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Wer hätte im Dezember 2010 gedacht, dass eine zunächst überschaubare Revolte in Tunesien sich bald zu einem Flächenbrand in der gesamten arabischen Welt ausweiten und schließlich sogar die Machtkonfiguration in der Region erschüttern würde? In einer überraschenden Dynamik begannen die Bevölkerungen in nahezu allen Ländern der Region ihre Regierungen herauszufordern und in Frage zu stellen.
Der rasche Fall von Ben Ali in Tunesien ermunterte die Jugend in Ägypten, den verhassten Despoten Hosni Mubarak ebenfalls zum Teufel zu jagen. Nach einem Monat permanenter Demonstrationen und Massenstreiks, die Formen einer breit getragenen urbanen Revolte annahmen, wurde Mubarak ans Rote Meer abgeschoben. Die Armee, die das Land ohnehin steuerte, übernahm auch formell die Macht. Trotz ihrer Unvollständigkeit motivierten diese Siege die Jugend und große Teile der Bevölkerungen in anderen Ländern, ihrerseits für demokratische und soziale Rechte auf die Straße zu gehen. Sogar im unter dichter repressiver Kontrolle stehenden Syrien entwickelte sich eine machtvolle demokratische Bewegung, auf die das Regime seither mit nacktem Terror antwortet. Die revolutionären Bewegungen scheinen wie durch ein System kommunizierender Röhren miteinander verbunden zu sein. Steigt der Pegel der Revolution in einem Land, klettert er sogleich auch an anderen Orten nach oben. Die revolutionären Prozesse sind durch eine ungleiche, aber sehr wohl kombinierte Entwicklung miteinander verbunden. Bemerkenswert ist, dass der Tahrir-Platz in Kairo auch zum Symbol des Widerstandes der Empörten in Madrid, Athen und sogar in Tel Aviv und New York geworden ist. Überall fordern die Menschen elementare demokratische und soziale Rechte. In Ägypten und Tunesien richtet sich das demokratische Aufbegehren der Menschen außerdem gegen die Korruption und die massenhafte Verarmung und damit zugleich gegen die Folgen der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Das erwachte Selbstbewusstsein der Menschen südlich und nördlich des Mittelmeers hat eine über Jahrzehnte gewachsene politische Ordnung zerbrochen. Die Regierungen der USA und der EU bekunden Mühe, sich mit der neuen Situation zurecht zu finden. Ihr oberstes Ziel ist es, mit neuem Personal an der Regierung in den arabischen Ländern die Kontinuität sicherzustellen. Der Fortgang des revolutionären Prozesses begrenzt allerdings ihren Spielraum. Sogar in Libyen ist nicht gesichert, dass die Länder, die militärisch interveniert haben, die Dynamik wirklich in ihrem Sinne steuern können.
Doch auch Teilen der Linken fällt es schwer, den arabischen Aufbruch zu verstehen. Verschiedene Strömungen der Linken in Europa, den USA und vor allem in Lateinamerika begegnen den demokratischen Bewegungen in den arabischen Ländern mit großem Misstrauen oder betrachten sie gar als Gefahr, wenn sie sich gegen angeblich antiimperialistische Regime richten. Hugo Chávez und andere linksnationalistische Kräfte Lateinamerikas haben sich bereits im Frühjahr 2011 auf die Seite Gadhafis gestellt. Chávez bezeichnete im März 2011 Assad als seinen «humanistischen Bruder» (Telesur 2011). Er versicherte Assad auch in jüngster Zeit wiederholt seine Unterstützung bei den Bemühungen, «den Frieden wiederherzustellen» (Amerika21 2011). Chávez meint, Syrien sei von Terroristen infiltriert. Er übernimmt damit die Sprachregelung des Assad-Regimes (Latina Press 2011). Exponenten der Regierungen Boliviens und Ecuadors haben sich weniger deutlich, in der Grundtendenz aber ähnlich geäußert. Zahlreiche Artikel in der Zeitung junge Welt interpretieren die Geschehnisse in der arabischen Welt auf die gleiche Weise. Demnach war der Widerstand gegen Mubarak und Ben Ali zu begrüßen, während die Aufstände gegen Gadhafi und Assad zweifelhaft und von außen gesteuert seien. Diese Strömungen meinen also, Unterdrückung sei akzeptabel, wenn sie von Regimen durchgesetzt wird, die sich einer antiimperialistischen Rhetorik verschrieben haben. Sie sehen die Welt durch die enge Brille des geopolitischen Lagerdenkens, das die Welt in imperialistische Staaten und deren vorübergehende und scheinbare Gegner einteilt.
Diese Haltung hat schwerwiegende Konsequenzen. Das Primat der geopolitischen Lager steht im Widerspruch zur bedingungslosen Solidarität mit den Bevölkerungen, die sich unter großen Opfern gegen Repression zur Wehr setzen. Ausgangspunkt des geopolitischen Lagerdenkens ist ein Pseudoantiimperialismus. Anstatt sich den revolutionären Bewegungen als Partner anzubieten, präsentieren sich diese Teile der Linken Lateinamerikas, der USA und Europas als Unterstützer genau jener Diktaturen, gegen die sich die
Bevölkerungen erheben. Das ist das pure Gegenteil von Internationalismus. Es kann nicht überraschen, dass diese Positionierung zu einem enormen Glaubwürdigkeitsverlust der Linken führt und dazu beiträgt, die historische Krise der sozialistischen und antikapitalistischen Linken zu verschärfen.
Der demokratische Aufbruch in den arabischen Ländern ist mit einem bemerkenswerten Aufschwung von Selbstorganisation und Selbsttätigkeit der arbeitenden Bevölkerung am Arbeitsort und am Wohnort verbunden. Nachbarschaftskomitees zur Selbsthilfe und neue unabhängige Gewerkschaften sind entstanden. In Ägypten, aber auch in Tunesien und in anderen Ländern, beobachten wir Ansätze zur Formierung einer neuen Bewegung der Lohnabhängigen. Dadurch eröffnet sich auch die Chance auf eine neue Organisierung sozialistischer Kräfte. Doch ist keineswegs sicher, ob die kleinen sozialistischen Gruppen in der Region diese Chancen auch ergreifen können. Die Hypothek vergangener Niederlagen wiegt schwer. Die eigene Glaubwürdigkeit leidet weiterhin an den Zerrbildern von Sozialismus, die im 20. Jahrhundert autoritär durchgesetzt wurden, und an der Schwierigkeit, angemessen auf die neue Situation zu reagieren.
Im späten 20. Jahrhundert ging eine Phase der klassischen Arbeiterbewegung zu Ende. Inhalte und Formen der Bewegung sind neu zu bestimmen. Wie anderswo auf der Welt stellt sich in den arabischen Ländern – dank der massenhaften Mobilisierung eines Großteils der lohnabhängigen Bevölkerung nun in zugespitzter und akuter Form – die Frage, ob und wie sozialistische Aktivistinnen und Aktivisten dazu beitragen können, Formen der politischen Vertretung der Klasse der Lohnabhängigen aufzubauen, die in der Lage sind, ihre Klasseninteressen in der politischen Auseinandersetzung wirksam zu vertreten. Damit entstünde eine wirksame Gegenbewegung gegen religiöse, regionale und nationale Spaltungen sowie gegen den reaktionären politischen Islam.
Die neuen, unabhängigen Gewerkschaften sind ein erster Schritt in diese Richtung. Doch es braucht auch neue Parteien der Lohnabhängigen sowie antikapitalistische und sozialistische Organisationen. Das setzt umfassende Lernprozesse voraus, nicht nur bei
den Aktivisten in Ägypten, Tunesien, Libyen, Syrien und anderswo in der arabischen
Welt, sondern auch bei uns.
Für uns stellt sich die Frage: Was können wir von den Erfahrungen der Aufstände lernen? Wie können wir mit diesen Erfahrungen unser theoretisches Fundament erweitern? Wie kann die antikapitalistische und sozialistische Linke in einen partnerschaftlichen Dialog mit den Revolutionären treten, dabei den Schwung der Aufstände internationalisieren und mit dem Widerstand gegen die zunehmend härtere Austeritätspolitik und für ein Europa der Lohnabhängigen verbinden?
Die Beiträge in diesem Heft wollen zum Nachdenken über die Auf- und Umbrüche in den arabischen Ländern ermuntern. Perry Anderson ordnet den demokratischen Aufbruch in den weiteren historischen Kontext ein und arbeitet Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen zeitlich geballten Veränderungsschüben heraus. Joel Beinin analysiert die Anfänge der neuen unabhängigen Gewerkschaften und zeigt, dass die Revolte im Januar 2011 ganz so überraschend nicht kam. Adam Hanieh erklärt, dass der revolutionäre Aufbruch in Ägypten auch eine Folge der neoliberalen Konzepte und der spezifischen Einbindung der ägyptischen Ökonomie in das internationale politisch-ökonomische Regime ist. Gerhard Klas erklärt, wie die Vergabe von Mikrokrediten private Haushalte in hohe Schulden stürzt, statt ihnen eine selbstbestimmte Entwicklungsperspektive zu eröffnen. Wafa Guiga beleuchtet die Teilnahme der Frauen an der revolutionären Bewegung und die Schwierigkeiten, eine feministische Bewegung zu entwickeln. Yacov Ben Efrat hat für das Zentralkomitee der israelisch-palästinensischen ODA-Da’am-Arbeiterpartei im April 2011 einen Text verfasst, der die Auswirkungen des revolutionären Prozesses in den arabischen Ländern für die Arbeiterbewegung und die Linke in Israel und Palästina und für den palästinensischen Befreiungskampf interpretiert. Der Artikel wurde in der Zeitschrift Challenge publiziert. Wir veröffentlichen das Dokument als Diskussionsbeitrag von Linken in Israel. Gilbert Achcar zieht im Gespräch mit Christian Zeller eine Bilanz der ersten Phase der arabischen Revolution und spricht sich für einen Antiimperialismus aus, der die Emanzipation der gesamten arbeitenden Bevölkerung ins Zentrum stellt.
Neben dem Schwerpunktthema enthält das Heft zwei Diskussionsbeiträge. Christoph Jünke und Daniel Kreutzstellen die Dilemmata eines zeitgenössischen Linksreformismus zur Diskussion und benennen die Herausforderungen, die sich durch die Verschiebung der Kräfteverhältnisse stellen. Karin Vogt und Peter Streckeisen antworten auf den Artikel von Gisela Notz in der Ausgabe Nr.1 von Emanzipation. Sie plädieren dafür, die konkreten Bedingungen von Erwerbsarbeit stärker ins Blickfeld zu nehmen.
Zwei Rezensionen runden das Heft ab. Elfi Müller bespricht Oliver Gliechs Studie der ersten und bisher einzigen erfolgreichen Sklavenrevolution der Weltgeschichte in SaintDomingue, dem heutigen Haiti. Paul Danziger stellt die Studie von Heinrich Harbach
über eine mögliche Wirtschaft ohne Markt vor, die die Transformationsbedingungen für ein neues System der gesellschaftlichen Arbeit und die Möglichkeiten der Entwicklung einer Übergangsgesellschaft auslotet.
Literatur
Amerika21 (2011):Venezuela spricht sich für friedliche Lösung in Syrien aus. Amerika21, 20.November.
http://amerika21.de/meldung/2011/11/42265/venezuela-syrien-maduro.
Chávez, Hugo (2011): «Chávez: El imperio está amenazando al gobierno de Siria», Rede von Hugo Chávez
in Telesur. 26. März. www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=O3pl2QmlW5Y.
Latina Press (2011): Venezuela: «Syrien ist von Terroristen infiltriert». Agencia Latina Press, 13. November. http://latina-press.com/news/112556-venezuela-syrien-ist-von-terroristen-infiltriert.