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Zur Aktualität von Rudolf Bahros ‘Alternative’
Es sind also, wie Marx nachgewiesen hat, die eigenen Entwicklungstendenzen der Kapitalherrschaft, die auf einer gewissen Stufe ihrer Reife den Übergang zu einer planmäßigen, von der gesamten arbeitenden Gesellschaft bewußt organisierten Wirtschaftsweise notwendig machen, wenn die gesamte Gesellschaft und die menschliche Kultur nicht […] ihren Untergang finden soll.
Rosa Luxemburg
Die allgemeine Emanzipation ist heute die absolute Notwendigkeit, weil wir in dem blinden Spiel der subalternen Egoismen […] immer schneller dem Punkt zueilen, von dem es keine Wiederkehr im guten mehr gibt. Das muß man wissen, ehe man fragt wie sie möglich ist.
Rudolf Bahro
Die derzeitige Energiepreiskrise verdeutlicht einmal mehr, was sich zuletzt in der Pandemie und längst in der ökologischen Krise bewiesen haben sollte: Der Markt ist unfähig die gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Die Gesellschaftsordnung der Profitmaximierung, die auf dem Privateigentum fußt, stößt augenscheinlich an ihre Grenzen.
Um die ‘Energiesicherheit nicht zu gefährden’, mussten Energieriesen wie Uniper oder SEFE unter staatliche Fittiche gestellt werden. Diese Verstaatlichungen sind jedoch nur Rettungsmaßnahmen durch treuhänderische Verwaltung bei maximalem Schutz der Aktionär:innen. Die Geschäfte werden jedoch weitgehend weiter geführt wie zuvor. Spätestens wenn es zu Energieengpässen käme, läge allerdings die Frage nach gesellschaftlicher oder zumindest staatlich gelenkter Energieverteilung auf dem Tisch. Sollen massenhaft Wohnzimmer auskühlen oder doch lieber private Pools kühl bleiben? Um wie viel Grad können in Schulen und öffentlichen Einrichtungen die Raumtemperaturen abgesenkt werden, während parallel Leuchtreklame, Wegwerfverpackungen und SUV-Panzer unglaubliche Energieverschwendungen manifestieren? Wer hier zukunftsfähige Antworten entwickeln will, deren Kosten nicht auf dem Rücken der Lohnabhängigen abgewälzt werden sollen, kommt um den Begriff der Planung nicht herum. Zumal in Zeiten der sich zuspitzenden Klimakatastrophe. Eigentlich müsste auch unabhängig von der gegenwärtigen Energiekrise längst die Frage im Raum stehen, wie beim aktuellen Stand der Produktivkraftentwicklung ein gutes Leben für alle möglich sein könnte, ohne die planetaren Belastungsgrenzen zu überschreiten. Auch bei dieser – auf lange Sicht unendlich wichtigeren Frage – kann man keine wirklich nachhaltigen Aussagen fällen ohne über rationale Planung zu sprechen und die damit einhergehende Eigentumsfrage aufzuwerfen.
Ökologische Sofortmaßnahmen wie strikte Tempolimits und eine bessere Verkehrsinfrastruktur jenseits des PKW sind zwingend geboten und scheitern an Lobbyinteressen und Behäbigkeit, nicht an den Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise. Nur reichen diese und vergleichbare Maßnahmen längst nicht mehr aus um die Energiepreiskrise zu lösen, geschweige denn einen ökologischen Kollaps zu verhindern. Eine Programmatik, die letzteres leisten will, kommt dagegen sehr schnell an die Grenzen der bestehenden Gesellschafts- sprich Eigentumsordnung. Bereits ein Verbot unnütze Werbung oder SUVs zu produzieren – eigentlich ein Gebot der Stunde – hätte ernsthafte Folgen für Wirtschaftsdynamik und Wettbewerbsfähigkeit. Wie sähe es erst aus wollte man ganze Industrien um- und rückbauen? Rohstoffe und Vorprodukte etwa müssten unbedingt für die Energie- speziell die Wärmewende vorgehalten werden. Anstelle Halbleiter in Autos, insbesondere Elektroautos zu verbauen, müssten diese zwingend für die Produktion von Wärmepumpen, Wechselrichtern für Solarenergie und dergleichen mehr vorbehalten werden. Auch eine Umstellung von Benzinpumpen auf Pumpen für Kühlmittel wäre technisch möglich. Aber der Markt wird diesen Umbau nicht richten. Warum nicht?
In unserer Gesellschaft, der kapitalistischen Produktionsweise, werden die Gebrauchsgegenstände nicht produziert, weil sie nützlich sind, sondern nur, insofern sie Träger von Wert sind. Nicht die Herstellung sinnvoller und bedürfnisbefriedigender Gegenstände in ausreichender Zahl ist Sinn und Zweck der Produktion, sondern die Verwertung von Wert, die Akkumulation von Kapital.[1] Die Profite von heute sind dabei die Produktionskapazitäten von morgen. Wenn das Kapital nicht aufs Ganze geht, dann wird es in der Konkurrenz auf dem Markt nicht bestehen können und über kurz oder lang untergehen. Dieser Wachstumszwang kollidiert vor unseren Augen mit den Lebensgrundlagen der Menschheit. Ökologische Sofortmaßnahmen oder eine rein technologische Transformation werden diesen Widerspruch nicht in den Griff bekommen und sind deshalb unzureichend. Auch ein noch so starker Staat kann das Problem nicht dauerhaft handhaben, denn der destruktive Wachstumszwang steckt konstitutiv im Kapital und damit letztlich in Geld, Wert und Ware. Die eigentliche Lösung dieses Problems kann, um mit Marx zu sprechen, nur noch darin bestehen, dass „der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln [und] unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden“ (MEW 25, 828). Die privaten Eigentumstitel, der Privatbesitz an den Produktionsmitteln, stehen dem entgegen. Erst eine gemeineigentumbasierte Gesellschaft würde es ermöglichen, dass die kollektiven Produktionsmittel als Werkzeuge der freien und assoziierten Individuen dienen, um gemeinschaftlich erstellte Pläne für ein gutes Leben im Rahmen der planetaren Belastungsgrenzen umzusetzen.
Um die Perspektive gemeinschaftlichen Eigentums nicht nur abstrakt zu postulieren und als Monstranz vor sich herzutragen, gilt es diese mit Kämpfen und Leben zu füllen. „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ und ebenso „RWE & Co. enteignen“ sind hier sehr inspirierend. Nur in konkreten Kampagnen und Auseinandersetzungen lässt sich darstellen und bestenfalls erfahren, dass die Menschen in einer sozialökologischen Umwälzung viel zu gewinnen hätten: Gesundheit, Sicherheit, gute Ernährung, saubere Luft, freie Zeit zur Entfaltung und Wohlbefinden. Wenn es dabei aber letztendlich darum gehen muss, das gesamte Ware-Wertverhältnis aufzuheben, bedarf es einer weitergehenden Perspektive über einzelne Städte, Branchen und Produktionssphären hinaus.
Reden wir aber von einer gemeineigentumbasierten Gesellschaft, oder gar mit Luxemburg von einer „planmäßigen, von der gesamten arbeitenden Gesellschaft bewußt organisierten Wirtschaftsweise“ (Bd. 5, 591), setzen wir schnell negative Assoziationsketten frei. Fast alle Begriffe aus dem linken Theoriekanon – ob Sozialismus, Kommunismus oder Planwirtschaft – beschwören düstere Erinnerungen an das 20. Jahrhundert herauf: Gemeineigentum ist dann gleichbedeutend mit Staatseigentum und geplantes Wirtschaften gar nicht anders denkbar denn als zentralistisch-diktatorische Kommandowirtschaft. Wäre dies ein rein sprachliches Problem, könnten neue Begrifflichkeiten ausreichend Abhilfe schaffen. Statt von einem kommunistischen Gemeinwesen, könnte man etwa von einer gemeineigentumbasierten freien Assoziation sprechen, statt von Planwirtschaft von geplantem Wirtschaften usw. Um die Begriffe bräuchten wir uns nicht weiter scheren, wenn nur das Ziel klar wäre, den Beginn der eigentlich menschlichen Geschichte zu erstreiten, in welchem die Menschen ihr gesellschaftliches Leben bewusst und frei von Unterdrückung gestalten könnten. Da aber der gesamte Parteikommunismus aus Vergangenheit und Gegenwart ebenfalls eine klassenlose Gesellschaft – zumindest als Fernziel – postuliert und sich dabei ebenfalls auf das Theoriegebäude von Marx, Engels und teilweise sogar Luxemburg beruft, bleibt es uns bis auf weiteres nicht erspart, sich wieder und wieder vom Staatssozialismus abzugrenzen, und klar zu stellen, dass jeder neue Emanzipationsversuch die „volle und freie Entwicklung jedes Individuums“ zum Grundprinzip haben muss (MEW 23, 618). Schon im kommunistischen Manifest hieß es unzweideutig „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ (MEW 4, 482, Herv. d. Verf). Der Staatssozialismus des 20. Jahrhunderts war weder ‘degeneriert’, noch litt er bloß an einem Schönheitsfehler von mangelnder Demokratie und Mitsprache. Vielmehr waren die parteigesteuerten Zentralverwaltungswirtschaften das gerade Gegenteil von ‘Sozialismus’ oder ‘Kommunismus’, auch wenn sie diese im Namen führten.
Bahro über den nichtkapitalistischen Weg zur Industriegesellschaft
Vor diesem Hintergrund möchte ich an Rudolf Bahros Werk ‘Die Alternative’ erinnern, welches im Jahr 1977 erstveröffentlicht wurde und somit im vergangenen Sommer ein 45-jähriges Jubiläum zu verzeichnen hatte. Bahro, seinerzeit 41 Jahre alt, hatte an der Humboldt-Universität Philosophie studiert und war seit seinem 19. Lebensjahr SED-Mitglied. Mitte der 1960er Jahre hatte er es zum stellvertretenden Chefredakteur des FDJ-Organs Forum gebracht, bevor er 1967 in die Industrie strafversetzt wurde. Dort arbeitete er für die nächsten zehn Jahre als Wirtschaftsfunktionär im Ingenieurbüro WB Gummi und Asbest. In diesem Zeitraum verfasste Bahro heimlich ‘Die Alternative’. Das Buch beschäftigt sich hauptsächlich mit den Ländern des real existierenden Sozialismus und war als Anstoß zu einer Kulturrevolution gegen den herrschenden Partei- und Staatsapparat gedacht, welchen Bahro als „die entscheidende Schranke“ zum „Fortschritt der allgemeinen Emanzipation“ in den Ostblockländern ausmachte (1977, 372). ‘Die Alternative’ sollte eigentlich unter dem Titel „Zur Kritik des real existierenden Sozialismus“ illegal in der DDR verbreiten werden. Erst als die Aussichten auf dieses Unterfangen immer unrealistischer wurden, entschloss Bahro sich für eine Veröffentlichung im linken westdeutschen EVA-Verlag, die zu seiner Verhaftung und Verurteilung in der DDR führte. Obwohl ‘Die Alternative’ stark auf die Ostblockstaaten fokussiert war, hat sie in gewisser Hinsicht wenig an Aktualität eingebüßt.
‘Die Alternative’ gliedert sich in drei Teile: Der erste behandelt das Phänomen des nichtkapitalistischen Wegs zur Industriegesellschaft und somit vor allem den Ursprung, die Entwicklung und die Hintergründe der durch die russische Oktoberrevolution eingeleiteten Epoche. Es ging darum, den real existierenden Sozialismus zunächst einmal in seiner Genese zu verstehen. Der zweite Teil analysiert dann ausführlich die Struktur dieser Gesellschaftsordnung. Erst der dritte Teil lotet „die Alternative“ aus, die „im Schoße des real existierenden Sozialismus heranreift“. Dabei lautet das Ziel, „jene neue Organisation der Arbeit und des gesellschaftlichen Lebens zu schaffen, auf die sich endlich ein Gemeinwesen gründen kann, das den lange vorgeprägten Namen der freien Assoziation solidarischer Individuen verdient“ (1977, 483). Auch wenn die Voraussetzungen für dieses Ziel im Ostblock der 1970er Jahre natürlich andere waren als heute, so finden sich doch gerade in diesem dritten Teil des Buches wertvolle Anhaltspunkte, die aktuelle linke Diskussionen um Vergesellschaftung und Planung sehr bereichern könnten. Dass das Werk nach einem Anfangserfolg schnell in Vergessenheit geriet, hat sicherlich viel mit Bahros weiterem Lebensweg zu tun. Nach zwei Jahren Haft wurde er pünktlich zum 30. Jahrestag der DDR amnestiert und durfte in die BRD ausreisen. Hier distanzierte er sich immer mehr von seinen marxistischen Wurzeln und plädierte nunmehr für die Überwindung des politischen Rechts-Links-Schemas. Seine Thesen wurden dabei zunehmend religiöser und esoterischer. Diese fragwürdige Entwicklung des Autors seit den 1980er Jahren, sollte allerdings nicht davon abhalten, sich der ‘Alternative’ heute noch einmal zuzuwenden.
Bahros Ansatz zur Analyse der Gesellschaften des Staatssozialismus ist bereits wegweisend. Knapp aber präzise leitet er mit der Marxschen Auffassung der unmittelbaren Vergesellschaftung der Produktionsmittel ein. Diese müsse dazu führen, dass Warenwirtschaft und Geld in einer Arbeitszeitrechnung aufgehoben würden und der Staat als Repräsentant der verschwundenen Widersprüche wieder in der Gesellschaft aufgehe. Mit diesen Vorstellungen einer idealtypischen sozialistischen Revolution kann man die historischen Ergebnisse des russischen Weges natürlich vergleichen, man werde aber, so Bahro, zu keinen tragbaren Ergebnissen kommen, wenn man sie unter diesem Blickwinkel zu fassen versucht: „Der ‘nichtkapitalistische Weg‘, der seit 1917 die Menschheit in Atem hält, wirft völlig andere als die von Marx analysierten Probleme auf und kann nicht unmittelbar dieselbe Perspektive haben, weil er die Voraussetzungen des Kommunismus auf eine ganz andere Weise erzeugt. Die Aufhebung des kapitalistischen Privateigentums konnte für Russland nur eine geringe positive Bedeutung haben, weil es nur wenig kapitalistisches Privateigentum gab, das weit entfernt war, das ganze nationale Leben durchdrungen zu haben“ (1977, 28).
Bahro ging es nicht darum, die entstandene Gesellschaftsformation politisch zu verklären oder zu verdammen, sondern die Sozialstruktur zu untersuchen, die sie hervorbrachte. Dabei machte er sich die Theorie der „asiatischen Produktionsweise“ beziehungsweise der „orientalischen Despotie“ zunutze: Die Oktoberrevolution war die „erste antiimperialistische Revolution in einem trotz begonnener eigener kapitalistischer Entwicklung noch überwiegend vorkapitalistischen Land, mit halb feudaler, halb ‘asiatischer’ sozialökonomischer Struktur“ (ebd., 58). Ergebnis des russischen und auch chinesischen Weges war nach Bahro demnach keine Form des Sozialismus, sondern eine nachholende Industrialisierung auf nichtkapitalistischem Wege. Dies gilt in der Analyse unabhängig davon, was die Revolutionär:innen sich subjektiv von ihrem Tun erhofften. „Wo hat der Sozialismus, der da deformiert worden sein soll, je existiert?“ fragt Bahro mit logischer Konsequenz (ebd. 23). Er bringt damit auf den Punkt, dass eine Kritik an der sowjetischen Entwicklung an den strukturellen Voraussetzungen ansetzen muss, nicht an spezifischen Entscheidungen oder Bosheiten einzelner Revolutionär:innen. Auf diese Weise gelingt es Bahro mit seinen Erklärungen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Marxschen Vorstellungen zur Überwindung des Kapitalismus von den Erfahrungen des Staatssozialismus zu befreien.
Staat, Verstaatlichung, Vergesellschaftung
Zwischen dem Kommunismus von Marx und dem real existierenden Sozialismus war der größte „ins Auge fallenden Gegensatz“ der „Charakter des Staates“ (ebd., 36). Der Marxschen Theorie nach, sollte die Aneignung der Produktionsmittel durch die assoziierten Produzent:innen dazu führen, dass die Staatsmaschine in die Gesellschaft zurückgenommen wird. Die verbleibenden notwendigen gesamtgesellschaftlichen Funktionen sollten jenseits aller Herrschaft über Menschen in der unpolitischen Verwaltung von Sachen aufgehen. Nicht eingesetzte Beamte, sondern gewählte, jederzeit rechenschaftspflichtige und effektiv absetzbare Delegierte, sollten die verbleibenden gesellschaftlich notwendigen (Koordinierungs)Aufgaben übernehmen. Am deutlichsten wurden Marx und Engels diesbezüglich in ihren Kommuneschriften.
Im krassen Gegensatz zu dieser theoretischen Konzeption wirkte der Staat im Realsozialismus „als Zuchtmeister der Gesellschaft für ihre technische und soziale Modernisierung“ (ebd., 150). Statt abzusterben wurde der Staat nach der Revolution immer mächtiger. „Die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln hat eben zunächst keineswegs ihre Verwandlung in Volkseigentum bedeutet. Vielmehr steht die ganze Gesellschaft eigentumslos ihrer Staatsmaschinerie gegenüber“ (ebd., 12). Die Widersprüche der Klassengesellschaft konnten nicht aufgehoben werden und ebenso wenig der Staat als Monopolisierung der allgemeinen Angelegenheiten. Die „[s]ofortige Zentralisation der Verfügungsgewalt ist nicht nur nicht identisch mit Vergesellschaftung, sondern stellt unfehlbar einen Riegel gegen sie dar“ (ebd., 524). Hier haben wir den Unterschied von ‘Verstaatlichung’ und ‘Vergesellschaftung’ in seiner wohl krassesten Ausprägung. Das ‘Volkseigentum’ bestand nur nominell, tatsächlich stand es in der Verfügungsgewalt der Partei- und Staatsbürokratie. Die Individuen dagegen standen der Staatsmaschinerie eigentumslos gegenüber. Dass dieser Unterschied den Unterschied ums Ganze ausmacht, hat der Staatssozialismus tagtäglich in seinem Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis bewiesen. In der Theorie kriegen wir den Gegensatz am besten zu fassen, wenn wir uns klar machen, das für Marx „jedesmal das unmittelbare Verhältnis der Eigentümer der Produktionsbedingungen zu den unmittelbaren Produzenten […] die verborgene Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion“ darstellt (MEW 25, 799). Auch Kapital ist für Marx keine Sache, kein Ding, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis, die Form unseres gesellschaftlichen Zusammenwirkens. Es geht hier nicht um nominelle sprich juristische Eigentumstitel, sondern um die tatsächliche Verfügungsgewalt, also das eben zitierte unmittelbare Verhältnis.
Vor diesem Hintergrund wird klar, warum Verstaatlichung also mitnichten dasselbe ist, wie Vergesellschaftung. Sozialistische Demokratie ist nicht eine mögliche Form, die vom Inhalt, dem Gemeineigentum und der Planung losgelöst betrachtet werden könnte. Ebendeshalb spricht Luxemburg von der nachkapitalistischen planmäßigen Wirtschaft als „von der gesamten arbeitenden Gesellschaft bewußt organisierten Wirtschaftsweise“ (Bd. 5, 587, Herv. d. Verf.). An der russischen Oktoberrevolution kritisierte Luxemburg diesen Sachverhalt in einer scharfen Polemik übrigens bereits von Anfang an. Sozialistische Demokratie ist nicht das „Weihnachtsgeschenk“ an das brave Volk, sondern „beginnt mit dem Moment der Machteroberung“ (Bd 4, 363).[2] Es ist erstaunlich wie hartnäckig der Gehalt dieser Aussage Luxemburgs bis heute übergangen wird. Bahros ‘Alternative’ stellt hier eine erfreuliche Ausnahme dar. Er legte den Finger in die Wunde des Staatssozialismus, wenn er betont, dass die Unterwerfung des Staatsapparats unter die Gesellschaft der Knackpunkt dafür sei, dass aus der ‘Herrschaft über Menschen die Verwaltung von Sachen’ wird. Ebendies ist aber nicht möglich, so lange der Staat „in einem besonderen Apparat, […] der Gesellschaft als äußerliche fremde Macht gegenübersteht“ (1977, 372). Hinter diese Kritik darf eine emanzipatorische Linke heute nicht zurückfallen.
Assoziation und Plan; zentral versus dezentral !?
Es muss an dieser Stelle allerdings auf ein Missverständnis hingewiesen werden. Bahros Kritik an der Zentralisation der Verfügungsgewalt ist nicht gleichbedeutend mit Kritik an jeglicher Zentralisation. Dieser Punkt ist nicht irrelevant, denn tatsächlich hat der zentralistisch-diktatorische Staatssozialismus, das zentralisierte Staatseigentum, bei kritischen Geistern oft jegliche Formen von Zentralisation in Verruf gebracht. In dieser Argumentation wird Zentralismus häufig als Synonym für autoritäre Formen gesehen und Dezentralität mit demokratischen Formen der Verfügungsgewalt gleichgesetzt. Doch dezentrale Formen der Planung und Entscheidungsfindung, wie syndikalistische und andere Konzepte, die von kompletter Selbstverwaltung von unten ausgehen, stoßen sehr schnell an ihre Grenzen. ‘Dezentral’ ist kein Zauberwort. Zumindest auf einer gewissen Ebene der Produktionsstruktur müssen gesamtgesellschaftliche Entscheidungen und Planungsgrundlagen vorhanden sein. Allein die ökologische Dimension macht dies deutlich. Für einen einzelnen Betrieb oder auch eine ganze Stadt könnte es naheliegend sein, den eigenen Abfall einfach am Stadtrand zu verbrennen. Für die Gesellschaft als Ganzes, vermutlich schon für die Nachbarstadt, ist es das nicht. Und diese Problematik stellt sich durch die Belastungsgrenzen des Erdsysteme mittlerweile global. Zufällige und partikulare lokale Interessen dürfen deshalb keinesfalls den Ausschlag geben, wenn es darum geht, das Überschreiten von Kipppunkten zu verhindern.
Aber auch abgesehen von den ökologischen Herausforderungen, spricht sehr vieles allein auf der stofflichen Seite der Planung gegen eine komplette Dezentralisierung. Es geht schließlich nicht um Selbstversorgung auf niedrigem Niveau, sondern um die Entwicklungsmöglichkeiten moderner und komplexer Gesellschaften. Auch wenn die erneuerbaren Energien gewisse Formen von dezentraler Energieversorgung möglich machen, sollte man realistisch bleiben. Um große Energietrassen und Stromnetze kommen wir nicht umhin. Unser heutiges Stromnetz ist europaweit gekoppelt und organisiert. Bei anderen Formen der Infrastruktur wird ebenfalls deutlich, warum diese nicht einfach dezentral geplant werden können, denken wir etwa an das Verkehrswesen oder die modernen Kommunikationsmittel. Ähnlich steht es letztlich um viele Konsumtionsgüter und erst recht die Produktionsmittelindustrie. Kaum etwas ließe sich heute noch rein lokal und dezentral planen und produzieren. Partikulare Interessen, etwa Produzenten:innengesnossenschaften, sind nicht fähig, einen gesamtgesellschaftlich befriedigenden Plan zu erstellen. Wenn wir nicht in eine Tauschwirtschaft zurückwollen, kommen wir nicht um die Frage umhin, was bei assoziierter Produktion ‘zentral’, sprich gesamtgesellschaftlich, geplant und entschieden werden muss, ohne eine Zentralisation der Verfügungsgewalt heraufzubeschwören. Genau vor dieser Frage stand bereits Bahro und brachte sie folgendermaßen auf den Punkt: „Wie ist die ‘Versammlung’ der ganzen Gesellschaft, aller Individuen über ihren Reproduktionsprozeß möglich? Das ist die Kardinalfrage der sozialistischen Demokratie. Es gilt zu begreifen, daß die Frage der Selbstverwaltung in einer hochkomplexen Gesellschaft nicht allein aus der Perspektive der partikularen kommunalen und schon gar nicht der betrieblichen Einheiten aufzuwerfen und zu beantworten ist, sondern immer zugleich angesichts des Gesamtprozesses der Reproduktion“ (ebd., 523).
Ein einfacher Gegensatz von zentral oder dezentral, also vermeintlich genossenschaftlich-egalitär versus hierarchisch-elitär, wird nach Bahro der Problemlage nicht gerecht. „Es bedarf offenbar einer bestimmten Kombination zwischen […] Systemregulation von oben (wobei Hierarchie keineswegs unter allen Umständen die Gestalt eines unkontrollierbaren herrschaftlichen Apparats haben muss) und ökonomischer Initiative aus relativ autonomen Grundeinheiten der vereinigten Arbeit und des gesellschaftlichen Lebens heraus […]. Deshalb muß der allgemeine Zusammenhang in autonome Kollektivsubjekte verschiedener Stufe untergliedert sein, die ihre Einordnung ins ganze selbst vermitteln“ (ebd., 525). Bahro bedient sich für seine Skizze der Organisation dieses sozialen Zusammenhangs des von Marx sorgsam gewählten Wortes der Assoziation. Er beschreibt damit das „aktive Sich-vereinigen je autonomer Subjekte“ auf verschiedenen Ebenen, bzw. in je verschiedenen Einheiten: „Assoziation der Individuen zu den Verbänden, in denen sie die je spezifischen Zwecke verfolgen, die ihren sozialen Lebensprozeß ausmachen; Assoziation dieser unterfunktionalen Verbände zu den Kommunen als den komplexen territorialen Einheiten, die diesen Lebensprozeß in seiner Allseitigkeit umfassen; schließlich Assoziation der – natürlich an gewissen Punkten der im Rahmen planmäßiger Arbeitsteilung spezialisierten – Kommunen zur Gesellschaft“ (ebd., 526). Dies wäre die Vermittlung der allgemeinen gesellschaftlichen und besonderen Interessen der Individuen.
Eine solche Assoziation von Kommunen geht eindeutig über das Dilemma ‘genossenschaftlich-egalitäre oder hierarchisch-elitäre Struktur’ hinaus. Kommune bedeutet hier natürlich nicht Hausprojekt oder kleine Dorfgemeinschaft, sondern immer eine Vereinigung der Bevölkerung in überschaubaren Gemeinwesen, die es erlauben würden, jeweils größere Gruppen von Arbeits- Bildungs- oder Wohneinheiten zusammen zu fassen und in ihren Grundfunktionen zu gestalten. Auf der anderen Seite würden sie „mit einer Reihe spezialisierter Leistungen an dem allgemeinen Zusammenhang teilnehmen, der ihnen seinerseits die Versorgung mit einer Vielzahl spezieller Produktionen sichert“ (ebd., 508). Sie wären somit auch ökonomische Einheiten, die für die gesamtgesellschaftliche Rechnungsführung die entscheidende Rolle spielen würden. Sie müssten jeweils spezielle Verbindlichkeiten von In- und Output bestimmen und gewährleisten. Die Assoziationen also als Vermittlung zu der Frage welche Güter in welchen Mengen und in welcher Qualität benötigt werden. Sie generieren die nötigen Daten, die Produktionsaufträge, den Planaufwand und die Möglichkeit die Leistungen ins Verhältnis zu setzen und zu verrechnen. Als grundlegende Rechengröße für diese Planung benennt Bahro die Arbeitszeit.
Die neue Organisation der Arbeit
Genauso wenig wie der real existierende Sozialismus fähig war politische Unterdrückung und den Staat zu überwinden, schaffte er es Warenwirtschaft und Wert aufzuheben. Faktisch ließen sich Wertgesetz sowie Geld- und Marktbeziehungen zu keinem Zeitpunkt aus dem osteuropäischen System der wirtschaftlichen Planung wegdenken. Herrschte Anfang der 1930er-Jahre noch die Meinung vor, die Geldwirtschaft würde bald verschwinden, wurde spätestens nach dem ersten Fünfjahresplan das Wirken des Wertgesetzes offiziell anerkannt und sollte fortan ‘planmäßig ausgenutzt’ werden. Die unter kapitalistischen Bedingungen entstandene Kostenrechnung wurde nicht abgeschafft, sondern nur inhaltlich modifiziert. Seinen deutlichsten Ausdruck fand diese Tatsache in der fortan nicht mehr hinterfragten Geldwirtschaft.
Wenn aber geplantes Wirtschaften jenseits von Geld, Markt und Ware das Ziel sein soll, müssen wir zunächst über eine Produktion ohne „Dazwischenkunft des vielberühmten »Werts«“ (Engels, MEW 20, 288) reden. Hinter dem Wert aber steht die Arbeit, oder präziser ausgedrückt: Die einzige Substanz die der Wert hat, ist die geleistete Arbeit. Die geleistete Arbeit(szeit) würde auch bei assoziierter Produktion eine Schlüsselrolle spielen. Maßgeblich wäre dann allerdings, dass die Arbeit bereits vor der Produktion unmittelbar gesellschaftlich wäre. Statt über den Umweg von Wert und Markt könnte sie bei kollektivem Besitz der Produktionsmittel direkt ermittelt werden und dann als unmittelbare Rechnungsgröße für die Produktion dienen. In einer Schlüsselstelle der Marxschen ‘Grundrisse’ klingt dies folgendermaßen: „Gemeinschaftliche Produktion vorausgesetzt, bleibt die Zeitbestimmung natürlich wesentlich. […] Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf. Ebenso muß die Gesellschaft ihre Zeit zweckmäßig einteilen, um eine ihren Gesamtbedürfnissen gemäße Produktion zu erzielen; wie der einzelne seine Zeit richtig einteilen muß, um sich Kenntnisse in angemeßnen Proportionen zu erwerben oder um den verschiednen Anforderungen an seine Tätigkeit Genüge zu leisten. Ökonomie der Zeit sowohl wie planmäßige Verteilung der Arbeitszeit auf die verschiednen Zweige der Produktion bleibt also erstes ökonomisches Gesetz auf Grundlage der gemeinschaftlichen Produktion“ (MEW 42, 105, Herv. d. Verf.).“[3]
Bahro sah deutlich, dass die ‘Planwirtschaft’ des Staatssozialismus faktisch mit kapitalistischen Kostenbegriffen und Berechnungsmethoden operierte und verwies beharrlich auf den unmittelbaren Zusammenhang von Warenform und Arbeitszeit. Inspiriert durch verschiedene Marxsche Zitate plädierte er für ein direktes Messen und Rechnen nach Arbeitszeit, sprich Arbeitszeitrechnung[4]:
„Was not tut, um die neue Ökonomie, die Herrschaft der lebendigen über die vergegenständlichte Arbeit regulatorisch zu bewältigen, ist der Übergang von Messen nach Wert- oder vielmehr Preisgrößen zum direkten Messen nach Zeitäquivalenten auf der Primärebene der Wirtschaftsrechnung […] Die Arbeitszeitrechnung durch alle Produktionsstufen hindurch bis zum Endprodukt aufzubauen, bei konsequenter Anwendung Erfahrung damit zu sammeln und sie bis zum Ende, d.h. im gesamtwirtschaftlichen Maßstab durchzuführen, ist unabdingbare Voraussetzung, um den Produkten schließlich auch die Warenform abzustreifen“ (ebd., 518).[5]
Anders als alten und neuen Vertreter:innen eines ‘Marktsozialismus’ war Bahro klar, dass man mit Waren letztlich nicht planen kann. Der Markt ist kein neutraler Ort um produzierte Güter hin- und herzuschieben. Zum Markt gehört der Tauschwert und somit die Ware. Bahro hingegen ging es explizit um eine Planung jenseits von Waren- und Wertverhältnissen. Wenn die Arbeitszeit direkt und ohne Umwege über Wert und Geld gemessen würde, stünde am Ende des Produktionsprozesses ein Produkt, keine Ware mehr. Der Durchschnitt der gemessenen Arbeitszeiten übernähme die Funktion der ökonomischen Aufwandsbestimmung und wäre die Grundlage für ein gesamtgesellschaftlich anerkanntes, von allen handhabbares System kommunizierender Kennzahlen. Die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zu ihren Arbeiten und ihren Arbeitsprodukten in einer solchen gesamtgesellschaftlichen Arbeitszeitrechnung wären nicht nur berechenbar, sondern transparent, ‘durchsichtig einfach’ um es mit Marx zu sagen.
Die Arbeitszeitrechnung, also die „Verschiebung der Präferenz in der Planung, Statistik, Produktivitätsmessung von der Preis- auf die Arbeitszeitbasis“ besticht zunächst durch Verständlichkeit und Durchschaubarkeit der ökonomischen Proportionen. Sie beinhaltet aber letztlich viel mehr. Durch den Abbau der Verzerrungen der realen Aufwände, sowie durch Nachvollziehbarkeit und Transparenz, legt sie die Beziehung der Arbeit zum individuellen Lebensprozess offen. Die Arbeitszeitrechnung ist deshalb für Bahro ein „Instrument zur Durchsetzung einer ökonomischen Struktur nach dem Maß des Menschen“ (ebd., 486), eben weil sie die Vergleichbarkeit zwischen notwendiger und freier Tätigkeit gewährleistet. Hier liegt der Schlüssel, um die menschliche Entfremdung zu überwinden, die bereits in der Arbeitsteilung angelegt ist. Der wahre Reichtum einer emanzipierten Gesellschaft muss sich in konkret gewonnener Lebenszeit darstellen: „Vom Standpunkt des Produktionsziels reiche Individualität muß man sogar einen Schritt weitergehen, einen Schritt hinter die Arbeitszeitbilanz zurück, und den Anfang mit der gesellschaftlichen Zeitbilanz, mit dem Zeitbudget der Individuen schlechthin machen […]. Ihre ‘Zielfunktion’ wird die Maximierung der ‘Zeit für Entwicklung’, der ‘Zeit für produktive Aneignung der Kultur’ sein“ (ebd., 496). Der Dreh- und Angelpunkt ist hier die freie Entwicklung der Individualität.
Wenn die „reiche Individualität“ und die Zeit für Entwicklung das Produktionsziel sind, dann verplant nicht ‘die Gesellschaft’ oder ‘der Staat’ das fremdbestimmte Individuum, sondern die selbstbestimmten Individuen gestalten die gesellschaftliche Planung: „Wenn man hiervon ausgeht, so erweist sich tatsächlich die Ökonomie der individuellen Zeitpläne als entscheidender Durchgangspunkt der Planung. Läßt sich die Gesellschaft ernstlich davon leiten, welche Zeitanteile in welcher Folge optimal für die verschiedenen Betätigungsweisen der Individuen verfügbar (man lese nicht vorgeschrieben) sein sollten, so daß sich ihr Zeitbudget nicht mehr nur nachträglich als ermittelter Durchschnittswert, sondern planmäßig entsprechend ihren allgemeinen Entwicklungserfordernissen ergibt, dann wird die Überwindung der Entfremdung wirklich ökonomisch fundiert“ (ebd., 510). Entfremdung heißt schließlich nichts Anderes, als dass die eigenen Taten des Menschen ihm zu einer ‘fremden, gegenüberstehenden Macht’ werden, da sie nicht freiwillig geteilt werden, sondern scheinbar ‘naturwüchsig’ (vgl. MEW 3).[6]
Übergang von quantitativem zu qualitativem Wachstum
Tatsächlich liefert Bahros ‘Alternative’ noch mehr als die Analyse und das ins Verhältnis setzen von marxistischer Theorie und realsozialistischer Tragödie. In seinem Werk entwickelte er auch zentrale Anhaltspunkte bezüglich einer Neubestimmung von Fortschritt und Emanzipation im Zeichen der heraufziehenden ökologischen Problemlagen. Obwohl bereits in der Mitte der 1970er Jahre formuliert, sah er die ökologische Dimension der weiteren menschlichen Entwicklung weit deutlicher als die meisten Marxist:innen heute. Bereits damals stellte er mit verblüffender Klarheit fest: „Die gegenwärtige Lebensweise der industriell fortgeschrittensten Völker bewegt sich in einem globalen antagonistischen Widerspruch zu den natürlichen Existenzbedingungen des Menschen […] Vom ökonomischen Prinzip der Profitmaximierung her, das mächtig in den real existierenden Sozialismus hineinregiert, ist es ein wesentlich quantitativer Progress mit dem Trieb ins schlecht unendliche. Er muß aufhören, weil der Anteil der Erdrinde, den man im industriellen Stoffwechsel mit der Natur vermahlen kann, trotz aller möglichen und unsinnigen Ausdehnung und Beschleunigung des Umschlags begrenzt ist, wenn der Planet bewohnbar bleiben soll“ (ebd., 310).
Für die marxistische Theorie, wie sie weithin verstanden wurde und wird, ergibt sich hier ein Problem. ‘Allen nach ihren Fähigkeiten, allen nach ihren Bedürfnissen’ ist bis heute die wohl bekannteste Definition einer entwickelten kommunistischen Gesellschaft. Wenn die ‘grenzenlose Expansion der materiellen Bedürfnisse’ aber eine ökologische Unmöglichkeit ist, dann tut sich hier ein Widerspruch auf. Bahro geht diesen an, indem er das Wort ‘Bedürfnisse’ radikal hinterfragt und die Theorie dafür – gegen ganze Generationen von Sozialist:innen und Kommunist:innen – aus den Fängen des Produktivismus befreit. Er tut dies, indem er mit aller Konsequenz an der bereits entwickelten Aufgabenstellung der Überwindung von Entfremdung und Arbeitsteilung anknüpft: „Die geschichtliche Aufgabe von der ich spreche ist die Überwindung der Subalternität, der Daseinsform und Denkweise ‘kleiner Leute’. Sie bedeutet in ihrem Kern Aufhebung der alten, vertikalen Arbeitsteilung, Umwälzung der ganzen mit ihr verbundenen Bedürfnisrichtung und -struktur. Sie geht einher mit der radikalen Veränderung aller unserer gewohnten Institutionen und Verfahrensweisen in Gesellschaft und Wirtschaft. Die massenhafte Überwindung der Subalternität ist die einzige mögliche Alternative zu der grenzenlosen Expansion der materiellen Bedürfnisse“ (ebd., 321).
‘Allen nach ihren Bedürfnissen’ kann und darf also nicht ausgehend von den Bedürfnissen gedacht werden, die wir entfremdeten und mit repressiver Arbeit überladenen Individuen heute haben. Bahro hinterfragt deshalb unser nur scheinbar individuelles Konsumverhalten und leitet her, dass dieses eine „unvermeidliche Reaktion darauf ist, dass die Gesellschaft die Entfaltung, Entwicklung und Betätigung zahlloser Menschen frühzeitig beschränkt und blockiert“. Ebendies meint ‘Subalternität’, welche wiederum zu massenhaft ‘kompensatorischen Interessen’, letztlich Ersatzbefriedigungen, führt. Kurzum: „Man muss sich im Besitz und Verbrauch von möglichst vielen, möglichst (tausch-)wertvollen Dingen und Diensten dafür schadlos halten, dass man in den eigentlichen menschlichen Bedürfnissen zu kurz gekommen ist“ (ebd., 322).
Gerade unangenehme, schwere und monotone Arbeit verhindert die Selbstentfaltung des Menschen. Die Aufhebung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit, kombiniert mit einer radikalen Verkürzung des Arbeitstages, sind laut der ‘Alternative’ Voraussetzung für die Reorientierung der Bedürfnisstruktur: „Die Menschen der entwickelten Länder brauchen nicht Ausdehnung ihrer heutigen Bedürfnisse, sondern Gelegenheit zum Selbstgenuss in ihrer eigenen individualisierten Aktivität: Tatengenuss, Beziehungsgenuss, konkretes Leben in weitestem Sinne“ (ebd., 485). Bahro klingt hier fast wie zeitgenössischen Wachstumskritiker:innen, allerdings geht er einen entscheidenden Schritt weiter als die meisten von ihnen und fragt nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen. Die Maxime ‘zu wissen und zu sein, statt zu besitzen’ ergänzt er um den entscheidenden Aspekt: „Es gilt die objektiven Bedingungen dafür zu schaffen, dass die Menschen vorziehen können, ‘zu wissen und zu sein, statt zu besitzen’“. Tatsächlich operierte er dabei schon mit dem derzeit so beliebten Begriff des Wachstums, begeht aber nicht den heute oft anzutreffenden Fehler diesen zu verabsolutieren: „Sowohl das Wachstum der Produktion als auch Arbeitsproduktivität, das einstweilen noch sehr selten kritisch befragt wird, werden praktisch ihres Heiligenscheins als unentrinnbare ökonomische Erfordernisse verlustig gehen, womit übrigens nicht umgekehrt ‘Nullwachstum’ zum Gesetz erhoben wird, sondern überhaupt das Kriterium der Quantität von der ersten Stufe verdrängt wird“ (ebd., 484).
… eine kommunistische Gesellschaft […] wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht
Bahros Auseinandersetzung mit dem Staatssozialismus begann mit der Untersuchung von dessen Voraussetzungen. Dass die gesellschaftlichen Verhältnisse im russischen Zarenreich ein denkbar schlechter Ausgangspunkt für den Marxschen Vergesellschaftungsbegriff und die Kommune-Ideen waren, hat die Geschichte bewiesen. Das Jahr 1989 – zwölf Jahre nach dem Erscheinen der ‘Alternative’ – markiert die finale Niederlage eines ‘nichtkapitalistischen Weges‘ zum Kommunismus und aller Theorien die dieser spezifische Versuch hervorbrachte.
Wenn wir uns heute wieder auf die Idee der Vergesellschaftung und des gesellschaftlich geplanten Wirtschaftens berufen, müssen wir von der Gesellschaft, in der wir heute leben, und den Probleme und Herausforderungen, die sie uns stellt, ausgehen. Bahros ‘Alternative’ reicht dazu keinesfalls aus, kann jedoch wertvolle Anhaltspunkte bezüglich wesentlicher Fragestellungen geben. Insbesondere die Frage nach dem Staat und die Unterscheidung von Verstaatlichung und Vergesellschaftung könnten aktuelle Diskussionen bereichern. Ebenso die Frage nach möglichen gesellschaftlichen Organisationsformen und der damit zusammenhängenden Aufgabenstellung von zentralen und dezentralen Planungsmomenten. Auch der Bereich der neuen Organisation der Arbeit mit der Anforderung nach Kennzahlen und Rechnungsgrößen jenseits des Wertes, wird bei Bahro konsistent dargestellt. Zu guter Letzt griff er bereits die heute entscheidende Frage nach Wachstumsrücknahme, bzw. Degrowth auf, wenn er für den Übergang von quantitativem zu qualitativem Wachstum plädierte. Diese Schwierigkeit verknüpfte er mit der Frage nach Bedürfnissen in der entfremdeten Gesellschaft und Ersatzbefriedigungen in der Konsumption. An fast allen entscheidenden Punkten griff Bahro dabei auf Marx zurück, den er zunächst gründlich in dessen Originalschriften studiert hatte. Auch hierin kann Bahro heute als Vorbild dienen. An Marx anknüpfen, heißt aber vor allem an dessen Erkenntnis anzuknüpfen: „[W]enn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechende Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft verhüllt vorfänden, wären alle Sprengversuche Donquichoterie“ (MEW 42, 93).
Natürlich müssen sich die Individuen in einer sozialen Umwälzung vor allem selber umwälzen – ihr Leben, ihre Psyche, ihre Bedürfnisstruktur. Trotzdem setzt auch die radikalste Revolution keinen kompletten Neubeginn. Jede postkapitalistische Gesellschaft wird zwangsläufig von der Gesellschaft geprägt sein, aus der sie hervorgegangen ist. Nur in und aus dieser kann sich die notwendige Umwälzung anbahnen. Die heute dringend benötigte ökosozialistische Perspektive darf nicht neue Dogmen und Ideale postulieren und kontemplativ vor sich hertragen. Vielmehr muss es darum gehen eine historisch-konkrete Alternative zur bestehenden Gesellschaft zu entwickeln. Eine bloße Negation des bestehenden Wahnsinns reicht dazu nicht aus. Emanzipation einzufordern bedeutet die Bedingungen zu untersuchen, welche Emanzipation heute ermöglichen würden. Die modernen bürgerlichen Herrschaftsformen sind mit Sicherheit eine gute Voraussetzung für die Idee der Selbstverwaltung und die Aufgabe, die eigenen Geschicke in die Hand zu nehmen. Die größte Herausforderung eines gesellschaftlichen Emanzipationsversuchs dürfte dagegen in der rapide voranschreitenden ökologischen Krise liegen. In dieser liegt allerdings auch seine ‘absolute Notwendigkeit’ begründet.
Referenzen
Bahro, Rudolf 1977. Die Alternative, Europäische Verlagsanstalt.
Engels, Friedrich/Marx, Karl. Marx-Engels-Werke (MEW.) Dietz Berlin
Luxemburg, Rosa. Gesammelte Werke. Dietz Berlin.
[1] Kapital ist die Einheit von Produktions- und Zirkulationsprozess. Es verwertet sich, indem es in Form von Geld in die Warenproduktion eingeht, nur um hinterher als mehr Geld wieder herauszukommen und diesen Prozess dann wieder und wieder in immer höherer Größenordnung zu durchlaufen. Das wirkt oberflächlich betrachtet wie eine banale Feststellung: Aus Geld mehr Geld zu machen, war schließlich auch schon das Bestreben von Händlern in der Antike oder im Feudalismus. Bei der Kapitalverwertung geht es allerdings nicht um einfache Geldvermehrung, sondern darum, was im Produktionsprozess vor sich geht, damit sich das Kapital vermehren kann. Ein kapitalistisches Unternehmen muss dabei die Arbeiter:innen und die Natur immer schneller und intensiver auspressen, um so viel Profit wie möglich zu generieren. Es kann sich nicht einfach in Genügsamkeit üben und mit weniger Gewinn zufrieden geben.
[2]Dieser Aspekt ist so wichtig, dass das Zitat hier in voller Länge wiedergegeben werden soll: „Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Lande, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als die Diktatur des Proletariats“ (Bd. 4, S. 363). Zum Hintergrund zu Luxemburgs Schrift „Zur russischen Revolution“ vgl. Hofmann 2022: https://jacobin.de/artikel/rosa-luxemburg-zur-russischen-revolution-bolschewiki-lenin-russland-freiheit-des-andersdenkenden/
[3]Auch folgendes Zitat zur gesellschaftlichen Gesamtarbeit verdeutlicht den Marxschen Standpunkt noch einmal: „Daß jede Nation verrecken würde, die, ich will nicht sagen für ein Jahr, sondern für ein paar Wochen die Arbeit einstellte, weiß jedes Kind. Ebenso weiß es, daß die den verschiednen Bedürfnismassen entsprechenden Massen von Produkten verschiedne und quantitativ bestimmte Massen der gesellschaftlichen Gesamtarbeit erheischen. Daß diese Notwendigkeit der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit in bestimmten Proportionen durchaus nicht durch die bestimmte Form der gesellschaftlichen Produktion aufgehoben, sondern nur ihre Erscheinungsweise ändern kann, ist self-evident“ (Marx, MEW 32, 552f).
[4]Eine Zusammenstellung historischer Textstellen zur Arbeitszeitrechnung bei Marx, Engels, der Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland) und Helene Bauer siehe die Textsammlung ‘Planwirtschaft’ (Broistedt/Hofmann 2022). Das Buch ‘Goodbye Kapital’ (Broistedt/Hofmann 2020) ist der Versuch, die Arbeitszeitrechnung in eigene Worte zu fassen.
[5]„Neben der vom Gesamtplan ausgehenden und dann über die Kommunen vermittelten Kontrolle der bedarfs- und qualitätsgerechten Produktion muß es ein gesamtgesellschaftlich anerkanntes, aber von jedermann handhabbares System kommunizierender Kennzahlen geben, um die Effektivität, also das Verhältnis zwischen Aufwand und Ergebnis zu messen, und zwar auf Basis der Arbeitszeitrechnung“ (ebd. 537). An vielen Stellen in der ‘Alternative’ merkt man trotz seiner tiefgreifenden Kritik, wie sehr Bahro ein Kind seiner Zeit und damit der DDR-Gesellschaft der 1970er Jahre war. Der ‘Gesamtplan’ etwa, mit welchem obiges Zitat eingeleitet wird, erinnert doch sehr an die Planungsbürokratie der SED, deren stetes Ideal es war, einen einzigen Plan erstellen zu können, der dann für die folgenden Jahre alle In- und Outputs erfassen sollte. In sich dynamisch entwickelnden Gesellschaften war und ist ein solches Unterfangen natürlich nicht zu haben.
[6]Auch wenn eine funktionale Arbeitsteilung weiter notwendig ist, dürften in einer assoziierten Produktion nach Plan damit keine Hierarchien oder persönlichen Abhängigkeiten mehr verbunden sein, die allein auf der Arbeitsaufgabe oder der Ausbildung beruhen. Jede:r ist Spezialist:in in einem Bereich, niemand nur Hilfsarbeiter:in. Die Tätigkeiten werden freiwillig und damit schwindet die Spaltung zwischen besonderen und allgemeinen Interessen.