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Auch in Indien haben große Teile der aus der kommunistischen Bewegung entstammenden Linken sehr unterschiedlich auf den russischen Krieg gegen die Ukraine reagiert. Die bekannte indische Marxistin und Feministin Kavita Krishnan hat mit ihrer Kritik an einer Linken, die für eine multipolare Weltordnung einsteht, in Indien und in anderen Ländern Asiens große Beachtung erlangt. Das Konzept der Polarität wird von der neorealistischen Denkschule der internationalen Beziehungen verwendet. Diese interessiert sich für die Machtverteilung zwischen den Staaten im internationalen System. Kavita Krishnan kritisiert grundsätzlich die Orientierung am Konzept der Polarität. Die Linke könne weder für eine multipolare noch für eine unipolare Weltordnung einstehen, sondern müsse globale Solidarität von unten für gemeinsame Werte entwickeln. Mit der Publikation dieses Artikels wollen wir dazu beitragen, diese für emanzipatorische Bewegungen entscheidende Diskussion transnational zusammenzuführen. (Red.)
Mit ihrem Eintreten für „Multipolarität“ gegen eine unipolare Ordnung unter Führung der USA hat die Linke faktisch den Autoritarismus in der Welt verteidigt. Die Linke muss darüber nachdenken, wie ihre Sprache solche Regime ermöglicht.
Multipolarität ist der Kompass, an dem sich das Verständnis der Linken über die internationalen Beziehungen orientiert. Alle Strömungen der Linken in Indien und weltweit setzen sich seit langem für eine multipolare Welt ein, im Gegensatz zu einer unipolaren, die von den imperialistischen USA dominiert wird.
Gleichzeitig ist die Multipolarität jedoch zum Grundpfeiler der gemeinsamen Sprache der globalen Faschismen und Autoritarismen geworden. Sie ist ein Kampfruf für Despot:innen, der dazu dient, ihren Krieg gegen die Demokratie als einen Krieg gegen den Imperialismus zu tarnen. Die globale Linke befürwortet die Multipolarität lautstark als willkommenen Ausdruck der antiimperialistischen Demokratisierung der internationalen Beziehungen. Mit dieser Orientierung auf Multipolarität trägt sie erheblich dazu bei, den Despotismus zu verschleiern und legitimieren.
Indem die Linke ihre Reaktion auf politische Konfrontationen innerhalb oder zwischen Nationalstaaten als eine Nullsummen-Option zwischen der Befürwortung von Multipolarität oder Unipolarität darstellt, hält sie eine Fiktion aufrecht, die selbst in ihren besten Zeiten immer irreführend und ungenau war. Aber diese Fiktion ist heute geradezu gefährlich, denn sie dient einzig als Erzählung und dramatisches Mittel, um Faschist:innen und Autoritäre in eine schmeichelhaftes Licht zu setzen.
Ich denke die Linke unterstellt, dass wir entweder Unipolarität oder Multipolarität unterstützen können. Wenn wir die Politik autoritärer Regierungen kritisieren, die sich als Verfechterinnen der „Multipolarität“ tarnen, dann betrachtet uns die Linke als Verfechter :innen der Unipolarität. Ich argumentiere, dass das Konzept der „Polarität“ aus Tradition des Realismus stammt und den Werten der Linken zutiefst zuwiderläuft. Außerdem haben wir Linken nicht die Macht, um zwischen „Unipolarität“ und „Multipolarität“ zu „wählen“: Unsere „Präferenz“ für Multipolarität schwächt aber unsere Solidarität. Das heißt, die Linke ist weniger solidarisch mit den Bewegungen, die sich gegen die Verbrechen der Regime wehren, die sie für die Aufrechterhaltung der „Multipolarität“ in der Welt als notwendig erachtet.
Die unglücklichen Konsequenzen des Engagements der Linken für eine wertfreie Multipolarität werden im Fall ihrer Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine sehr deutlich. Die globale und die indische Linke haben (in unterschiedlichem Maße) den russischen faschistischen Diskurs legitimiert und verstärkt, indem sie die Invasion als multipolare Herausforderung des unipolaren Imperialismus unter Führung der USA verteidigten.
Die Freiheit, faschistisch zu sein
Als der russische Präsident Wladimir Putin am 30. September die illegale Annexion von vier ukrainischen Provinzen ankündigte, erläuterte er, was Multipolarität und Demokratie in seinem ideologischen Rahmen bedeuten.[1] Er definierte Multipolarität als Freiheit gegenüber den Versuchen westlicher Eliten, ihre eigenen „degradierten“ Werte von Demokratie und Menschenrechten als universelle Werte zu etablieren; Werte, die der großen Mehrheit der Menschen im Westen und anderswo „fremd“ seien.
Putins rhetorischer Trick bestand darin, zu erklären, dass die Konzepte einer auf Regeln basierenden Ordnung sowie Demokratie und Gerechtigkeit nichts anderes als ideologische und imperialistische Zumutungen des Westens seien, die lediglich als Vorwand dienten, um die Souveränität anderer Nationen zu verletzen.
Als Putin die berechtigte Empörung über die lange Liste der Verbrechen westlicher Länder – darunter Kolonialismus, Imperialismus, Invasionen, Besetzungen, Völkermorde und Putsche – zum Besten gab, konnte man leicht vergessen, dass er mit seiner Rede nicht Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und ein Ende dieser Verbrechen forderte. Indem er die selbstverständliche Tatsache betonte, dass die westlichen Regierungen „kein moralisches Recht haben, sich einzumischen oder auch nur ein Wort über Demokratie zu verlieren“, hat Putin die Menschen geschickt aus der Gleichung ausgeschlossen. Mit seiner Rhetorik weigert sich Putin anzuerkennen, dass Menschen auf der ganzen Welt ihr Leben und ihre Freiheit riskieren, um für „Demokratie“ und „Menschenrechte“ zu kämpfen. Es sind diese Kämpfe, die diesen Normen Wert und Legitimität verleihen. Darum sind diese Normen nicht nur ein ideologischer Deckmantel für den „westlichen Imperialismus“.
Die Menschen in den kolonisierten Ländern sind diejenigen, die für die Freiheit gekämpft haben und weiterhin kämpfen. Die Menschen in den imperialistischen Ländern gehen auf die Straße, um Demokratie und Gerechtigkeit zu fordern und gegen Rassismus, Kriege, Invasionen und Besatzungen durch ihre eigenen Regierungen zu protestieren. Aber Putin hat diese Menschen nicht unterstützt.
Vielmehr hat Putin „gleichgesinnten“ Kräften in der ganzen Welt – rechtsextremen, weiß-supremistischen, rassistischen, antifeministischen, homophoben und transphoben politischen Bewegungen – signalisiert, die Invasion als Teil eines Projekts zu unterstützen, das für sie alle von Vorteil ist: es geht darum, die „unipolare Hegemonie“ universeller Werte der Demokratie und der Menschenrechte zu stürzen und „wahre Freiheit in einer historischen Perspektive“ zu erlangen.
Putin verwendet die ihm eigene „historische Perspektive“, um eine suprematistische Version einer „Zivilisation Russlands“ zu unterstützen, in der Gesetze LGBT-Personen entmenschlichen und Verweise auf historische Ereignisse im Namen der „Stärkung von Russlands Souveränität“ kriminalisiert werden. Er bekräftigt die Freiheit, dass Russland demokratische Normen und internationale Gesetze, die von Gremien wie den Vereinten Nationen „universell“ definiert wurden, leugnen und missachten kann. Das Projekt der „eurasischen Integration“, das Putin als multipolare Herausforderung für die „imperialistische“ EU und die westliche Unipolarität propagiert, kann nur als Teil seines ausdrücklich antidemokratischen ideologischen und politischen Projekts verstanden werden. Eine andere Sache ist, dass die Rivalität zwischen den Großmächten USA und Russland durch das gemeinsame politische Projekt, das Trump in den USA und Putin in Russland vertreten, kompliziert wird.[2]
Eine gemeinsame Sprache
Die Sprache der „Multipolarität“ und des „Antiimperialismus“ findet auch im chinesischen hyper-nationalistischen Totalitarismus Anklang. In einer gemeinsamen Stellungnahme erklärten Putin und Xi im Februar 2022, kurz vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, ihre gemeinsame Ablehnung universell akzeptierter Standards für Demokratie und Menschenrechte zugunsten kulturell relativistischer Definitionen dieser Begriffe:[3] „Eine Nation kann die Formen und Methoden der Umsetzung von Demokratie wählen, die am besten zu ihren […] Traditionen und einzigartigen kulturellen Merkmalen passen. […] Es ist allein Sache der Menschen eines Landes zu entscheiden, ob ihr Staat ein demokratischer ist.“ Diese Ideen wurden in der Erklärung ausdrücklich „den Bemühungen der russischen Seite um ein gerechtes multipolares System der internationalen Beziehungen“ zugeschrieben.
Xi argumentierte, dass westliche Länder, die „universellen Werte“ der „Freiheit“, „Demokratie“ und „Menschenrechte“ „für ihre eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen und hegemonialen Ambitionen“ benutzten. „Der Zusammenbruch der Sowjetunion, die dramatischen Veränderungen in Osteuropa, die ‚farbigen Revolutionen‘[4] und der ‚arabische Frühling‘ wurden alle durch die Intervention der USA und des Westens verursacht.“[5] Damit behandelte er jede Volksbewegung, die allgemein anerkannte Menschenrechte und Demokratie fordert, als eine von Natur aus illegitime imperialistische Farbenrevolution.
Hervorzuheben ist angesichts den von der chinesischen Regierung bevorzugten kulturrelativistischen Standards auch die Forderung nach einer universellen Standards entsprechenden Demokratie, die die Demonstrant:innen der chinaweiten Bewegung gegen die im Namen von „Zero-Covid“ praktizierte Repression gestellt haben.[6] Ein Weißbuch aus dem Jahr 2021 über „Chinas Ansatz zu Demokratie, Freiheit und Menschenrechten“ definierte Menschenrechte als „Glück“ dank Wohlfahrt und Sozialleistungen, nicht als Schutz vor ungezügelter staatlicher Macht. Auffallend ist, dass es vermeidet das Recht zu erwähnen, die Regierung in Frage zu stellen, abweichende Meinungen zu äußern oder sich frei zu organisieren.[7]
Die Definition der „chinaspezifischen“ Demokratie als „gute Regierungsführung“ und der Menschenrechte als „Glück“ ermöglicht es Xi, die Unterdrückung der uigurischen Muslime zu rechtfertigen.[8] Er behauptet, dass Konzentrationslager zur „Umerziehung“ dieser Minderheiten und zur Umformung ihrer Ausübung des Islam auf eine „chinesische Orientierung“ zu „guter Regierungsführung“ und größerem „Glück“ geführt hätten.[9]
Sogar in der hindusupremistischen Führung Indiens gibt es starke Anklänge an den faschistischen und autoritären Diskurs über eine “multipolare Welt”, in der die zivilisatorischen Mächte wieder aufsteigen werden, um ihren alten imperialistischen Ruhm wiederherzustellen, und die Hegemonie der liberalen Demokratie dem rechten Nationalismus weichen wird.
Mohan Bhagwat, Vorsitzender der Rashtriya Swayamsevak Sangh[10], sagte bewundernd, dass „in einer multipolaren Welt“, die die USA herausfordert, „China jetzt aufgestiegen ist. Es kümmert sich nicht darum, was die Welt über es denkt. Es verfolgt sein Ziel zum Expansionismus seiner früheren Kaiser zurückzukehren“. Und weiter: „In der multipolaren Welt spielt jetzt auch Russland sein Spiel. Es versucht, voranzukommen, indem es den Westen zurückdrängt.“[11]
Auch Premierminister Narendra Modi griff wiederholt Verteidiger:innen der Menschenrechte als anti-indisch an und erklärte gleichzeitig, dass Indien die „Mutter der Demokratie“ sei.[12] Indiens Demokratie müsse nicht durch eine „westliche“ Linse angesehen, sondern als Teil des „zivilisatorischen Ethos“ des Landes betrachtet werden.[13] Eine von der Regierung verbreitete Stellungnahme bringt Indiens Demokratie mit „hinduistischer Kultur und Zivilisation“, „hinduistischer politischer Theorie“, „hinduistischem Staat“ und traditionellen (und oft regressiven) Kastenräten, die Kasten- und Geschlechterhierarchien durchsetzen, in Verbindung.[14]
Solche Ideen spiegeln auch Versuche wider, Hindu-Suprematist:innen in ein globales Netzwerk rechtsextremer und autoritärer Kräfte einzubinden.[15] Der russische faschistische Ideologe Aleksandr Dugin erklärt (ähnlich wie Putin), dass „Multipolarität […] eine Rückkehr zu den zivilisatorischen Grundlagen jeder nicht-westlichen Zivilisation (und eine Ablehnung) der liberalen Demokratie und der Menschenrechtsideologie voranbringt.“[16]
Der Einfluss geht in beide Richtungen. Dugin befürwortet die Kastenhierarchie als Gesellschaftsmodell.[17] Indem er die Werte der brahmanischen Manusmriti direkt mit dem internationalen Faschismus verbindet, sieht Dugin „die gegenwärtige Ordnung der Dinge“, die von „Menschenrechten, Infragestellung von Hierarchie und politischer Korrektheit“ geprägt würde, als „Kali Yuga“; also ein Unheil, das die Vermischung der Kasten und der Abbau der Hierarchie mit sich bringe (beispielsweise durch Mischehen, die wiederum durch die Freiheit der Frau zustande kommen, was ebenfalls ein unheilvoller Aspekt des Kali Yuga sei). Er bezeichnete Modis Wahlerfolg als einen Sieg der „Multipolarität“, eine willkommene Behauptung der „indischen Werte“ und eine Niederlage der Hegemonie der „liberalen Demokratie und der Menschenrechtsideologie“.[18]
Die Ideologie des Kastensystems sieht die Gesellschaft als in hierarchisch geordnete Kasten geschichtet an. Das Fundament dieser Ideologie ist, dass sich die Kasten nicht vermischen und ihre „Reinheit“ bewahren müssen. Das patriarchalische Kastensystem schreibt vor, dass Männer aus den werktätigen Kasten niemals Frauen aus den „höheren“ Kasten heiraten dürfen. Wenn Frauen die Beschränkungen der Kaste missachten, um zu lieben und zu heiraten, wenn sie die Grenzen zwischen den Kasten überschreiten, bedrohen sie die Existenz der Kaste als eine Kategorie. In den Hindu-Schriften und auch in modernen Ausprägungen der patriarchalischen Ideologie der Kasten ist „Kali Yuga“ ein Begriff, der einen Zustand apokalyptischer sozialer Anarchie beschreibt, in dem die Frauen sexuell „frei“ sind und infolgedessen die Geschlechter- und Kastenhierarchien umgestürzt werden und die daraus resultierende „Vermischung der Kasten“ als totaler Zusammenbruch der Zivilisation angesehen wird. Um diesen Zusammenbruch zu verhindern, müssen Frauen (deren „unbeherrschbare“ Sexualität als gefährlich und mächtig beschrieben wird) ständig von Männern überwacht und kontrolliert werden, um sicherzustellen, dass sie die Kastengrenzen nicht überschreiten. Im modernen Indien schützt die Verfassung kastenübergreifende Ehen, aber die gesellschaftliche und politische Gewalt gegen solche Beziehungen dauert an. Die gleiche Gewalt wird auch gegen interreligiöse Liebe und Ehen ausgeübt. Einvernehmliche Liebe zwischen Hindu-Frauen der oberen Kaste und Männern aus den unterdrückten Kasten oder der muslimischen Gemeinschaft wird von den Eltern der Frauen oft als „Vergewaltigung“ kriminalisiert. Das weist enge Parallelen mit der Durchsetzung der Rassentrennung und dem Verbot und der Bestrafung (durch gesetzliche oder außergesetzliche Gewalt) von Liebe und Heirat zwischen den Rassen in den Jim-Crow-Gesetzen bis Mitte der 1960er Jahre in den Südstaaten der USA und in Nazi-Deutschland auf.
Trotz dieser Sachverhalte, verwendet die Linke weiterhin den Begriff „Multipolarität“, ohne das geringste Bewusstsein dafür zu haben, wie Faschist:innen und Autoritäre ihre eigenen Ziele in dieselbe Sprache verkleiden.
Wo Linke auf Rechte treffen
Putins Sprache der „Multipolarität“ bezweckt bei der globalen Linken Anklang zu finden. Ihre beruhigende Vertrautheit scheint die Linke – die stets hervorragende Arbeit geleistet hat, um die Lügen zu entlarven, die den Behauptungen der US-imperialistischen Kriegstreiber:innen über die „Rettung der Demokratie“ zugrunde liegen – daran zu hindern, die gleiche kritische Linse auf Putins antikoloniale und antiimperialistische Rhetorik anzuwenden.
Es ist merkwürdig, dass die Linke sich die Sprache der Polarität zu eigen gemacht hat. Der Diskurs der Polarität gehört zur realistischen Schule der internationalen Beziehungen. Der Realismus sieht die globale Ordnung als Wettbewerb zwischen den außenpolitischen Zielen einer Handvoll „Pole“ – Großmächte oder aufstrebende Großmächte – , von denen angenommen wird, dass sie objektive „nationale Interessen“ widerspiegeln. Der Realismus ist grundsätzlich unvereinbar mit der marxistischen Sichtweise, die davon ausgeht, dass das „nationale Interesse“ keineswegs eine objektive und wertneutrale Tatsache ist, sondern subjektiv durch den „politischen (und damit moralischen) Charakter der Führungsschicht, die außenpolitische Entscheidungen trifft und gestaltet“, definiert wird[19].
So stellt Vijay Prashad, einer der prominentesten Enthusiasten und Befürworter der Multipolarität in der globalen Linken, zustimmend fest, dass „Russland und China nach Souveränität streben, nicht nach Weltmacht“.[20] Er erwähnt nicht, dass diese Mächte Souveränität als Freiheit von der Rechenschaftspflicht gegenüber universellen Standards der Demokratie, der Menschenrechte und der Gleichheit interpretieren.[21]
In einem kürzlich erschienenen Aufsatz wirft der Generalsekretär Communist Party of India (Marxist–Leninist) Liberation, Dipankar Bhattacharya, ähnliche Probleme auf, wenn er die Entscheidung der Partei erklärt, die Solidarität mit der Ukraine mit ihrer Präferenz für Multipolarität und ihrer nationalen Priorität des Widerstands gegen den Faschismus in Indien in Einklang zu bringen.[22] (Offenlegung: Ich war drei Jahrzehnte lang Aktivistin der CPI (ML) und Mitglied ihres Politbüros, bis ich die Partei Anfang dieses Jahres aufgrund der Differenzen verließ, die sich im Zuge der lauwarmen Solidarität der Partei mit der Ukraine zuspitzten.) Bhattacharya schreibt: „Ungeachtet des internen Charakters der konkurrierenden globalen Mächte ist eine multipolare Welt sicherlich vorteilhafter für fortschrittliche Kräfte und Bewegungen weltweit in ihrem Streben nach einer Umkehrung der neoliberalen Politik, nach sozialem Wandel und politischem Fortschritt.“ Um es noch einmal zu sagen: Die CPI (ML) begrüßt den Aufstieg nicht-westlicher Großmächte, selbst wenn sie im Inneren faschistisch oder autoritär sind, weil sie glaubt, dass diese Mächte eine multipolare Herausforderung für die Unipolarität der USA darstellen.
Eine solche linke Formulierung bietet den faschistisch-autoritären Projekten, die sich selbst als Verfechter der antiimperialistischen „Multipolarität“ bezeichnen, keinerlei Widerstand. Vielmehr verschafft sie ihnen einen Mantel der Legitimität.
Bhattacharya sieht die uneingeschränkte Unterstützung des ukrainischen Widerstands als schwer vereinbar mit der „nationalen Priorität“ „gegen den Faschismus in Indien zu kämpfen“. Die Auffassung, dass die Pflichten der Linken in Bezug auf internationale Solidarität ihrer wahrgenommenen „nationalen Priorität“ untergeordnet werden müssen, ist eine Variante von marxistischem Internationalismus, der durch „nationales Interesse“ im Sinne des Realismus getrübt wird. Doch dieses Mal wird dieser nicht nur auf Nationalstaaten, sondern auf die nationalen Linksparteien selbst angewandt.
Wie aber steht die uneingeschränkte Solidarität mit der Ukraine gegen eine faschistische Invasion im Widerspruch zum Kampf gegen den Faschismus in Indien? Bhattacharyas Argumentation ist erzwungen, umständlich und schräg. Er macht einen rätselhaften Umweg über die Notwendigkeit, dass kommunistische Bewegungen sich vor der Gefahr hüten sollten, „die internationale über die nationale Situation zu stellen“. Bhattacharya führt den Fehler der Kommunistischen Partei Indiens von 1942 sich von der Quit-India-Bewegung[23] fernzuhalten, unangemessen darauf zurück, dass sie ihr internationales Engagement für die Niederlage des Faschismus im Zweiten Weltkrieg über ihr nationales Engagement für den Sturz des britischen Kolonialismus stellte. Großbritannien war damals ein Verbündeter im Krieg gegen den Faschismus.[24]
Der einzig plausible Zweck dieser verqueren Erklärung scheint darin zu bestehen, eine Analogie zur aktuellen Lage der indischen Linken im Hinblick auf die Invasion in der Ukraine herzustellen. Da das Regime von Narendra Modi außenpolitisch in erster Linie mit dem US-geführten Westen verbündet ist, würde der Kampf gegen Modis Faschismus geschwächt, wenn Russland, ein “multipolarer” Rivale der USA, durch den ukrainischen Widerstand niedergeworfen würde.
Dieses verworrene Kalkül verdeckt die einfache Tatsache: Eine Niederlage von Putins faschistischer Invasion in der Ukraine würde diejenigen ermutigen, die für den Sieg über Modis Faschismus in Indien kämpfen. Ebenso würde ein Sieg der Menschen, die sich gegen Xis Mehrheitstyrannei wehren, diejenigen ermutigen, die sich gegen Modis Mehrheitstyrannei in Indien wehren.
Um es mit den Worten von Martin Luther King Jr. zu sagen: „Ungerechtigkeit irgendwo ist eine Bedrohung für die Gerechtigkeit überall.“ Wir schwächen unsere eigenen demokratischen Kämpfe, wenn wir uns dafür entscheiden, die Kämpfe anderer durch eine verzerrende „campistische“ [durch geopolitisches Lagerdenken geprägte, Anm. Übers.] Linse betrachten. Wir haben keine Nullsummen-Wahl zwischen Unipolarität und Multipolarität. In jeder Situation haben wir eine klare Wahl: Wir können entweder den Widerstand und das Überleben der Unterdrückten unterstützen – oder wir können uns um das Überleben der Unterdrücker:innen sorgen.
Wenn die Linke die „Pflicht“ auf sich nimmt, das Überleben „multipolarer“ Regime (in Russland, China und für einige Linke sogar im Iran) zu unterstützen, versagt sie in ihrer eigentlichen Pflicht, Menschen zu unterstützen, die gegen den Genozid durch diese Regime kämpfen. Jeder Nutzen, den die USA aus ihrer materiellen oder militärischen Unterstützung solcher Kämpfe ziehen könnten, wird bei weitem durch den Nutzen für das Überleben der Menschen aufgewogen, die andernfalls einem Genozid ausgesetzt wären. Wir tun gut daran, uns daran zu erinnern, dass die materielle und militärische Unterstützung der USA für die UdSSR im Zweiten Weltkrieg zur Niederlage Nazideutschlands beitrug.[25]
Tyrannische Regimes deuten die Unterstützung für Menschen, die sich ihnen widersetzen, als ausländische oder imperialistische „Einmischung“ in die „Souveränität“ ihrer Regime. Wenn wir von der Linken dasselbe tun, tragen wir dazu bei, diese Tyranneien zu ermöglichen und zu rechtfertigen. Diejenigen, die um Leben und Tod kämpfen, brauchen uns, um ihre Autonomie und Souveränität durchzusetzen, um zu entscheiden, welche Art von moralischer/materieller/militärischer Unterstützung sie fordern/akzeptieren/ablehnen. Der moralische Kompass der globalen und indischen Linken muss dringend neu ausgerichtet werden, damit sie ihren katastrophalen Kurs korrigieren kann, der sie dazu bringt, die gleiche Sprache wie die Tyrann:innen zu sprechen.
Dieser Artikel erschien in etwas kürzerer Form zunächst auf Englisch am 20. Dezember 2022 in India Forum. Für die deutschsprachigen Leser:innen erläutert Kavita Krishnan in emanzipation einige Aspekte ausführlicher. Übersetzung von Christian Zeller.
Kavita Krishnan ist eine marxistische feministische Aktivistin und Autorin. Kavita Krishnan war langjähriges Mitglied des Politbüros der Communist Party of India (Marxist-Leninist) Liberation und gehörte über zwei Jahrzehnte lang deren Zentralkomitee an. Sie war auch Herausgeberin von Liberation, der Monatszeitschrift der CPI (ML), und Sekretärin der All India Progressive Women’s Association (AIPWA).
Kavita Krishnan ist eine einflussreiche Aktivistin der Proteste gegen Vergewaltigungen und Gewalt gegen Frauen. Sie stellte 2019 ihre feministischen Perspektiven im weit beachteten Buch Fearless Freedom (furchtlose Freiheit) zur Diskussion.
Nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine trat Kavita Krishnan aus der Partei aus. Ausschlaggebend waren wachsenden Meinungsverschiedenheiten mit der Parteiführung, u.a. in Bezug auf China und den russischen Krieg gegen die Ukraine. Bereits zuvor äußerte sie Kritik an sogenannten sozialistischen Regierungen. Am 1. September 2022 gab Krishnan bekannt, dass die CPI (ML) Liberation sie auf ihren Wunsch hin von allen Parteiämtern und Verantwortlichkeiten entbunden habe. Ihr Austritt aus der CPI (ML) Liberation fand in den großen Medien und dem linken Spektrum Beachtung. Aus der traditionellen Kommunistischen Partei Indiens (CPI) wurde Kavita Krishnan scharf angegriffen.
Die CPI (ML) Liberation ist eine der drei großen kommunistischen Parteien Indiens und ist in den beiden Bundesstaaten Bihar und Jharkhand im Osten Indiens im Parlament und in der Regierung vertreten. Sie stammt aus der maoistischen Tradition.
Wir danken Kavita Krishnan und der Zeitschrift The India Forum für die Möglichkeit diesen wichtigen Beitrag der deutschsprachigen Leser:innenschaft der Diskussion zu unterbreiten. Weitere Artikel von Kavita Krishnan finden sich auf ihrer Linktree-Seite. (Red.)
Referenzen
Bildquelle: emanzipation
[1] Vladimir Putin: Full text of Putin’s speech at annexation ceremony World. Mirage News 1 Oct 2022. https://www.miragenews.com/full-text-of-putins-speech-at-annexation-866383/
[2] Michael Crowley: All of Trump’s Russia Ties, in 7 Charts. Politico Magazine, March/April 2017 https://www.politico.com/magazine/story/2017/03/connections-trump-putin-russia-ties-chart-flynn-page-manafort-sessions-214868/
[3] President of Russia: Joint Statement of the Russian Federation and the People’s Republic of China on the International Relations Entering a New Era and the Global Sustainable Development. Kremlin, February 4, 2022. http://en.kremlin.ru/supplement/5770
[4] Als Farbenrevolutionen werden oft die demokratischen Massenerhebungen in den frühen 2000er Jahren in Jugoslawien (Serbien und Montenegro 2000), Georgien 2003, der Ukraine 2004 und Kirgistan 2005 bezeichnet. Wladimir Putin erklärte mehrfach seine Entschlossenheit, diese „farbigen Revolutionen“ zu bekämpfen. Russlandfreundliche Autor:innen führten die Entstehung dieser demokratischen Bewegungen auf die Finanzierung und Organisationshilfe durch westliche NGOs zurück. [Anm. d. Ü.]
[5] Xi Jinping: 68 Warum ist es notwendig, sich klar gegen die sogenannten “universellen Werte” des Westens zu stellen? September 2, 2021 http://paper.people.com.cn/rmrb/html/2021-09/02/nw.D110000renmrb_20210902_1-05.htm
[6] Simina Mistreanu: 27. November 2022, https://twitter.com/SiminaMistreanu/status/1596912559399268353
[7] NCR: Full Text: Pursuing Common Values of Humanity — China’s Approach to Democracy, Freedom and Human Rights. New China Research, December 7, 2021, 83 p. http://english.www.gov.cn/archive/whitepaper/202112/07/content_WS61af46cdc6d09c94e48a1e49.html
[8] Chinese President Xi Jinping defends Xinjiang detention network, claiming ‘happiness’ is on the rise. ABC News, September 27, 2020 https://www.abc.net.au/news/2020-09-28/chinese-president-xi-jinping-uyghur-xinjiang-correct-happiness/12708930
[9] Islam in China must be Chinese in orientation: President Xi Jinping. Indian Express, July 17, 2022 https://indianexpress.com/article/world/islam-china-chinese-orientation-president-xi-jinping-8033799/
[10] Nationale Freiwilligen Organisation ist eine paramilitärische, rechtsgerichtete nationalistische Hindu-Organisation. Sie ist breit abgestützt und zählte 2014 5-6 Millionen Mitglieder https://en.wikipedia.org/wiki/Rashtriya_Swayamsevak_Sangh [Anm. d. Übers.]
[11] Deeptiman Tiwary: China has now risen, doesn’t care what world thinks of it: RSS chief. The Indian Express December 3, 2020. https://indianexpress.com/article/india/china-has-now-risen-doesnt-care-what-world-thinks-of-it-rss-chief-7078718/
[12] India must save itself from ‘Foreign Destructive Ideology’: PM Modi in Rajya Sabha. The Indian Express February 8, 2021. https://indianexpress.com/article/india/india-must-save-itself-from-foreign-destructive-ideology-pm-modi-in-rajya-sabha-7179445/
[13] Narendra Modi slams ‘selective’ reading of rights issues. The Hindu, October 12, 2021 https://www.thehindu.com/news/national/narendra-modi-slams-selective-reading-of-rights-issues/article36958420.ece
[14] Kavita Krishnan: On Constitution Day, the Modi Government Is Exacting the RSS’s Revenge on Ambedkar. The Wire November 26, 2022. https://thewire.in/rights/constitution-day-modi-rss-ambedkar-democracy
[15] Aleksandr Dugin (1997): Fascism – Borderless and Red. https://www.stephenhicks.org/wp-content/uploads/2022/03/DuginA-Fascism-Borderless-Red.pdf
[16] Alexander Dugin: The Indian moment of multipolarity. India-Seminar, #728: India & China: A critical partnerschip. April 2020 https://www.india-seminar.com/2020/728/728_aleksandr_dugin.htm
[17] Alexander Dugin: The Fourth Political Theory. Eurasian Movement. London: Arktos 2012. 246 pages. https://somacles.files.wordpress.com/2018/07/alexander-dugin-fourth-political-theory.pdf
[18] Alexander Dugin: The Indian moment of multipolarity. India-Seminar, #728: India & China: A critical partnership. April 2020 https://www.india-seminar.com/2020/728/728_aleksandr_dugin.htm
[19] Vanaik, Achin: National Interest: A Flawed Notion. Economic and Political Weekly 41 (49). 9 Dec 2006. https://www.epw.in/journal/2006/49/perspectives/national-interest-flawed-notion.html
[20] Vijay Prashad: Russia and China Are Seeking Sovereignty, Not Global Power. Youtube 19.09.2022 https://www.youtube.com/watch?v=6VpNYxTKcqE
[21] Vladimir Putin: Full text of Putin’s speech at annexation ceremony. October 1, 2022 https://www.miragenews.com/full-text-of-putins-speech-at-annexation-866383/
[22] Dipankar Bhattacharya: On the Current Juncture in India and the International Context. Liberation, September 27, 2022. https://liberation.org.in/liberation-2022-october/current-juncture-india-and-international-context
[23] Die Quit-India-Bewegung war die am 8. August 1942 durch Mohandas Gandhi ausgerufene Massenbewegung in Britisch-Indien, die den vollständigen Rückzug der britischen Kolonialherren aus Indien forderte [Anm. d. Übers.].
[24] Die Position der KPI, die ersten beiden Jahre des Zweiten Weltkriegs als einen Krieg zwischen Imperialisten zu betrachten, entsprach der damaligen Richtlinie der Komintern. Als 1939 der Molotow-Ribbentrop-Pakt zwischen der UdSSR und Nazideutschland unterzeichnet wurde, änderte die Komintern abrupt ihre Linie von 1935, in der die Kommunisten aufgefordert wurden, breite antifaschistische Volksfronten speziell gegen die faschistische Gefahr zu bilden. Jetzt charakterisierte sie den Krieg, den Deutschland begonnen hatte, lediglich als einen Krieg zwischen konkurrierenden imperialistischen Mächten. Die Veränderung der Position der KPI entsprach der Veränderung der Position der Komintern. Erst als Nazi-Deutschland den Pakt brach und in die UdSSR einmarschierte, wurde der Krieg als „Volkskrieg gegen den Faschismus“ bezeichnet. Das Problem der KPI bestand nicht in der Schwierigkeit, den Internationalismus mit ihren nationalen Prioritäten zu verbinden. Vielmehr lag es daran, dass sie sich nicht von einem konsequenten Widerstand gegen Faschismus und Imperialismus leiten ließ, sondern von Stalins prinzipienloser und opportunistischer Haltung gegenüber Nazideutschland und dem Krieg.
[25] Lauren Monsen| Sait Serkan Gurbuz: America sent gear to the USSR to help win World War II. Share America April 29, 2020 https://share.america.gov/america-sent-equipment-to-soviet-union-in-world-war-ii/