen, dass der [norwegische] Terrorist Breivik mit der rassistischen Hindu-Überlegenheitsideologie in Verbindung stand, warum ist es also so schwer zu erkennen, dass Dugin, Putin, Modi, Bolsanaro und andere dieselbe Sprache verwenden? Modi hat wiederholt gesagt, dass die Menschenrechte eine westliche Idee sind; in der traditionellen indischen Kultur hat der Begriff der Menschenrechte angeblich eine andere Bedeutung.
Es ist ein Fehler, die ganze Bedeutung von Modis Enthaltung von Resolutionen [bei der UNO] zu ignorieren, nicht nur zu Russlands Invasion in der Ukraine, sondern auch zu Chinas Verletzung der Rechte der Uigur:innen. Er tut das, weil er mit den Muslim:innen in Indien dasselbe machen will, mit demselben Argument, das China vorbringt. Er weiß, dass China das völkermordende Militärregime in Myanmar finanziert, und er fühlt sich mit all dem wohl. Die Fähigkeit, zwei Ideen gleichzeitig im Kopf zu haben, ist wesentlich. Man sollte also versuchen zu verstehen, dass das Modi-Regime zwar gemeinsame Interessen mit den USA hat, aber auch gemeinsame Interessen mit globalen Faschisten.
Teil 2
In diesem Teil ihres Interviews erklärt Kavita Krishnan, indische feministische Aktivistin, Marxistin und Redakteurin, warum Inder:innen Russland nicht als Imperium sehen, verbindet den Kampf gegen die russische Aggression mit feministischen Bewegungen und besteht auf Universalismus im Kampf gegen Unterdrückung. (Red./he)
Du hast beschrieben, wie Putin versucht, sich als Führer der unterdrückten Nationen darzustellen, er hat von der «goldenen Milliarde» und der unterdrückerischen westlichen liberalen Ideologie gesprochen. Warum vertrauen die Menschen in Indien diesem Diskurs, ungeachtet der offensichtlichen Widersprüche (Putin ist der Führer eines ehemaligen Imperiums, und er war es, der den Krieg gegen die ehemalige Sowjetrepublik begonnen hat)? Was könnte ihre Einstellung ändern?
Ein wichtiger Grund ist, dass Russland in Indien nicht als Imperium angesehen wird, nicht einmal von der Linken. Ich habe das erst vor fünf oder sechs Jahren verstanden. Ich habe vielleicht verstanden, dass das zaristische Russland ein Imperium war, aber nicht die Sowjetunion. Die Tatsache, dass Russland koloniale Beziehungen zu anderen Nationalitäten unterhielt und immer noch unterhält, ist nicht offensichtlich.
Der zweite Grund ist, dass Indien eine enge materielle und emotionale Beziehung zur Sowjetunion hatte. In Indien haben wir «Soviet Sangh» (Sowjetunion) und «Soviet Rus» (Sowjetrussland) austauschbar verwendet. So wird die UdSSR als Russland gesehen, und die Ukraine, Weißrussland, Kasachstan usw. werden als Satelliten oder Anhängsel des eigentlichen Landes betrachtet. Der Ort, aus dem ich zu Ihnen spreche, meine Heimatstadt Bhilai, ist eine Stadt der Stahlproduktion. Das Werk wurde in Zusammenarbeit mit der UdSSR errichtet. Als ich ein Kind war, gab es eine ganze Kolonie, die «russische Kolonie» genannt wurde. In der Stadt gab es ein Gebäude mit einer Metallkuppel, das für verschiedene Ausstellungen genutzt wurde. Alle paar Monate fand dort eine sowjetische Buchmesse statt. Dort gab es schöne und erschwingliche Bücher, von denen ich noch einige besitze. Nach der Invasion kramte ich wieder in den Büchern und versuchte herauszufinden, wie die Ukraine in diesen Publikationen dargestellt wurde. Sie wurde als ein Land mit farbenfrohen ethnischen Kostümen dargestellt. Die meisten Inder:innen haben nostalgische Erinnerungen an diese Buchmessen. Daher überrascht es mich nicht, dass Russland in der indischen Vorstellung ein Land mit freundlicher Präsenz ist. Es gab Filme, die mit russischer Beteiligung gedreht wurden, und es gab Lieder, in denen Russland mit großer Zuneigung erwähnt wurde. Es gibt etwas, das mein Freund als «Russlandromantik» in Indien bezeichnet.
Um ihre Meinung zu ändern, müssen die Inder:innen erkennen, dass die Ukraine eine Kolonie war, so wie Indien eine Kolonie Großbritanniens war.
Das macht es schwierig, Russland als eine sich historisch verändernde politische Einheit mit anderen Regeln, Ideologien und Prioritäten zu sehen. Aufgrund all der sowjetischen Hilfe für Indien ist es schwierig zu erkennen, dass es neben einer gutartigen Präsenz auch viele unterdrückerische Elemente gab. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sollte man Russland gegenüber nicht einmal aus Versehen romantisch sein, doch viele Inder:innen konnten nicht erkennen, wofür Putin steht. Diejenigen, die sich wünschen, dass Modi das mythische «Großindien» wiederherstellt, wünschen sich vielleicht auch, dass Putin «Großrussland» wiederherstellt. Kurz nach der Invasion konnte man Plakate mit der Aufschrift «Heil Putin! Er wird Großrussland wiederherstellen» sehen, die von der gleichen Organisation angebracht wurden, die auch die Torten für Donald Trumps Geburtstag anschnitt.
Um ihre Meinung zu ändern, müssen die Inder:innen erkennen, dass die Ukraine eine Kolonie war, so wie Indien eine Kolonie Großbritanniens war. Russland hatte weiterhin eine erhebliche militärische Präsenz und war ein «großer Bruder» im Hindi-Sinne, was «ein Tyrann» bedeutet. [Anmerkung: «Dada» bedeutet «großer Bruder» auf Hindi, und die Art des Tyrannisierens durch den großen Bruder ist «dadagiri»]. Russland hat seine Nachbarn, die ehemaligen Sowjetrepubliken, terrorisiert. Es hat entweder Klientelregime installiert oder es hat versucht, irgendwann einzumarschieren, insbesondere unter Putin. Die Ukraine ist für Russland als Imperium von historischer Bedeutung, und sie ist jetzt das größte Hindernis für Putins faschistische Pläne. Wenn er diesen Krieg gewinnt, ist das ein Sieg für Faschisten überall. Wir müssen aufhören, die Welt durch die Einteilung zu betrachten, wer für die USA ist und wer gegen sie ist. Wir können nicht einfach davon ausgehen, dass jeder, der gegen die USA ist, unser Freund oder das geringere Übel ist. Diese faschistischen Kräfte in den verschiedenen Ländern sind miteinander verbunden, und ein einziger Sieg ist ein Sieg für alle von ihnen. Es ist frustrierend, dass die Gruppe, die diese beträchtliche Anstrengung unternehmen könnte, um dies zu erklären, der bessere Teil der Linken in Indien, an beschwichtigenden, mythischen und zutiefst schädlichen Narrativen festhält.
Du warst eine prominente Kämpferin für die Rechte der Frauen. Warum ist eine Haltung gegen die russische Aggression für die Kämpfe der Frauen so wichtig?
Ich versuche immer wieder, meine feministischen Freundinnen in Indien und anderen Ländern auf dieses Thema aufmerksam zu machen. Leider scheinen die meisten von ihnen verschiedene Illusionen über den Krieg zu haben. Die wenigsten von ihnen haben verstanden, was Putins Faschismus bedeutet, und so geht es bei ihnen immer noch darum, dass Krieg etwas Schlechtes ist, und dass sie es ablehnen, der Ukraine westliche Waffen zu geben. Sie sagen: «Die Ukraine hat ein Recht auf Souveränität und Selbstverteidigung, aber wir sollten nicht zulassen, dass die USA davon profitieren.» Es gab eine feministische Antikriegserklärung mit einer ähnlichen Argumentation, die ich nicht unterschreiben wollte und wegen der ich mehrere Freund:innen verloren habe. Es gab also eine Position der formalen Unterstützung für die Ukraine – aber es gab keine Erwähnung von Putins Art des Faschismus und seiner Bedeutung für die feministische Bewegung in Russland, der Ukraine und international.
Ich fordere meine Freund:innen auf, RT [Russia Today, der staatlich geförderte Fernsehsender] zu besuchen und nach «Feminismus», «LGBTQ» oder «Frauenrechten» zu suchen. Das sollte ihnen die Augen öffnen. Es gibt Hunderte von Nachrichten, in denen gesagt wird, dass «Schwulsein oder Transsexualität Satanismus ist», die Familienwerte verdirbt, «Gender nicht existiert», usw. Wer gegen das Patriarchat oder Homophobie kämpft, ist in Putins Russland ein:e Satanist:in.
Ich habe mir Teile des russischen Fernsehens angesehen und war entsetzt, dass es sich weder um eine Parodie noch um Satire handelt, dass dieses völkermörderische faschistische Gerede so offen zur Hauptsendezeit gezeigt wird.
Das indische Fernsehen ist ein absoluter Alptraum, so faschistisch wie es nur sein kann. Die Amerikaner schimpfen immer über Fox News, aber das ist ein Witz im Vergleich zu dem, was wir ertragen müssen. Ich habe aufgehört, im indischen Fernsehen aufzutreten, weil sie mich als Bösewicht benutzen. Ich würde es nicht glauben, wenn jemand sagen würde, dass irgendein Fernsehen noch schlimmer sei. Aber dann habe ich mir Teile des russischen Fernsehens angeschaut und war entsetzt, dass es weder eine Parodie noch eine Satire ist, dass dieses völkermörderische faschistische Gerede so offen zur Hauptsendezeit gezeigt wird. Ein Grundpfeiler der faschistischen Ideologie in Russland ist der Appell an homophobe und patriarchalische Werte, der besagt, dass wir uns im Kali Yuga befinden oder das Zeitalter des Antichristen angebrochen ist. Es heißt, dass es eine natürliche Art und Weise gibt, wie Beziehungen zwischen Männern und Frauen sein sollten, und dass wir zu dieser Zeit zurückkehren müssen. In Indien gibt es eine subtilere Version dieses Narrativs, denn der indische Faschismus ist erfahren und hat gelernt, sich hinter Rhetorik zu verstecken.
Hinduistische Vordenker sagen jedoch, dass Frauen nach den Hindu-Schriften nicht frei sein dürfen. Frauen haben durch die Mutterschaft eine große Macht, die zerstörerisch wird, wenn sie nicht kontrolliert wird. Deshalb müssen Frauen von ihren Ehemännern, Söhnen und Vätern kontrolliert werden. Wenn sie Männerarbeit machen, werden sie dämonisch, also sollten sie das tun, was ihrer Natur als Frau entspricht. Es handelt sich um einen Teil der Kastenideologie mit einer Beschreibung von Hierarchien. Diese Führer beziehen sich auf die Manusmṛiti[4] und wollen, dass die Verfassung auf diesem Text basiert. Dieser Text hat in seiner ideologischen und politischen Verwendung viel mehr Bedeutung erlangt, ist aber für viele Hindus kein Text des täglichen Gebrauchs. Er besagt, dass die Kaste die Natur bestimmt und dass es die Pflicht des Einzelnen ist, entsprechend seiner Kaste und seinem Geschlecht zu handeln. Es ist zutiefst antifeministisch, denn das Kastensystem wird durch Endogamie [Heirat nur innerhalb der Kaste] und strenge Regeln aufrechterhalten. Heiratet eine Frau der oberen Kaste einen Mann der Unberührbaren oder einer niedrigeren Kaste, wird dies als Verletzung des sozialen Körpers betrachtet. Die Manusmṛiti schreibt für diese Tat die Strafe vor, und das ist der Tod. Manchmal verüben sogar diejenigen, die diesen Text nicht gelesen haben, diese Art von Tötung, um das Kastensystem aufrechtzuerhalten. Wenn der einflussreiche russische Faschist Alexander Dugin sagt, dass wir das «Kali Yuga» (der hinduistische Begriff für die Umwälzung der Kasten- und Geschlechterhierarchien) bekämpfen und alle «Anti-Hierarchie»-Ideologien bekämpfen müssen, übernimmt er damit einen zentralen Grundsatz des hinduistischen Faschismus und integriert ihn in den globalen Faschismus.
Feministinnen in Indien stellen das Kastenpatriarchat infrage. Gemeinsam mit Anti-Kasten-Aktivist:innen veranstalten sie Proteste, verbrennen symbolisch die Manusmṛiti und fordern Schutz für interreligiöse und kastenübergreifende Paare. Diese Art von Aktivismus wird jetzt auch als anti-indisch angesehen. Die Hinduist:innen bekämpfen diese Art von Aktivismus in anderen Teilen der Welt, zum Beispiel im Großbritannien. Sie versuchen, jede Gesetzgebung zu verhindern, die Kastendiskriminierung verbieten würde. Wenn Menschen aus Indien in andere Länder gehen, nehmen sie ihre Kaste mit, die dort reproduziert wird. Es gibt viele Beispiele für Kastendiskriminierung, wie z. B. Ärzt:innen indischer Herkunft, die sich weigerten, jemanden aus der Kaste der Unberührbaren zu behandeln. Hinduist:innen sagen, dass Antidiskriminierungsaktivismus «hinduphobisch» sei. Aber sie sind schlauer als andere Faschisten, denn sie unterstellen, dass sie es sind, die eigentlich feministisch sind, während die wahren Antifeministen die Muslime sind. Viele Hindu-Frauen tappen in diese Falle, weil niemand gerne das Patriarchat in ihren Gemeinschaften unter die Lupe nimmt. Als Shah sagte, dass die westlichen Standards in Indien nicht gelten, behauptete er auch, dass indische Familien auf der Grundlage von Menschenrechten funktionieren. Die indischen Rechte gewährleisteten den Schutz von Frauen und Kindern. Das ist alles Blödsinn. Es gibt kein einziges indisches Dorf, in dem die Räume nicht in Form von Apartheid auf der Grundlage von Kasten aufgeteilt sind. Auch in indischen Familien gibt es viel Gewalt.
Jedes Land, das gegen die Besatzung kämpft, sollte unterstützt werden, unabhängig davon, welche Art von Regierung es gibt und wofür sie kritisiert werden kann.
Der Faschismus hat eine starke antifeministische Agenda. Der russische Faschismus muss wegen der enormen Geldsummen, über die er verfügt, ernst genommen werden. Auch in Indien gibt es einige der reichsten Kapitalisten der Welt, persönliche Bankiers und Geldgeber von Modi. Allerdings sind sie im Vergleich zu Putins Fähigkeiten in Sachen Geld und Propaganda unterlegen. Zwar gibt es auch in den USA extrem mächtige Oligarchen, aber das ist etwas anderes, denn sie sind nicht die direkten Instrumente des Staates. Nehmen wir als Beispiel RT, ein offizieller russischer Sender, der die extreme Rechte auf der ganzen Welt bedient. Putins Regime finanziert auch einige rechtsextreme Organisationen in Europa und den USA. Möglicherweise tun sie das auch in Indien.
Die postkoloniale Theorie hat keine Mühen gescheut, den westlichen logozentrischen Diskurs mit seiner Ausgrenzung des Anderen (seien es Indigene, Frauen, LGBTQ, Analphabet:innen usw.) anzuprangern. Mit der Behauptung, dass universelle Werte notwendigerweise westlich sind, scheinen diese einflussreichen linken Theoretiker:innen gleichzeitig jeden Universalismus verworfen zu haben. Das Einzige, was übrig geblieben ist, ist die Idee der Multipolarität… Glaubst Du, dass eine Art von Universalismus in den Kämpfen gegen Unterdrückung notwendig ist?
Ja, sehr sogar. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Verwerfen des Universalismus und dem ständigen Hinterfragen des Universalismus. Man kann überprüfen, ob die eigene Darstellung des Universalismus einen Teil der Bevölkerung auslässt oder blind für bestimmte Beziehungen ist. Der Universalismus kann blind für die Geschichte des Kolonialismus sein, und das kann man zum Beispiel in Frankreich sehr oft beobachten.
Im Namen universeller Theorien besteht man darauf, dass die französischen Definitionen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nichts mit dem Kolonialismus zu tun haben. Wenn man auch nur andeutet, dass das Hidschab-Verbot in Frankreich rassistisch ist, wird dies sofort als Unsinn bezeichnet, und es wird darauf bestanden, dass die französischen Werte universell sind. Es wäre hilfreich, wenn man den Universalismus hinterfragen würde, der eurozentrisch, amerikazentrisch oder blind gegenüber strukturellen Formen der Unterdrückung und Ausbeutung ist. Diejenigen, die von Kolonialismus, Patriarchat und Rassismus betroffen waren, kommen jedoch erst heute zu Wort und sagen, dass sie in die universellen Werte einbezogen werden müssen. Und wenn jemand sagt, dass Universalismus in diesem Zusammenhang schlecht ist, dann gibt es ein großes Problem. Diese Werte sind nicht schlecht; der ganze Punkt ist, dass sie als universell bezeichnet wurden, als sie noch nicht universell genug waren.
Man kann nicht sagen: «Es sollte kein allgemeines Wahlrecht für Erwachsene geben, weil es nie universell war», man muss das Gegenteil sagen: «Wir müssen für das Wahlrecht kämpfen, um sicherzustellen, dass jeder wählen darf.» Wenn man etwas kritisiert, weil es koloniale und unterdrückerische Ursprünge hat, bedeutet das nicht, dass man es einfach aus dem Fenster werfen kann. Natürlich sollte man vor jedem auf der Hut sein, der sagt, dass wir uns nicht an die Demokratie halten müssen und nicht glauben sollen, dass alle Menschen gleich sind, oder der sagt, dass soziale Hierarchien eine gute Sache sind, wie es Dugin, Putin, Modi und andere tun. Xi hält auch viele Reden gegen den Universalismus und argumentiert, dass universelle Werte für den Zerfall der Sowjetunion, die drastischen Veränderungen in Osteuropa, die farbigen Revolutionen und den Arabischen Frühling verantwortlich waren. Dann behauptet er, dass es einige universelle Werte für die Menschheit gibt, die aber von jeder Zivilisation anders interpretiert werden können.
Nehmen wir an, du bist ein:e Muslim:in in Indien, deren/dessen Leben in Gefahr ist, weil Hinduist:innen die konstitutionelle Demokratie in kürzester Zeit in ein autoritäres Regime verwandeln. Wirst du nicht hoffen, dass jemand in der Welt zu deiner Rettung kommen wird? Was auch immer getan werden muss, um dein Leben vor einem Völkermord zu retten, du wirst es begrüßen. Wie kann ausgerechnet die Linke von nationaler Souveränität sprechen und sie als Recht interpretieren, Menschen innerhalb der Grenzen ohne internationale Einmischung zu unterdrücken? Es ist eine Sache, internationale Institutionen wie die UNO zu kritisieren, weil sie mit zweierlei Maß messen (für die USA, Israel usw.), aber eine ganz andere, zu sagen, dass alle universalen Standards und Institutionen wie die UNO illegitim sind.
Lenin hat keinen Imperialismus dem anderen vorgezogen.
Mit der Postmoderne kommt die Leugnung jeglicher überprüfbaren Fakten. Und das kommt den Faschisten und autoritären Führern zugute. An diesem Punkt nutzen Hindu-Rassist:innen die dekoloniale Theorie als Appell, um sich zu relegitimieren und zu behaupten, ihre Politik sei antiimperialistisch. Das größte Problem des Kolonialismus-Diskurses ist, dass er sich immer auf eine bestimmte Nation als Opfer bezieht. Innerhalb dieser Nationen gibt es jedoch zahlreiche Kämpfe. Der Marxismus hat sich klar zu seinem Internationalismus bekannt und glaubt an die Vereinigung der Arbeiterklassen verschiedener Länder gegen die unterdrückenden Herrscher. Wir als linke Bewegung müssen an diesen Grundlagen festhalten. Jedes Land, das gegen die Besatzung kämpft, sollte unterstützt werden, unabhängig davon, welche Art von Regierung es gibt und was sie tut.
Das ist eine wichtige Mahnung für die Linke, vor allem, weil sie gerne sagt, dass [der ukrainische Präsident Wolodymyr] Selenskyj ein neoliberaler Präsident ist, der die Arbeitnehmer:innenrechte abbaut. Das ist wahr, aber dagegen müssen die ukrainischen Linken kämpfen. Aber das alles nur, wenn sie überleben – denn die Ukrainer:innen können einfach vom Erdboden getilgt werden; schaut Euch an, was Ramsan Kadyrow [Oberhaupt der Tschetschenischen Republik und Anführer der russischen Miliz in der Ukraine] und andere Propagandisten sagen. Es gibt Prioritäten.
Der Generalsekretär unserer Partei schrieb in einem Artikel eine Antwort auf die von mir aufgeworfenen Fragen: «Ungeachtet des internen Charakters der konkurrierenden globalen Mächte ist eine multipolare Welt für fortschrittliche Kräfte und Bewegungen weltweit in ihrem Streben nach einer Umkehrung der neuen neoliberalen Politik, nach sozialer Transformation und politischem Fortschritt sicherlich vorteilhafter.» Er sagt, dass es keine Rolle spielt, ob diese Mächte demokratisch oder faschistisch sind. China mag autoritär sein, und Russland mag faschistisch sein, aber ihre Existenz als multipolare Herausforderung für die USA ist gut. Daher kann jede Unterstützung, die wir gegen diese multipolaren Mächte leisten, das Gleichgewicht stören und den USA zugutekommen. Wir sollten also unsere Solidarität mit der Ukraine nicht übereifrig zeigen, weil sie auf der Seite der USA oder des Westens steht. Das ist ein sehr gefährliches Argument, denn es überschneidet sich mit der Berufung auf eine Weltordnung, die auf einer antidemokratischen Multipolarität durch autoritäre Führer wie Putin und Xi basiert. Die Linke sollte erkennen, dass die Sprache der Multipolarität auf diese Weise nicht mehr verwendet werden kann.
Die Sprache der Polarität gehört im Allgemeinen zur realistischen Schule, und das ist eine kapitalistische Schule des Verständnisses der Weltordnung. Ihr zufolge haben die Länder nationale Interessen und konkurrieren auf der Grundlage dieser Interessen. Das bedeutet, dass die Geschichte der Welt nur eine Geschichte der Großmächte und ihres Wettbewerbs ist. Das ist keine leninistische Idee. Es gibt Leute, die sagen mir: «Hast du Lenins Theorie des Imperialismus nicht gelesen?» Ich glaube nicht, dass sie sie gelesen haben. Lenin hat keinen Imperialismus gegenüber dem anderen bevorzugt. Die heute vorherrschende Definition von Multipolarität ist nicht nur nicht marxistisch und nicht leninistisch, sie ist geradezu faschistisch.
Selbst wenn man einige Führer nicht mag, zwingt uns der Moment, diejenigen von ihnen zu schätzen, die nicht faschistisch sind. In Indien müssen wir uns mit Parteien zusammentun, die wir nie zu unterstützen gedacht hätten, denn angesichts der enormen Gefahr ist Einigkeit gefragt. Die Linke stand der indischen Demokratie schon vor 2014 kritisch gegenüber, aber zumindest hätten diese Führer für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht werden können. Wenn man diesen Ansatz im Zusammenhang mit Indien verstehen kann, sollte er auch für globale Angelegenheiten anerkannt werden.
Referenzen
Das Interview erschien ursprünglich im Onlinemagazin Posle (Teil 1/ Teil 2). Übersetzung aus dem Englischen: Harald Etzbach
Bildquelle:
[1] Gemeint ist Mustafa Najjem, ein ukrainischer Parlamentsabgeordneter und Journalist afghanischer Herkunft, der im November 2013 auf Facebook zu Protesten auf dem Maidan aufrief [A.d.Ü].
[2] Eine hindunationalistische paramilitärische Organisation [A.d.Ü.]
[3] Altindisches Epos, zugleich ein religiöses und philosophisches Werk, in dem die Grundlinien hinduistischer Ethik formuliert werden [A.d.Ü.].
[4] «Gesetzbuch des Manu», ein altindischer Rechtstext, in dem Normen für das soziale und politische Leben aus Sicht der Brahmanenkaste formuliert werden [A.d.Ü.].