Share This Article
Im folgenden Artikel argumentiert Olena Slobodian, Aktivistin der linken ukrainischen Gruppe ‚Sozialnyj Ruch‘, wie und unter welchen Voraussetzungen emanzipatorische Kräfte in der Ukraine einen möglichen EU Beitritt des Landes befürworten könnten. Darüber hinaus setzt sich die Autorin kritisch mit Positionen in der westlichen – vor allem der deutschen – Linken auseinander, die den gesamten Konflikt lediglich aus dem Blickwinkel der Geopolitik betrachten und sich eine Nachkriegs-Ukraine im Falle einer russischen Niederlage gar nicht anders vorstellen können denn als „Nato-Regime“ oder „Neo-Kolonie“.
Der Artikel liest sich als Fortsetzung des ak-Beitrags „Integration in soziale Rechte und höhere Löhne“ der von derselben Autorin stammt und sich ebenfalls mit einem möglichen Beitritt der Ukraine in die EU auseinandersetzt.
Die Fragen des Wiederaufbaus der Ukraine nach einem Ende des Krieges und damit der möglichen Integration in die EU werden derzeit immer wichtiger. Während die EU-Integration in der Ukraine seit langem als strategisches politisches Ziel angesehen wird, wird das in einigen europäischen Ländern anders wahrgenommen.
Die potenziellen negativen Folgen eines EU-Beitritts sind bekannt: – neoliberale EU-Politik, strukturelle Ungleichheiten zwischen verschiedenen europäischen Regionen usw. All dies ist nicht neu – die Integrationserfahrungen anderer mittel- und osteuropäischer oder Balkanländer können zum Vergleich herangezogen werden. Im Falle der Ukraine ist jedoch offensichtlich, dass das Land in jedem Fall auf die materielle Hilfe der EU für den Wiederaufbau nach dem Krieg angewiesen sein wird. Darüber hinaus wurde der Ukraine im Juni der Status einer EU-Beitrittskandidatin zuerkannt, was den eingeschlagenen politischen Kurs auch formell noch einmal bestätigte. Selbst wenn der Integrationsprozess ähnlich langwierig wie in den letzten acht Jahren sein wird, wäre die Ukraine in jedem Fall gezwungen, de facto eng mit der EU zusammenzuarbeiten. Diese Erkenntnis ist entscheidend, will man die Situation in der Ukraine konstruktiv analysieren .
Wie in meinem Artikel in der Zeitschrift analyse & kritik – in dem auch die Vor- und Nachteile einer möglichen europäischen Integration erörtert werden – ausführlicher beschrieben, ist der ukrainische Mainstream, in Rhetorik und Praxis extrem neoliberal. Seit Beginn des Krieges wurden mehrere Gesetze erlassen, die die Arbeiter:innenrechte stark einschränken:
– Das Gesetz Nr. 7251 erlaubt es den Unternehmer:innen, Löhne auszusetzen und Entlassungen vorzunehmen, wenn die Arbeiter:innen zum Militärdienst eingezogen werden oder wenn das Eigentum des Unternehmens infolge des Krieges beschädigt wird.
– Mit dem Gesetz Nr. 5161 werden “Null-Stunden-Verträge” eingeführt, mit denen der Mindestlohn faktisch abgeschafft wird.
– Das Gesetz Nr. 5371 sieht die Abschaffung der Arbeitsschutznormen für Beschäftigte kleiner und mittlerer Unternehmen vor, wobei die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung besteht. Dies kann die Lohnabhängigen dazu zwingen, selbst auf ihre Rechte zu verzichten.
– Die Gesetze 5161 und 5371 erlauben es Unternehmer:innen außerdem, zusätzliche Kündigungsgründe in den Arbeitsvertrag aufzunehmen. Sie öffnen potenziell Tür und Tor für den Missbrauch der Kapitalmacht, wovon besonders schutzbedürftige Gruppen betroffen sein können.
Diese Gesetze verstoßen sogar gegen Artikel 22 der ukrainischen Verfassung (bei der Änderung bestehender Gesetze dürfen Inhalt und Umfang bestehender Rechte und Freiheiten nicht eingeschränkt werden) und Artikel 291 des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine. Diese hatten zumindest theoretisch vorgesehen, dass Handelserleichterungen zu Vollbeschäftigung und menschenwürdiger Arbeit für alle führen sollen.
Auch wenn einige der gerade beschriebenen Gesetze nur während des Kriegszustands gelten sollen ist ihre Aufhebung nicht garantiert. Vor allem in einer Situation, in der neoliberale politische Eliten auf der einen Seite und eine Zivilgesellschaft, die im Kampf für soziale Rechte sehr passiv ist, auf der anderen Seite stehen, erscheint dies zweifelhaft. Wahrscheinlicher ist, dass viele Lohnabhängige die jetzt an der Front kämpfen zurückkehren und mit viel schlechteren Bedingungen als vor dem Krieg zu kämpfen haben. Infolgedessen ist mit einer Politisierungswelle zu rechnen, die jedoch nicht unbedingt zugunsten der Linken ausfallen müsste, da diese bisher marginal ist. Natürlich gab es schon früher viel Kritik an der sozialen Ungleichheit und dem niedrigen Lebensstandard in der Ukraine. Sie wurde jedoch kaum von der Linken dominiert und in eine politische Mobilisierung gemünzt, sondern existierte vielmehr als eigenständiger Teil des politischen Diskurses, mit dem Populist:innen unterschiedlicher Couleur spielen, wenn es für sie von Vorteil ist. Bei den Lohnabhängigen ein Verständnis für die Notwendigkeit zu schaffen, für die eigenen sozialen Rechte zu kämpfen, erfordert eine langwierige, systematische und oft undankbare Arbeit, die derzeit nur von einzelnen Akteur:innen wie etwa ‘Sozialnyj Ruch’, geleistet wird. Die Nachkriegskonstellation wird für die Linke schwierig genug sein. Es wäre unklug und unproduktiv, auf eine radikale Neuausrichtung der Außenpolitik zu setzen. Eine viel bessere Strategie wäre es, die neuen Chancen und Herausforderungen produktiv zu nutzen. Dafür gilt es schon jetzt sozial gerechte Vorschläge für den Wiederaufbau vorzubereiten.
Projektionen in der deutschen Linken
Der linke Diskurs in Deutschland geht zumeist nicht auf die Details einzelner Gesetze und spezifischer politischer Möglichkeiten in der Ukraine ein. Die ‘Debatte’ dreht sich fast ausschließlich um oberflächliche Ideologie und vermeintliche Rollenverteilung: ist es ein Stellvertreter:innenkrieg? Welche Rolle spielt die NATO? … Der Hintergrund ist klar, denn aus deutscher Sicht ist der Krieg gegen die Ukraine eine außenpolitische Frage. Andererseits werden solche ‘Debatten’ von Leuten geführt die vorgeben, sich intensiv mit der Materie auseinandergesetzt zu haben. Leider vertreten sie dann radikale Meinungen über ein Land, das sie nicht wirklich kennen und für das sie sich allem Anschein nach auch nicht wirklich interessieren. Bei der Frage eines möglichen EU-Beitritts wird dies einmal mehr deutlich. Es geht den Kritiker:nnen gar nicht darum die Folgen für die Menschen in der Ukraine zu verstehen, sondern darum, sie als ‘Teil eines größeren Ganzen’ erscheinen zu lassen. Konkrete Auswirkungen für die Menschen sind dann schnell Nebensache. Es geht also nicht darum, welche Folgen die Integration beispielsweise für die Rechte der Lohnabhängigen in der Ukraine haben wird, sondern ausschließlich darum zu beweisen, dass die Ukraine ein ‘Proxy’ ist, der nun Teil des ‘westlichen Blocks’ werden soll.
In der ‘Debatte’ wurden zuletzt Begriffe wie ‘Kolonie’ verwendet, als ob Deutschland nicht selbst eines der einflussreichsten Länder in der EU wäre!? Die realen Abhängigkeiten und Einflussmöglichkeiten auf die ukrainische Politik, die sich im Zusammenhang mit einem EU-Beitritt ergeben würden, bedürfen einer gründlichen Recherche und systematischer Arbeit. In der bisherigen Auseinandersetzung innerhalb der deutschen Linken geht es jedoch zumeist um die eigene Positionierung. Klischees und Emotionalisierung zählen hier mehr als tatsächliche Entwicklungen vor Ort. Das Ausmaß des ‘Kolonialismus’ etwa wird von den Akteur:innen abhängen, die dann die tatsächliche politische Macht haben und dem Widerstand mit dem sie sich gegebenenfalls auseinandersetzen müssen: Wird die Ukraine wieder als Land für billige Arbeitskräfte genutzt werden? Wird die Ukraine fair behandelt oder wird sie auf die Rolle eines kontrollierten Agrarlandes reduziert? Wird sie – je nachdem, was mit dem russischen Regime geschieht -, weiterhin als Schutzschild für die EU dienen? Diese Fragen sind von allerhöchster Relevanz und viel wichtiger als allgemeine ideologische Erzählungen über die NATO und ihre Verschwörungen gegen Russland. Die Beeinflussung potentieller Ungleichheiten in der EU erfordert strategisches Denken, Kenntnisse der institutionellen Spielregeln und der realen und konkreten Machtverhältnisse, nicht aber moralisierende und oberflächliche historische Vergleiche.
Nebenbei bemerkt entsteht in diesem Zusammenhang der Eindruck das die deutsche Linke nicht nur deshalb so wenig zu bieten hat, weil die Menschen in der Ukraine für sie eigentlich irrelevant sind, sondern auch, weil sie sich in ihrer eigenen gesellschaftlichen Randposition gut eingerichtet hat. Die großen Erzählungen von Geopolitik und ‘Kolonisierung’ sind für die marginalisierte Linke im Westen ein gutes Alibi um zu verdecken, wie viel unangenehme Arbeit sie eigentlich leisten müsste, um selber wieder relevant zu werden. Das Ergebnis ist eine Situation, in der Linke, die den Komfort eines der reichsten Länder der Welt genießen, ihre eigene, selbst geschaffene politische Situation nicht angehen, gleichzeitig einem angegriffenen peripheren Land nahelegen, es solle die Besetzung akzeptieren. Die sozialen Bedingungen andernorts fallen dabei komplett unter den Tisch: Deutschen Kritiker:innen kommt es nicht in den Sinn sich zu fragen was systematisch verweigerte Lohnzahlungen in einem Land wie der Ukraine eigentlich bedeuten. Oder was es bedeutet sich – wie immerhin ein Drittel aller Beschäftigten – in einer Schattenwirtschaft ohne jegliche soziale Garantien durchschlagen zu müssen. In Deutschland muss man nicht mit Kleinkorruption rechnen, man muss sich nicht nur auf sich selbst und die eigenen bescheidenen Ersparnisse verlassen, wenn man in Schwierigkeiten gerät, sondern kann auf den sozialen Schutz des Staates zählen. Viele Menschen in der Ukraine dagegen konnten sich schon vor dem Krieg nur auf das eigene Überleben konzentrieren. All dies führt zu einer anderen Subjektivität, die weniger krisenresilient ist, gleichzeitig aber auch Möglichkeiten für politische Partizipation schafft. Wie die bisherige ‘Debatte’ zeigt, scheint es unwahrscheinlich, dass die westliche Linke aus ihren Privilegien lernt. Wenn es noch ein ernsthaftes Interesse an der Ukraine oder auch an anderen peripheren Ländern gäbe, müsste zunächst diese Arroganz überwunden werden.
Erwähnenswert ist auch jener Teil der Linken, der glaubt, dass anti-ukrainische Positionen nur von einer lautstarken Minderheit geäußert werden und daher überhaupt nicht diskutiert werden müssen. Das Problem ist jedoch, dass diese Minderheiten oft ihre eigenen Parteien und Organisationen haben, im Gegensatz zu den oft isolierten Linken, die sich solidarisch mit den Menschen in der Ukraine zeigen. Außerdem sollte nach acht Monaten Krieg klar geworden sein, wie wichtig die mediale Darstellung Seite des Krieges ist – ‘laute Minderheiten’ können mehr Einfluss erlangen als die schweigende und häufig verstreute Mehrheit. Deshalb ist mehr Koordination und Organisation notwendig, sonst wird die linke Reaktion auf den Krieg gegen die Ukraine weiterhin von anti-ukrainischen Stimmen dominiert werden.
Die Rolle der Ukraine in der deutschen Debatte
Für eine sachliche und fruchtbare Debatte über die Rolle Deutschlands sollte man sich mit den Problemen beschäftigen, die der Krieg sichtbar gemacht hat. Warum steht der deutsche Korporatismus, der oft an Korruption grenzt, nicht im Mittelpunkt der linken Kritik? Warum steht die Frage des mangelnden Einflusses der Zivilgesellschaft auf den unkontrollierten und korrupten Lobbyismus nicht auf der Tagesordnung? Man hört oft, dass die Zurückhaltung der Behörden bei der Lieferung von Waffen nicht der tatsächlichen Stimmung in der Bevölkerung entspricht. Ist das wirklich so? Warum ist die Tatsache, dass jahrzehntelang eine völlig falsche und gefährliche Energiepolitik betrieben wurde, nicht zentral, sondern wird als Kritik an einzelnen Politiker:innen bagatellisiert? Oder das in letzter Zeit immer wiederkehrende Thema der Cybersicherheit und der Anfälligkeit kritischer Infrastrukturen für autoritäre Regime? Diese Themen sind fatalerweise im allgemeinen Diskurs wichtiger als in linken Kreisen.
Eine linke und emanzipatorische Position zur Ukraine muss eigenständig entwickelt werden und darf nicht für Debatten instrumentalisiert werden, die eigentlich nur ideologischen und geopolitischen Traditionen entspringen. Obwohl es in Deutschland zahlreiche Organisationen, Vereine und Institutionen gab, die sich mit Osteuropa beschäftigten, hatten deutsche Intellektuelle, vor allem die der Linken, wenig zu bieten. Ja – es gibt Studien und Untersuchungen über die Ukraine – aber oft in Verbindung mit Russland oder nur zu spezifischen Aspekten – die Frage der ukrainischen Subjektivität wurde kaum diskutiert.
Heute entwickelt sich in vielen Ländern, die in der Vergangenheit von Russland angegriffen und kolonisiert wurden – von Mitteleuropa bis Zentralasien – ein dekolonialer Diskurs. Dies geschieht mehr und mehr, unabhängig von der ‘geopolitischen’ Zugehörigkeit der einzelnen Länder – Menschen in EU-Ländern wie Polen oder Litauen verstehen den russischen Kolonialdiskurs genauso wie Menschen in Kirgisistan oder Kasachstan, die zunehmend auf die Türkei oder China angewiesen sind. Und all diese Leute haben sicherlich mehr Sachverstand als die deutsche Linke, die sich nicht mit der Erforschung des russischen Kolonialismus belasten will. Diese Ausgangslage als ein grundsätzliches Problem des gesamten postsowjetischen Raums zu verstehen, ist evident und viel nützlicher als beispielsweise die ständige Suche nach einem ‘versteckten’ Rechtsextremismus in der Ukraine.
Dieser Kontext hilft auch zu verstehen, warum auch aus emanzipatorischer Sicht der EU-Beitritt ein strategisches Ziel für die Ukraine sein kann. Wie im eingangs erwähnten ak-Artikel dargelegt wird, können die europäischen Sozialsysteme und die Achtung der Arbeiter:innenrechte als Modell für die weitere Entwicklung in der Ukraine dienen. Dabei gibt es durchaus bereits vereinzelte euroskeptische Stimmen – so haben viele Flüchtlinge in den EU-Ländern frustrierende Erfahrungen gemacht, beispielsweise aufgrund von Bürokratie, Schwierigkeiten auf dem Wohnungsmarkt oder im Gesundheitssystem. Immer mehr Menschen fragen sich, was an Europa so gut sein soll, wenn es so schwierig ist, auch nur ein kleines Zimmer in Berlin zu mieten oder man monatelang auf einen Facharzttermin warten muss. Interessanter weise wird die medizinische Grundversorgung für die Ukrainer:innen in ihrer Heimat als leichter zugänglich wahrgenommen als in Deutschland. Natürlich sind diese Wahrnehmungen nur zum Teil berechtigt, denn auf grundlegender Ebene sind die europäischen Sozialsysteme deutlich besser als die ukrainischen. Auch werden die Wohnungspolitik und das Gesundheitswesen in der Ukraine zunehmend kommerzialisiert, und der Staat verfolgt eine neoliberale Politik, die keine anderen strategischen Ziele als die Kommerzialisierung selbst verfolgt. In einem separaten Artikel werden diese Unterschiede am Beispiel des Gesundheitswesens analysiert. Die persönliche Erfahrung führt jedoch zu einer gewissen Entmystifizierung Europas in der ukrainischen Gesellschaft. Welche Folgen das haben wird, bleibt offen. Ergreift man die Chance die Fehler des europäischen Neoliberalismus zu vermeiden oder schlägt das Pendel in Richtung Euroskepsis zugunsten des ‘eigenen’ und vertrauten, vermeintlich weniger bürokratischen, Neoliberalismus. Wenn zu den eigenen Erfahrungen und dem weit verbreiteten neoliberalen Diskurs in der Ukraine noch die Arroganz der westlichen Linken hinzukommt, wird der Euroskeptizismus nur noch zunehmen und die neoliberale Politik wird umso leichter zu legitimieren sein.
Bild: A swing bridge frozen in place – which side are you on? – Matthew Henry by Burst