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Am 4. April 2022 hat der Weltklimarat IPCC den dritten und letzten Teil seines sechsten Sachstandsberichts veröffentlicht. Der Weltklimarat hat den Auftrag, den Stand des Wissens zur Klimakrise und ihren Folgen in regelmässigen Abständen zusammenzufassen. Die Berichte sollen den Regierungen weltweit als Grundlage für ihr politisches Handeln dienen. Der sechste Sachstandsbericht besteht aus drei Teilen: Teil 1 (veröffentlicht im August 2021) befasst sich mit den physikalischen Grundlagen, Teil 2 (Februar 2022) mit den Auswirkungen und Teil 3 mit den gesellschaftlichen und technischen Möglichkeiten, die Erderhitzung zu begrenzen. Die Wochenzeitung “Die Zeit” titelt am 2. April 2022 dieser Bericht sei “ein Aufruf zur Revolution”.
Daniel Tanuro (Agrarwissenschaftler, ökosozialistischer Theoretiker und Aktivist der Gauche Anticapitaliste in Belgien) hat auf der Seite International Viewpoint zwei Texte zu den Teilen 2 und 3 veröffentlicht (am 3. März: Impacts of warming faster and more severe than expected says IPCC und am 16. April: IPCC WG3 report: from scientific rigor to social fable). Wir geben im Folgenden eine übersetzte, sprachlich überarbeitete und gekürzte Fassung der beiden Texte wieder (red.).
Der im Februar veröffentlichte Bericht der Arbeitsgruppe II (WG II) des IPCC über die Auswirkungen des Klimawandels ist ein Alarmsignal: Das Ausmass der Katastrophe ist grösser als bislang von den Modellen vorhergesagt wurde, die negativen Auswirkungen werden schneller eintreten und die Risiken werden weiter zunehmen. Vor allem Arme, indigene Völker, Frauen, Kinder und ältere Menschen sind zunehmend gefährdet, besonders in den Ländern des globalen Südens. Die derzeitige Klimapolitik ist unzureichend und führt zu einer Verschärfung der sozialen Ungleichheiten.
Die wichtigsten Ergebnisse: der Status Quo des Desasters
Weltweit verändern sich die Ökosysteme durch den Klimawandel. Bei einigen sind die Grenzen der Anpassungsfähigkeit überschritten (insbesondere in den Polar- und Äquatorregionen); sie werden sich nicht mehr auf natürliche Weise regenerieren können. Einige Extremereignisse übersteigen bereits die für das Ende des Jahrhunderts prognostizierten Durchschnittswerte. Arten verschwinden aufgrund der globalen Erwärmung.
Wald- und Torfbrände, die Trockenlegung von Feuchtgebieten und die Abholzung von Wäldern führen dazu, dass sich einige Kohlenstoffsenken in Kohlenstoffquellen verwandeln (insbesondere der Amazonasregenwald). Die Produktivität der Land- und Forstwirtschaft sowie der Fischerei nimmt weiter ab, dies bedroht die Ernährungssicherheit.
Das Problem der Wasserversorgung ist besorgniserregend. Die Hälfte der Weltbevölkerung leidet bereits mindestens einen Monat im Jahr unter schwerem Wassermangel, eine halbe Milliarde Menschen lebt in Gebieten mit einer zunehmend prekären Wasserversorgung. Schmelzende Gebirgsgletscher verursachen Überschwemmungen oder Wasserknappheit; durch verschmutztes Wasser übertragene Krankheiten betreffen Millionen von Menschen in Asien, Afrika und Mittelamerika.
Die gesundheitlichen Folgen der globalen Erwärmung sind gravierend und verstärken die Ungleichheit. In Ländern, die durch die globale Erwärmung besonders gefährdet sind (hier leben 3,3 Milliarden Menschen), ist die Sterblichkeitsrate aufgrund von Überschwemmungen, Dürren und Stürmen fünfzehnmal höher als anderswo auf der Erde. In einigen Regionen der Welt nähert sich der Hitzestress bereits einem Niveau, das Arbeiten im Freien unmöglich macht. Mehrere mit der globalen Erwärmung zusammenhängende Phänomene (Hitze, Kälte, Staub, Ozonbelastung, Feinstaub, Allergene) führen zu chronischen Erkrankungen der Atemwege. Die Zerstörung natürlicher Lebensräume und die Veränderung der Artenzusammensetzung begünstigen zoonotische Krankheiten.
Der Klimawandel ist zu einem der wichtigsten Gründe für Migration geworden. Seit 2008 sind jedes Jahr um die zwanzig Millionen Menschen gezwungen, aufgrund extremer Wetterereignisse (insbesondere Stürme und Überschwemmungen) ihren angestammten Lebensraum zu verlassen.
Große städtische Ballungsgebiete im globalen Süden sind von den Auswirkungen des Klimawandels besonders betroffen. Auch hier trifft es vor allem die armen Bevölkerungsschichten, die in Randgebieten mit mangelhafter Infrastruktur leben.
Die Prognosen
Die Prognosen sind noch beunruhigender als die Ergebnisse und lassen sich in wenigen Worten zusammenfassen: die Klimakrise führt zu einer weiteren Zunahme der Risiken.
Den Autor:innen zufolge erhöht jede zusätzliche kurzfristige Erwärmung die Risiken für Ökosysteme in allen Regionen: «In terrestrischen Ökosystemen werden 3 bis 14 % der untersuchten Arten bei einer globalen Erwärmung von 1,5 °C wahrscheinlich einem sehr hohen Risiko ausgesetzt sein, auszusterben. Bei 2 °C steigt dieses Risiko auf 3 bis 18 % und bei 3 °C auf 3 bis 29 %….». Extreme Wetterereignisse und andere Stressfaktoren werden an Ausmaß und Häufigkeit zunehmen, wodurch sich der Druck auf die Ökosysteme weiter erhöht und der Verlust von Ökosystemleistungen beschleunigt. Bei einer Erwärmung um 4 °C wird beispielsweise die Häufigkeit von Bränden um 50-70 % zunehmen.
Die negativen Folgen der globalen Erwärmung betreffen alle Arten landwirtschaftlicher Anbausysteme, die Ernährungssicherheit wird sich in vielen Teilen der Welt weiter verschlechtern. Je nach Szenario wird die globale Biomasse der Ozeane im Zeitraum 2080 – 2099 im Vergleich zu 1995 – 2014 um 5,7 % bis 15,5 % abnehmen, und die Zahl der unterernährten Menschen wird bis 2050 um mehrere zehn Millionen ansteigen.
Das Wasserproblem wird besonders akut werden. Nach den mittleren Szenarien werden bis 2100 die Hochgebirgsgletscher in Asien um 50 % zurückgehen. Bei einer Erwärmung um 1,6 °C wird die Zahl der durch Überschwemmungen betroffenen Menschen in Afrika um 200 % steigen (und um 600 % bei 2,6 °C). Bei einer Erwärmung um 2 °C wird die Häufigkeit extremer Dürren im Mittelmeerraum, in Westchina und in den nördlichen Gebieten Nordamerikas und Eurasiens um 150 – 200 % zunehmen. Bei 2,5 °C werden 55 % bis 68 % der kommerziell genutzten Süßwasserfischarten in Afrika vom Aussterben bedroht sein.
Der Anstieg des Meeresspiegels wird immer bedrohlicher: Die Überschwemmungsrisiken in den Küstenregionen werden vor allem nach 2050 zunehmen und auch danach weiter steigen, selbst wenn die Erwärmung deutlich gebremst werden sollte. Das Risiko wird sich bei einem Anstieg von 15 cm um 20 % erhöhen, bei einem Anstieg von 75 cm verdoppeln und bei einem Anstieg von 1,4 m verdreifachen (Anmerkung D. T.: ein solcher Anstieg ist in diesem Jahrhundert wahrscheinlich).
Die gesundheitlichen Folgen werden gravierend sein, verschärft wird dies durch «die schlechte Qualität und den weiteren Abbau der Gesundheitssysteme». Bei einem Szenario mit hohen Emissionen steigt die Zahl der Klimatoten im Jahr 2100 auf 9 Millionen/Jahr. Bei einem mittleren Szenario gehen die Forscher:innen für 2050 von 250.000 klimabedingten Todesfällen pro Jahr aus. Die Zahl der von Unterernährung und Hunger Betroffenen wird vor allem in Afrika, Südasien und Mittelamerika ansteigen. Die Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen wird bis 2030 von 700 Millionen auf bis zu eine Milliarde zunehmen. Die Autor:innen sprechen in diesem Zusammenhang von «sozialen Kipppunkten», die dann überschritten werden könnten. In allen Szenarien werden Teile des Globus, die heute dicht besiedelt sind, von Extremereignissen bedroht sein oder unbewohnbar werden.
Die grössten Herausforderungen
Wie schon in früheren Berichten nennt die WG II die aus ihrer Sicht fünf grössten Herausforderungen («major Reasons for Concern»): 1. Die Gefährdung einzigartiger Ökosysteme, z. B. Korallenriffe und Gebirgslandschaften; 2. extreme Wetterereignisse; 3. die extrem ungleiche Verteilung der Risiken; 4. globale Folgen wie die hohe Zahl der Klimatoten; 5. einzelne großräumige Ereignisse, wie das Abschmelzen von Eisschilden (Antarktis, Grönland) oder die Verlangsamung der ozeanischen Zirkulation (z. B. Golfstrom).
Im Vergleich zum letzten Bericht (IPCC 5th Assessment Report, 2014) ist das Risiko für diese fünf «major Reasons for Concern» (RFC) in allen modellierten Szenarien hoch bis sehr hoch. Bei einem Temperaturanstieg von weniger als 1,5 °C würde das Risiko für RFC 3, 4 und 5 «moderat» bleiben, für RFC 2 ist es bereits hoch, und für RFC 1 steigt es von hoch auf sehr hoch.
Die Wissenschaftler:innen betonen noch einmal, dass eine Überschreitung der im Pariser Abkommen festgehaltenen Erwärmung von 1,5 °C mit schwerwiegenden unumkehrbaren Auswirkungen verbunden sein wird. Darüber hinaus erhöht sich das Risiko, dass große Mengen an gebundenem Kohlenstoff freigesetzt werden (durch Brände, auftauenden Permafrost usw.); dies könnte die Klimakatastrophe weiter beschleunigen.
Erwartungsgemäss liefert der IPCC WG II-Bericht keine politisch wirksame Strategie für den Umgang mit der Katastrophe: Die Grundhaltung ist von guten Absichten und frommen Wünschen nach der Integration aller Betroffenen geprägt. Aber Aktivist:innen der Klimabewegung werden hier zwei Dinge finden, die für ihren Kampf nützlich sind: zum einen eine wissenschaftliche Bestätigung, wie schwerwiegend die Auswirkungen der globalen Erwärmung sind und sein werden und zum anderen eine rigorose Darstellung, wie systemisch ungerecht die aktuelle Klimapolitik ist.
Der Bericht der Arbeitsgruppe III (WG III): Wissenschaftliche Fakten und gesellschaftliches Wunschdenken
Im nachfolgenden zweiten Text fasst Daniel Tanuro die wichtigsten Ergebnisse der WG III (v. a. für Aktivist:innen der Klimabewegung) zusammen. Obwohl er in seinen Schlussfolgerungen kurz darauf eingeht, will er hier nicht die ökosozialistische Kritik am kapitalistischen Produktivismus und seinen desaströsen Folgen wiederholen. Dies, so Tanuro, habe er bereits an anderer Stelle ausführlich getan (siehe z. B. Daniel Tanuro (2015): Klimakrise und Kapitalismus).[1] Diese Analyse werde er (auch auf der Grundlage des Berichts der WG III) in Zukunft weiter vertiefen (red.).
Die Katastrophe verschärft sich
Der Bericht beginnt mit einer kritischen Bestandsaufnahme der aktuellen Klimapolitik: Diese trägt noch immer nicht dazu bei, dass die Treibhausgasemissionen wirksam sinken; im Gegenteil. Die globalen Emissionen aller Treibhausgase zusammengenommen sind im Vergleich zu 2010 um 11 % gestiegen. Ihr Volumen (59 GTCO2eq im Jahr 2018) ist so groß wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Zwischen 2010 und 2018 hat sich der Anstieg lediglich etwas verlangsamt: 1,3 % pro Jahr, gegenüber 2,3 % im vorangegangenen Jahrzehnt.
Die kumulierten Netto-CO2-Emissionen sind nach wie vor die Hauptursache des Klimawandels, dazu gehören auch die Emissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe. Allerdings spielen die Emissionen fluorhaltiger Gase (Gase, die in ihrem Treibhauseffekt hundert- bis tausendmal wirksamer sind als CO2 und von denen einige Tausende von Jahren in der Atmosphäre verbleiben) inzwischen eine bedeutende Rolle bei der Erwärmung. Zwischen 1980 und 2018 haben die Emissionen dieser Gase um 430 % zugenommen, während die CO2-Emissionen «nur» um 66 % gestiegen sind.
Der Anstieg der CO2-Emissionen ist vor allem auf den Energie- und Materialverbrauch aufgrund gestiegener Einkommen zurückzuführen und kann nicht dem Bevölkerungswachstum angelastet werden. Zwischen 2010 und 2018 hat der Anstieg des durchschnittlichen BIP pro Person die fossilen CO2-Emissionen um 2,3 %/Jahr erhöht, während das Bevölkerungswachstum sie nur um 1 %/Jahr ansteigen ließ. Einige Länder haben das Wirtschaftswachstum und die Emissionen erfolgreich entkoppelt, aber in den meisten Fällen ist diese Entkopplung nur relativ, nicht absolut. Die emissionsintensivsten Aktivitäten haben im Jahrzehnt 2010 – 2020 stark zugenommen: +28,5 % im Luftverkehr, +17 % beim Kauf von Geländewagen, +12 % beim Fleischkonsum. Eine teilweise Dekarbonisierung der Energiesysteme ist nur in Nordamerika, Europa und Asien zu beobachten. Weltweit ist die CO2-Intensität pro Energieeinheit in den letzten 30 Jahren unverändert geblieben.
Höhe der Emissionen: Etwas weniger Unterschiede zwischen den Staaten, mehr Unterschiede innerhalb der Staaten
Die Unterschiede der Emissionen im Staatenvergleich sind nach wie vor eklatant, auch wenn sie in den letzten Jahrzehnten leicht abgenommen haben. Die durchschnittlichen Treibhausgasemissionen aller Gase zusammen pro Person lagen 2018 bei 13,1 Tonnen CO2eq in den Industrieländern, 14,7 Tonnen in Osteuropa und Zentralasien, 5,8 Tonnen in Lateinamerika und der Karibik, 5,7 Tonnen im asiatisch-pazifischen Raum und 4,2 Tonnen in Afrika und dem Nahen Osten. Zwischen 2010 und 2018 haben die Industrieländer (17 % der Bevölkerung) 35 % der Treibhausgase ausgestoßen, die am wenigsten entwickelten Länder (LDC, 13 % der Bevölkerung) nur 3 %. Legt man den Verbrauch von Waren und Dienstleistungen in den Industrieländern zugrunde (was auch «graue» Emissionen einschließt, die in Form von anderswo hergestellten Produkten importiert werden), zeigt sich ein leichter Rückgang der «grauen» CO2-Emissionen: von 46 % im Jahr 2010 auf 41 % im Jahr 2015.
Andererseits nimmt die Ungleichheit innerhalb der Länder zu, sowohl in Bezug auf das Einkommen (27 % des Einkommens entfallen auf die reichsten 1 %) als auch in Bezug auf die Emissionen (die reichsten 10 % verursachen 36 – 45 % der weltweiten Emissionen, während der Anteil der ärmsten 10 % bei 3 – 5 % liegt). Zwei Drittel der reichsten 10 % leben in Industrieländern, das verbleibende Drittel in «Schwellenländern»; die ärmsten 10 % leben in Afrika südlich der Sahara, Südostasien, Zentralasien und Lateinamerika.
Die Technik hält nicht, was sie verspricht
Trotz aller politischen Versprechen; die Fakten zeigen eindeutig, dass der technische Fortschritt bislang nicht zu einer Senkung der Treibhausgasemissionen beträgt. Die jährliche Wachstumsrate der Emissionen hat sich im Energiesektor (1,4 % zwischen 2010 und 2018, gegenüber 3,2 % im vorangegangenen Jahrzehnt) und in der Industrie (1,7 % gegenüber 5,0 %) zwar deutlich verlangsamt. Dafür blieb sie im Verkehrssektor nahezu unverändert (rund 2 % pro Jahr). Seit 2010 sind die Kosten in den Bereichen Solarenergie (87 %), Windenergie (38 %) und [Lithium-Ionen-]Batterien (85 %) stark gesunken; Agrotreibstoffe machen 90 % der im Verkehrssektor verwendeten erneuerbaren Energien aus. Diese Erfolge des grünen Kapitalismus führen uns jedoch noch nicht auf den Weg zu «Netto-Null-Emissionen» bis 2050, obwohl dies für die Begrenzung der Erwärmung auf weniger als 1,5 °C unerlässlich wäre.
Darüber hinaus zeigen die jüngsten Ereignisse auf den Energiemärkten, wie volatil diese Entwicklungen sein können (z. B. führt die wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie zu einer Ausweitung der Kohleproduktion in China und einer verstärkten Schiefergasförderung in den USA; ganz zu schweigen von den Auswirkungen, die Putins Krieg in der Ukraine nun auf die Energiemärkte hat). Aus produktionstechnischer Sicht müssten die «grünen» Technologien daher mit der Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (Carbon Capture and Storage, CCS), der Entfernung von Kohlenstoff aus der Atmosphäre (Carbon Dioxide Removal, CDR) und dem weiteren Ausbau der Kernenergie Hand in Hand gehen. Die Entwicklung und der Ausbau dieser Technologien kommt jedoch nicht schnell genug voran, insbesondere wegen öffentlicher Bedenken hinsichtlich ihrer Sicherheit und tatsächlichen Nachhaltigkeit.
Die für 2030 prognostizierten Emissionen sind höher als die von den Regierungen eingegangenen Verpflichtungen zur Emissionsminderung. Allerdings sind allein diese Verpflichtungen unzureichend, wenn es um das Ziel geht, die Erwärmung in diesem Jahrhundert auf unter 1,5 °C zu begrenzen. Die für 2030 prognostizierte Emissionslücke zwischen den national festgelegten Beiträgen und dem Szenario, das eine (nur) 50-prozentige Chance bietet, tatsächlich unter 1,5 °C zu bleiben, beträgt 25 bis 34 Gt CO2-Äquivalent (bei Gesamtemissionen von 59 Gt!).
Um zu ermessen, wie schwierig es ist, diese Lücke zu schließen, ist es wichtig zu wissen, dass allein die bestehende fossile Energieinfrastruktur bis 2030 658 GtCO2 emittieren wird und dass sich dieses Emissionsvolumen auf 846 erhöht, wenn man auch die bereits geplanten neuen fossilen Anlagen mit einbezieht. Diese Schätzungen entsprechen etwa dem Doppelten des Kohlenstoffbudgets, das mit der Einhaltung des 1,5 °C-Grenzwerts vereinbar ist (Anmerkung D. T.: nicht enthalten sind die Emissionen der bereits geplanten Infrastruktur in den Bereichen Industrie, Bauwesen und Verkehr)…
Bei konstanter Auslastung und ohne jegliche Änderung wie z. B. der Nutzung von CCS wird geschätzt, dass die Lebensdauer der bestehenden Kohle- und Gaskraftwerke, die derzeit 39 bzw. 36 Jahre beträgt, auf 9 bzw. 12 Jahre verkürzt werden müsste, um unter 1,5 °C zu bleiben (wenn die bereits geplanten Kraftwerke tatsächlich gebaut werden, muss die Lebensdauer der bestehenden Kraftwerke noch weiter reduziert werden). Diese Fakten reichen aus, um zu ermessen, wie gross der Druck auf die multinationalen Energiekonzerne ist, ihr Geschäftsmodell im Sinne des «grünen Kapitalismus» umzubauen.
System Change?
Ohne wirksame Klimaschutzmaßnahmen wird die durchschnittliche globale Oberflächentemperatur bis zum Jahr 2100 um 3,3 bis 5,4 °C ansteigen. Um unter 1,5 °C zu bleiben, sind rasche Emissionssenkungen und grundlegende strukturelle Veränderungen auf globaler Ebene erforderlich. Den Szenarien zufolge erfordert die Begrenzung der Erwärmung auf unter 2 °C, dass die globalen Emissionen (alle Treibhausgase) «sofort» (zwischen 2020 und 2025) ihren Höhepunkt erreichen. Nur wenige Szenarien zeigen überhaupt noch die Möglichkeit, unter 1,5 °C zu bleiben, ohne dass es zu einer leichten Überschreitung der Temperatur (0,1°C) kommt. In jedem Fall werden die Klimaziele in Zukunft unerreichbar, wenn kurzfristig zu wenig getan wird. Um mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % und einer leichten Überschreitung unter 1,5 °C zu bleiben, sind Emissionssenkungen von 35 – 60 % im Jahr 2030 und 73 – 94 % im Jahr 2050 erforderlich (bezogen auf das modellierte Emissionsniveau im Jahr 2020).
In den Szenarien, die die Erwärmung mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % und einer leichten Überschreitung auf 1,5 °C begrenzen, beträgt das noch verfügbare Kohlenstoffbudget etwa 525 GtCO2 (das Kohlenstoffbudget berücksichtigt nur CO2). Dies bedeutet, dass «Netto Null» bis 2055 erreicht sein muss. Berücksichtigt man alle Treibhausgase, verschiebt sich das Jahr der Nettoneutralität um etwa 12 Jahre (auf 2043).
«Just Degrowth»…
Zum ersten Mal greift der IPCC in einigen Szenarien auch Forschungsergebnisse auf, die ausdrücklich für einen Bruch mit den kapitalistischen Zwängen des «immer mehr» plädieren. Thematisiert werden auch Möglichkeiten, Energie zu sparen; es ist von Suffizienz die Rede – also davon, Bedürfnisse zu begrenzen, statt sie immer grösser werden zu lassen – und von Verhaltensänderungen wie beispielsweise weniger Fleischkonsum. Dazu hat der IPCC den Begriff des «würdevollen Lebens» aufgenommen. Anstatt wie bislang die Reduktion der materiellen Armut und Umweltschutz als Gegensätze zu betrachten, wird nun versucht, sie zusammen zu denken. Die Gesamtausrichtung des Berichts bleibt allerdings eindeutig auf die Bedürfnisse der kapitalistischen Akkumulation ausgerichtet (als ob dies ein Naturgesetz wäre).
… oder Rückgriff auf Technologien mit negativen Emissionen
Im Hinblick auf diese Akkumulationszwänge entwickelt der IPCC-Bericht das gefährliche Szenario des «Locking-in» in der Nutzung fossiler Brennstoffe wesentlich weiter. Er sieht – zu Recht! – die große Gefahr, dass die notwendigen Maßnahmen unter dem Druck der «etablierten Interessen» über das Jahrzehnt 2020 – 2030 hinaus verschoben werden.
Negative Emissionstechnologien (NETs) wären eine Möglichkeit, um das verfügbare Kohlenstoffbudget zu erhöhen, die «Netto-Null»-Frist hinauszuschieben und damit die Gefahr zu verringern, dass die fossilen Energiekonzerne eine massive Kapitalentwertung in Kauf nehmen müssen. Der Einsatz dieser Technologien wird daher in den meisten Szenarien, die die Erwärmung auf unter 1,5 °C begrenzen, vorausgesetzt (mit Ausnahme der gerade erwähnten «Just Degrowth»-Szenarien). Für den IPCC dienen diese Technologien vor allem dazu, um die Restemissionen in Sektoren auszugleichen, in denen eine Emissionsminderung schwierig sein wird (Luftfahrt, Schifffahrt, Landwirtschaft, Stahl-, Zement-, Chemieproduktion).
Im Vergleich zum fünften Sachstandsbericht ist der IPCC in Bezug auf BECCS (Bioenergie mit Kohlenstoffabscheidung und -speicherung) sehr viel zurückhaltender geworden. Im aktuellen Bericht betonen die Forscher:innen, dass das Reduktionspotenzial von BECCS «abgenommen» habe, dass ihre flächendeckende Einführung gegenteilige Auswirkungen haben könnte und dass mehr wissenschaftliche Forschung zu diesem Thema erforderlich sei. Forschungsbedarf wird auch für andere Technologien angeführt, die von einigen als Königsweg angepriesen werden: direkte Abscheidung von CO2 aus der Luft, das Verpressen von CO2 inbestimmte Gesteinsschichten usw.
Soziale Durchführbarkeit und Wunschdenken
Um das vom IPCC ausgemachte Potenzial für Emissionsminderungen zu nutzen, wobei einzelne Massnahmen gar nicht besonders teuer sein müssen (der IPCC geht von 20 Dollar/Tonne CO2 aus), wären dennoch langfristig hohe Investitionen und kurzfristig tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen notwendig. Dies wirft die Frage nach der gesellschaftlichen Machbarkeit auf. Hier kommt der IPCC zum Ergebnis, dass Solar- und Windenergie, eine politische Steuerung der Nachfrage, bauliche Veränderungen (z. B. eine bessere Dämmung), Energieeffizienz und Elektromobilität auf weniger Widerstand stoßen werden als der Ausbau der Kernkraft und die breite Nutzung negativer Emissionstechnologien.
Zwar ist dieser Bericht des IPCC (genauso wie der Bericht der WG II) deutlich weniger technokratisch und «ökonomistisch» als der vorherige. Wie der WG II-Bericht über Risiko und Anpassung betont auch er die Bedeutung, die der «Klimagerechtigkeit» und der «Beteiligung aller Interessengruppen» im Hinblick auf einen «gerechten Übergang» eingeräumt werden müsse. Auch stellen die Autor:innen fest, dass individuelle Verhaltensänderungen allein nicht ausreichen werden, um die Treibhausgasemissionen deutlich zu reduzieren. Vielmehr betonen sie, dass diese Veränderungen in einen strukturellen, kulturellen und institutionellen Wandel eingebettet sein müssen. Sie heben sogar die Bedeutung von sozialen Bewegungen hervor, die dabei helfen sollen, den gesellschaftlichen Diskurs nachhaltig zu verschieben…
Gleichzeitig ist dieser Bericht (wie auch jener der WG II) von der zutiefst unrealistischen Vorstellung durchzogen, dass es möglich wäre, gegensätzliche gesellschaftliche Interessen zur Rettung des Klimas in einer Art universeller Harmonie zusammenzuführen, ohne das Privateigentum, den Wettbewerb um Marktanteile, die Profit getriebene Produktion und den daraus automatisch folgenden Wachstumszwang auch nur im Geringsten in Frage zu stellen. Die Forscher:innen gehen einfach von der Annahme aus, es würde genügen, wenn sich neue gesellschaftliche Normen durchsetzen. Und dazu soll es ausreichend sein, wenn 10 bis 30 % der Bevölkerung, vor allem die gesellschaftlich sichtbaren, die über die erforderlichen Mittel verfügen, ihre Emissionen reduzieren, auf das Fliegen verzichten, ohne Auto leben, auf Elektromobilität umsteigen und in kohlenstoffarme Unternehmen investieren, um auf diese Weise zu Vorbildern einer neuen Lebensweise zu werden…
Ich bin immer noch fasziniert, wie klar und präzise denkende wissenschaftliche Köpfe sich lieber gegenseitig Märchen erzählen, als die logischen gesellschaftlichen Schlussfolgerungen aus ihren eigenen Analysen zu ziehen…[2]
[1] https://www.neuerispverlag.de/verweis.php?nr=152
[2] Wie eine Gruppe spanischer Wissenschaftler:innen berichtet (Originalpublikation hier: https://ctxt.es/es/20220401/Firmas/39348/ipcc-juan-bordera-cambio-climatico-combustibles-fosiles-decrecimiento.htm, die englische Übersetzung findet sich hier: https://mronline.org/2022/04/27/how-the-corporate-interests-and-political-elites-watered-down-the-worlds-most-important-climate-report/) wurde die für Politiker:innen besonders wichtige Zusammenfassung von WG III in einigen Kernaussagen – wohl aufgrund massiven Lobbydrucks – deutlich abgeschwächt. So ist die im Bericht enthaltene Forderung, dass alle bestehenden Gas- und Kohlekraftwerke in etwa einem Jahrzehnt abgeschaltet werden sollten, vollständig aus der Zusammenfassung verschwunden (Red.).