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Der seit über 2 Jahren andauernde Krieg Russlands gegen die Ukraine hat Auswirkungen auf den globalen Agrarrohstoffhandel. Damit betrifft er die Versorgungslage in vielen Ländern ganz konkret. Das Problem besteht jedoch nicht nur in steigenden Lebensmittelpreisen; Konflikte und Kriege, wie sie aktuell in der Ukraine, in Palästina und in vielen weiteren Weltregionen herrschen, beeinträchtigen die landwirtschaftliche Produktion in den betroffenen Staaten massiv. Dabei sind industrialisierte Großbetriebe besonders verletzlich: Sobald Diesel, Mineraldünger, Pflanzenschutzmittel und Saatgut nicht mehr geliefert werden können, kann weder angebaut, noch geerntet werden. Dort, wo gekämpft wird, können keine Felder bestellt werden. Auch fehlt es schnell an vielen notwendigen Arbeitskräften. Bäuerliche Betriebe, die auch ohne externe Inputs produzieren können, bilden, neben internationalen Hilfswerken, dann oft die einzigen Strukturen, die eine Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung noch halbwegs sicherstellen können. Aus diesem Grund gewinnt das von der internationalen Bäuerinnenbewegung Via Campesina geprägte Konzept der Ernährungssouveränität weltweit immer mehr an Bedeutung (Red.).
Infolge des russischen Einmarsches in der Ukraine hat sich die Situation der Ernährungssicherheit weltweit verschlechtert. Die Länder an der Peripherie, die von Lebensmittelimporten aus der Ukraine und Russland abhängig sind, sind nun von Hunger bedroht. Die Ernährungssicherheit wird auch durch die weltweite ökologische Krise beeinflusst, die unvorhersehbare Auswirkungen auf die landwirtschaftlichen Erträge hat. Dies alles zeigt, dass zwischen Krieg, Umwelt, der Versorgung mit Nahrungsmitteln und Ungleichheit, die das globale kapitalistische System hervorbringt, Zusammengänge bestehen. Diese und viele weitere Krisen machen es immer wichtiger, dass wir einen Ausweg aus den bestehenden Abhängigkeitsverhältnissen finden und sie erfordern eine breite Bewegung für Ernährungssouveränität.
Bei der Analyse der Ursachen der weltweiten Nahrungsmittelkrise stellen sich unweigerlich Fragen: wie steht es um das Recht auf Landbesitz und -nutzung, welche Umweltauswirkungen hat das Nahrungsmittelsystem, wie sehen Produktions- und Vertriebsketten aus, wie ist der Konsum und wie ist die Preispolitik für Nahrungsmittel gestaltet.
Im Rahmen der von Commons organisierten 11. Feuerbach-Konferenz: Dialogues of the Peripheries (Dialoge der Peripherien) haben sich Natalia Mamonova, Wissenschaftlerin am Institute for Rural and Regional Research (RURALIS), Norwegen, Serge Harfouch, Landwirt und Aktivist aus dem Libanon, Andrew Bennie, Forscher am Institute for Economic Justice, Südafrika, und Fuad Abu Saif, palästinensischer Menschenrechtsverteidiger und Generaldirektor der Union of Agricultural Work Committees zu diesen Fragen ausgetauscht. Die Diskussion wurde von der Wissenschaftlerin und Künstlerin Iryna Zamuruieva moderiert.
Die ‘stille’ Ernährungssouveränität der Ukraine vor dem Hintergrund des russisch-ukrainischen Krieges
Nach der Definition der internationalen Organisation Via Campesina ist mit Ernährungssouveränität das Recht auf gesunde Lebensmittel gemeint, die im Einklang mit der lokalen Kultur stehen und auf ökologisch nachhaltige Weise angebaut werden. Dabei sollten die Menschen das Recht haben, über die Art und Weise der Produktion, der Verteilung und des Verbrauchs von Lebensmitteln selbst zu bestimmen. Im Gegensatz zur Ernährungssicherheit, die sich nur auf den Zugang zu Nahrungsmitteln bezieht, bedeutet Ernährungssouveränität, dass Nahrungsmittel von lokalen Gemeinschaften selbst produziert und verteilt werden, um die Menschen versorgen zu können. Der Begriff der Ernährungssouveränität ist relativ neu, aber gleichzeitig hat seine Umsetzung in der Praxis eine jahrhundertealte Tradition.
Laut Natalia Mamonova, Wissenschaftlerin am Institute for Rural and Regional Research, ist die Stärkung der Ernährungssouveränität in der Ukraine angesichts des russisch-ukrainischen Krieges eine entscheidende Aufgabe. So verwies sie auf Studien, die zeigen, dass derzeit jeder dritte Haushalt in der Ukraine von Ernährungsunsicherheit betroffen ist, wobei dieser Wert im Osten des Landes noch höher ist.
In der Ukraine ist der Diskurs über Ernährungssouveränität noch kaum bekannt. Gleichzeitig hat das Land im Laufe der letzten Jahrzehnte das entwickelt, was die Forscher:in eine «stille» Ernährungssouveränität nennt: Seit der Spätphase der Sowjetunion versorgen sich viele Dorfbewohner:innen und nicht wenige Bürger:innen selbst. In Krisenzeiten hat dies dazu beigetragen, die Mindestversorgung des Landes mit Nahrungsmitteln zu sichern. Natalia bemerkt dazu:
«Die Selbstversorgung mit Lebensmitteln hat eine lange Geschichte in der ukrainischen Gesellschaft, doch darüber wird nicht diskutiert und es gibt auch keine soziale Mobilisierung dazu. Die Ukrainer:innen betrachten ihre Versorgung und ihre Ernährungsgewohnheiten nicht als ein Grundrecht, und sie engagieren sich nicht in sozialen Bewegungen zu diesen Themen. Es wird nicht als etwas Besonderes angesehen.»
Leider haben die Ereignisse des Euromaidan und das Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU nicht dazu geführt, dass die Rolle der Ernährungssouveränität neu betrachtet und diskutiert wurde. Seit Beginn des umfassenden Krieges mit Russland und den damit verbundenen schwerwiegenden Störungen im Agrarsektor ist das Thema noch sensibler geworden. Beschuss und Minen haben einen Großteil der landwirtschaftlichen Infrastruktur und der Ackerflächen beschädigt und zerstört, wovon insbesondere die auf Getreideexporte spezialisierten landwirtschaftlichen Großbetriebe betroffen sind. Gleichzeitig haben sich die Kleinerzeuger schnell an die neuen Bedingungen angepasst und ihre Nahrungsmittelproduktion neu ausgerichtet, um den Bedarf der lokalen Familien, Gemeinden und des Militärs zu decken.
Die russische Invasion im Jahr 2022 führte zu einer spontanen Solidaritätsbewegung, bei der sich die Menschen gegenseitig halfen und sowohl in den Städten als auch in den Dörfern auf eigene Initiative Getreide anbauten. Es entstand ein alternatives informelles Netzwerk zwischen Lebensmittelerzeuger:innen und Verbraucher:innen, das die dringendsten Bedürfnisse der betroffenen Bevölkerung befriedigte und gleichzeitig die Arbeit der landwirtschaftlichen Kleinerzeuger:innen unterstützte. Weitere Informationen zu diesem Thema gibt es in der Studie von Natalia und ihren Kolleg:innen.
Victory Gardens und ähnliche Initiativen, die sich an vergleichbare Bewegungen im Westen während der beiden Weltkriege anlehnen, helfen den Menschen nicht nur beim Anbau von Feldfrüchten, sondern auch dabei, etwas Sinnvolles und Befriedigendes zu tun und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufrecht zu halten. Solche Projekte könnten der Beginn einer Bewegung für Ernährungssouveränität sein, die sich insbesondere in der Unterstützung von Kleinbauern und -bäuerinnen äußert, die die Bevölkerung mit ökologischen Lebensmitteln versorgen. Laut Natalia Mamonova spielt die kleinbäuerliche Landwirtschaft heute eine Schlüsselrolle in der Lebensmittelversorgung der Ukraine:
«Studien aus der Vorkriegszeit zufolge produzierten die kleinbäuerlichen Betriebe in der Ukraine etwa 95 % der Kartoffeln, 85 % des Gemüses, 85 % des Öls und der Beeren, 75 % der Milch und 35 % des Fleisches der Gesamtproduktion des Landes. Dennoch ignorieren die Behörden oft die wichtige Rolle, die diese Kleinbetriebe für die Ernährungssicherheit des Landes spielen, und geben den großen industriellen, exportorientierten Agrarunternehmen den Vorrang.»
Es sollte betont werden, dass eines der Grundprinzipien der Ernährungssouveränität in der Ukraine mit der Saatgutsouveränität zusammenhängt. Der Krieg hat gezeigt, dass Kleinerzeuger:innen oft mit einem Mangel an Saatgut konfrontiert sind. Das Saatgut, das sie von den Unternehmen, die es herstellen, erhalten, ist patentiert, d. h. es darf nicht mehr selbst vermehrt, sondern muss regelmäßig nachgekauft werden. Monsanto [gehört seit 2018 zu Bayer, Anm. der Red.] ist einer dieser großen Agrarproduzenten. Heute verteilt dieses Unternehmen kostenlos Saatgut an Landwirt:innen, aber Mamonova glaubt, dass diese großzügige Geste ein Versuch ist, den Einflussbereich auszuweiten, indem immer mehr bedürftige Landwirt:innen mit patentiertem Saatgut «geködert» werden. Die großen internationalen Unternehmen nutzen also die aktuelle Situation, um ihren Einfluss und ihre Kontrolle über den Markt zu vergrößern.
Überwindung der Importabhängigkeit durch die Rückkehr zu traditionellen landwirtschaftlichen Praktiken – die libanesische Erfahrung
Die Prozesse, die sich im Libanon von der Unabhängigkeitserklärung 1943 bis in die 1970er Jahre vollzogen, können auch als Aufbau einer «stillen» Ernährungssouveränität bezeichnet werden. In dieser Zeit war das Land überwiegend landwirtschaftlich geprägt, und die Dorfbewohner:innen versorgten sich selbst mit Lebensmitteln. Die rasche Industrialisierung des Landes und die Integration in das globale Wirtschaftssystem in den folgenden Jahren führten dazu, dass die wichtigsten Einrichtungen der landwirtschaftlichen Produktion in den Händen einiger weniger großer exportorientierter Unternehmen und der oligarchischen Elite konzentriert wurden. Da die Bevölkerung des Landes wuchs, wurde der Libanon zunehmend von Lebensmittelimporten abhängig. Laut Serge Harfouch, einem libanesischen Bauern-Aktivisten und Mitbegründer der Bauerninitiative Our Seeds:
«Ab einem bestimmten Punkt importierten wir 90 % unserer Lebensmittel. Bei den Getreideeinfuhren waren wir sowohl von Russland als auch von der Ukraine sehr abhängig. Von den 600.000 Tonnen Getreide, die die Bevölkerung jährlich verbraucht, kamen fast 80 % aus dem Ausland. Die Kluft zwischen dem erforderlichen Produktionsumfang und unseren Möglichkeiten, ihn selbst zu decken, war also extrem groß.»
Die Situation begann sich zwischen 2019 und 2023 zu ändern, als die Idee der Ernährungssouveränität wieder aufkam und sogar zum Mainstream wurde. Laut Serge gab es drei Hauptfaktoren, die dabei eine entscheidende Rolle spielten.
Erstens: Der 17. Oktober 2019 markierte den Beginn einer Revolution im Libanon. Die Gesellschaft stand vor großen Herausforderungen, zu deren Lösung die gesamte Bevölkerung einbezogen wurde. Eine dieser Herausforderungen war der Mangel an Nahrungsmitteln bzw. der fehlende Zugang dazu.
Zum anderen war dieser Zeitraum durch einen wirtschaftlichen Zusammenbruch und eine Abwertung der Landeswährung gekennzeichnet. Vor 2019 waren ein US-Dollar und ein Euro jeweils etwa 1.500 libanesische Pfund wert, während sie heute jeweils mehr als 90.000 Pfund wert sind. Die Währungsabwertung hat gezeigt, wie abhängig das Land von Importen und wie abhängig seine Ernährungssicherheit von externen Faktoren ist.
Drittens ist die Ernährungssicherheit des Landes aufgrund des hybriden oligarchischen Regierungssystems bedroht, bei dem einige wenige Personen fast alle Wirtschaftssektoren kontrollieren. Die Lebensmittelimporte werden beispielsweise vollständig von einem einzigen Unternehmen organisiert. In Zeiten der Instabilität nutzten die Eigentümer:innen der Lebensmittelunternehmen die Situation aus, um Geld zu verdienen, indem sie die staatlichen Subventionen über Gebühr in Anspruch nahmen und mit Preisen spekulierten, die die Bevölkerung belasteten.
All dies hat gezeigt, wie wichtig es für ein Land ist, zumindest eine Grundnahrungsmittelproduktion zu haben, um in Zeiten der Instabilität eine drohende Hungersnot zu verhindern. Die Aufmerksamkeit für das Konzept der Ernährungssouveränität war untrennbar mit dem Wunsch der Menschen nach Autonomie und der Möglichkeit verbunden, ihre Zukunft selbst zu bestimmen. Der Ausbruch der Revolution zeigte, dass die erste Priorität der Menschen darin bestand, die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen, und die zweite Priorität darin, die Nahrungsmittelproduktion und -verteilung neu zu organisieren.
Für den Aufbau der Ernährungssouveränität des Libanon ist der Zugang zu Saatgut noch entscheidender als im Fall der Ukraine. Ähnlich wie in der Ukraine stellen große landwirtschaftliche Betriebe den Landwirt:innen kostenlos patentiertes Saatgut zur Verfügung, verpflichten die Landwirt:innen später aber dazu, dass sie das Saatgut selbst kaufen. Dies hat zur Folge, dass große Konzerne beginnen, den Markt zu beherrschen, während kleine Erzeuger:innen gezwungen sind, für den Zugang zu den Produktionsmitteln, d. h. dem Saatgut selbst, zu zahlen. Dies gilt nicht nur für Hybridsorten, sondern auch für Düngemittel usw. All dies führt dazu, dass die Kleinbauern und -bäuerinnen von Devisen und ausländischen Produktionssystemen abhängig werden und in einen Teufelskreis geraten. Dadurch besteht die Gefahr, dass nur noch ein kleines Stück Land in der Nähe des Wohnorts der Bauern und Bäuerinnen sie vor dem Verhungern rettet.
Für Serge besteht der erste Schritt zur Überwindung dieser Situation in der Schaffung einer für alle frei zugänglichen Saatgutbank mit lokalen Sorten. Eine weitere Priorität besteht darin, der Bevölkerung Zugang zu Informationen über nachhaltige Anbaumethoden und eine nachhaltige Nahrungsmittelproduktion zu verschaffen. Schließlich ist der Zugang zu Land und Wasser von entscheidender Bedeutung.
Der 2016 gegründete Verein Our Seeds (alternativ aus dem Arabischen übersetzt mit Our Roots) hat sich zum Ziel gesetzt, lokale Arten und Sorten, die früher in der Region wuchsen, zurückzubringen. Der Verein importierte Saatgut aus dem Irak und verteilte es an Dorfbewohner:innen, um die Abhängigkeit von Patenten großer Konzerne zu vermeiden. Im Laufe der Zeit entwickelte sich diese Initiative weiter und begann mit der Wiederherstellung traditioneller agrarökologischer Anbauweisen und Verfahren zur Erhaltung der Sorten. Dieser Ansatz hat dazu beigetragen, zahlreiche damit zusammenhängende Probleme zu lösen, darunter die Bodendegradation und die Verschmutzung durch Pestizide und Chemikalien. Um Ernährungssouveränität zu erlangen, müssen die Landwirt:innen über eigenes Saatgut verfügen, das sie auf ihrem eigenen Land anbauen können; sie müssen in der Lage sein, die Produkte unabhängig zu verteilen und die Produktion auszuweiten, so dass sie ein vollständiges Nahrungsmittelproduktionssystem entwickeln können. Serge Harfouch bezeichnete es als eine der zentralen Aufgaben der Aktivist:innen, das Wissen über traditionelle Anbaumethoden wiederzuerlangen:
«Nach der Revolution haben wir erkannt, dass wir Wissen verbreiten müssen. Es hat buchstäblich nur zwei oder drei Generationen gedauert, um das alte Wissen über die Bewirtschaftung des Bodens und die Arbeit mit [lokalen] Pflanzen vollständig zu verlieren. Es war notwendig, dieses Wissen wiederzuerlangen und mit den Menschen zu teilen, und das in einer Zeit, in der in der Gesellschaft ein großes Chaos herrschte.»
Die Aktivist:innen reisten durch das Land auf der Suche nach Dörfern, in denen die Menschen die Traditionen der unabhängigen Saatguterzeugung, der Herstellung von Saatgut und der eigenen Nahrungsmittelproduktion bewahrt hatten. Das erworbene Wissen wurde an die Bevölkerung weitergegeben, um ihre Fähigkeit zur eigenständigen Nahrungsmittelproduktion zu verbessern.
Ernährungssouveränität in Südafrika: Koloniales Erbe, Klimakrise und andere Herausforderungen
Da der afrikanische Kontinent in hohem Maße von Getreideeinfuhren abhängig ist, hat die durch die russische Blockade der ukrainischen Häfen verursachte Nahrungsmittelkrise die Region besonders hart getroffen. Andrew Bennie, ein Forscher für Klimapolitik und gerechte Wirtschaftssysteme in Südafrika, betont die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die drohende Hungersnot in Afrika südlich der Sahara. Dem Forscher zufolge liegt der Hauptgrund für die Krise jedoch in der Struktur der Weltwirtschaft, in die die afrikanischen Länder eingebettet sind und die schon vor dem russisch-ukrainischen Krieg nicht zu ihren Gunsten funktioniert hat.
Das Hauptziel des globalen Lebensmittelhandels ist es, Profite zu erzielen. Infolgedessen erschwert jeder Anstieg der weltweiten Lebensmittelpreise den afrikanischen Ländern die Einfuhr von Agrarerzeugnissen und könnte somit zu einer potenziellen Hungersnot führen. Die afrikanischen Länder sind gezwungen, mehr für Lebensmittel zu bezahlen, während Länder wie die Vereinigten Staaten damit zusätzliche Gewinne machen. Mit anderen Worten: Die Abhängigkeit von Agrarimporten untergräbt die Souveränität der afrikanischen Länder und erhöht die Gefahr von Hungersnöten. Wie kam es dazu, dass afrikanische Länder begannen, einen erheblichen Teil ihrer landwirtschaftlichen Erzeugnisse zu importieren? Wie Andrew Bennie erklärt:
«Man muss verstehen, dass das System der Nahrungsmittelproduktion in den afrikanischen Ländern während der Kolonialzeit geschaffen wurde. Wenn wir also sagen, dass afrikanische Länder ‘unterentwickelt’ sind, müssen wir bedenken, dass dies auf den Kolonialismus zurückzuführen ist.»
Aus diesem Grund ist die Frage der Ernährungssouveränität und der gerechten Verteilung von Lebensmitteln für viele afrikanische Länder wichtiger denn je. Südafrika beispielsweise verfügt über ein recht gut entwickeltes und industrialisiertes System der Nahrungsmittelproduktion, aber aufgrund des Erbes von Apartheid und Kolonialismus sowie der Tatsache, dass die Nahrungsmittelindustrie von einigen wenigen Unternehmen kontrolliert wird, hat ein Viertel der Bevölkerung des Landes keinen Zugang zu Nahrungsmitteln. Südafrika kann zwar genügend Lebensmittel produzieren, um den heimischen Bedarf zu decken, aber der größte Teil der Produktion wird exportiert.
Andererseits ist der Landbesitz in Südafrika ungleich verteilt und hat einen ausgeprägten Klassen- und Rassenbezug. Die Mehrheit der Landwirt:innen im Land sind Weiße, die den Großteil der landwirtschaftlichen Produkte erzeugen. Gleichzeitig haben 2,5 Millionen schwarze Landwirt:innen nur Zugang zu 20 % der Wasserressourcen und sind gezwungen, eine unverhältnismäßig kleine Landfläche zu bewirtschaften. Infolgedessen ist die soziale Ungleichheit in diesem Land eine der größten der Welt. Gleichzeitig ist die Zahl der Landarbeiter:innen, die sich in Gewerkschaften und anderen Organisationen des Landes engagieren, so niedrig wie nie zuvor: Sie beträgt nur 27 %, während es in den 1990er Jahren noch 70 % waren.
Auch die Umweltproblematik ist erwähnenswert. Dem Forscher zufolge «basiert Südafrikas Energieproduktion auf Kohle, was zu erheblichen Auswirkungen auf das Klima führt. Gleichzeitig ist Afrika besonders stark vom Klimawandel betroffen und leidet sehr darunter. In Südafrika beispielsweise erleben wir bereits einen Temperaturanstieg von 4°C, was sehr negative Auswirkungen auf Menschen, Tiere und die Umwelt im Allgemeinen hat.»
Um Ernährungssouveränität zu erreichen und eine Umweltkrise zu verhindern, ist es laut Andrew Bennie entscheidend, sich mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit auseinanderzusetzen. Die südafrikanische Regierung ist bei der Entwicklung von Strategien zur ökologischen Modernisierung des Agrarsektors in erster Linie daran interessiert, die Bedürfnisse des Marktes zu befriedigen, was bedeutet, dass die Regierung soziale Strukturen wie Arbeitsbedingungen, technische Organisation der Arbeit in den Betrieben usw. nicht berücksichtigt. Der Aufbau und die Verbesserung von Verbindungen zwischen den verschiedenen Akteur:innen des Produktionssektors wie Kleinbauern und -bäuerinnen, Arbeitnehmer:innen und Verbraucher:innen von Agrarprodukten kann ein vielversprechender Weg zur Lösung der Nahrungsmittelkrise sein. Die Einbindung eines möglichst breiten Spektrums von Beteiligten am Produktionsprozess in einen Dialog wird dazu beitragen, sich auf Schlüsselaspekte des Systemwandels zu einigen, so dass er allen zugute kommt.
Das Beispiel Südafrika zeigt, dass der Kampf für Ernährungssouveränität in einem breiteren Kontext gesehen werden sollte: dem Kampf für soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung.
Der Kampf für palästinensische Ernährungssouveränität als Widerstand gegen die israelische Besatzung
Der palästinensische Menschenrechtsverteidiger und Direktor der Union of Agricultural Work Committees (UAWC) Fuad Abu Saif sprach über den engen Zusammenhang zwischen Ernährungssicherheit und Ernährungssouveränität für Palästinenser:innen. Für die Palästinenser:innen ist das Erreichen der Ernährungssouveränität gleichbedeutend mit dem Widerstand gegen die Besatzung, während die Ernährungssicherheit in der Regel durch humanitäre Hilfe von außen erreicht wird.
Die Besatzung, die Apartheid und der De-facto-Völkermord an der palästinensischen Bevölkerung durch die israelischen Behörden haben dazu geführt, dass sich die Palästinenser:innen zunehmend Sorgen um ihren Zugang zu Nahrungsmitteln machen. Durch die seit vielen Jahren andauernde Belagerung des Gazastreifens, die in den letzten Monaten des Jahres 2023 zu einem ausgewachsenen Konflikt eskaliert ist, sind nicht nur die Ernährungssicherheit, sondern auch das Leben von Millionen von Palästinenser:innen ständig bedroht. Fouad Abu Saif: «Im Gazastreifen werden Frauen und Kinder bombardiert, Krankenhäuser und Häuser angegriffen und die zivile Infrastruktur absichtlich zerstört. Der israelische Verteidigungsminister hat offiziell erklärt, dass die Versorgung des Gazastreifens mit Wasser, Strom und Lebensmitteln unterbrochen wurde, was bedeutet, dass das Verbot, Hunger als Kriegswaffe einzusetzen, verletzt wird.»
Eine weitere Maßnahme Israels, um die Bewohner:innen des Gazastreifens streng zu kontrollieren, besteht darin, den Palästinenser:innen den Zugang zu landwirtschaftlichen Flächen zu verwehren. Diejenigen Palästinenser:innen, die in den von Israel zum Kriegsgebiet erklärten Gebieten wie dem Gazastreifen leben, haben keinen Zugang zu ihrem Land, dessen Bewirtschaftung verboten ist. Die Zerstörung der Ernährungssicherheit wird als Kriegsmittel eingesetzt: Ohne Zugang zur Nahrungsmittelproduktion gibt es keine Möglichkeit, gegen die Besatzer zu kämpfen.[i]
Die Ernährungssituation im Westjordanland ist jedoch etwas anders als im Gazastreifen. Die dort lebenden Palästinenser:innen haben die Möglichkeit, ihre eigenen Lebensmittel anzubauen, doch die israelischen Behörden versuchen, dies auf jede erdenkliche Weise zu verhindern. Die Behörden errichten dort Siedlungen und Kontrollpunkte und schränken damit die Bewegungsfreiheit im Gebiet ein. Gleichzeitig wird das Land der einheimischen Bevölkerung auf breiter Front zugunsten der Siedler:innen beschlagnahmt.
Die Saatgutsouveränität ist ein wichtiges Instrument, um der zunehmenden Abhängigkeit vom Besatzungsregime entgegenzuwirken. Fouad Abu Saif meint: «Saatgut ist die Grundlage der Ernährungssouveränität, daher sollten wir immer berücksichtigen, ob wir es selbst erzeugen können. Im Jahr 2003 haben wir zum Beispiel im Westjordanland folgende Situation erlebt: Große landwirtschaftliche Unternehmen, die Verbindungen zu Israel hatten, versuchten, das Saatgut der örtlichen Bauern und Bäuerinnen aufzukaufen. Dabei handelte es sich um Saatgut, das vor Ort produziert wurde und einen wichtigen Teil der lokalen landwirtschaftlichen Traditionen darstellte.»
In diesem Zusammenhang war eine der Prioritäten der UAWC die Einrichtung eines Saatgutlagers. Die 2010 begonnenen Arbeiten führten zur Sammlung von mehreren Dutzend Sorten, die an das palästinensische Klima angepasst und für den Anbau in der Region geeignet sind. Dieses Saatgut wird an Landwirt:innen verteilt, damit sie es in ihren Regionen und auf ihren Äckern verwenden können.
Eine weitere Möglichkeit, wie sich das palästinensische Ernährungssystem an das Besatzungsregime angepasst hat, ist die Nutzung von Haus- und Obstgärten durch die Menschen. Obwohl diese Praxis nicht ausreicht, um den gesamten Nahrungsmittelbedarf zu decken, ist sie ein Beispiel für die Basisbewegung, die zum Aufbau der palästinensischen Ernährungssouveränität beiträgt.
Angesichts der Beschränkungen, die die Besatzungsbehörden für den Zugang zu den Wasserressourcen auferlegen, versuchen die Palästinenser:innen, ein System der Nahrungsmittelproduktion aufzubauen, das nicht auf Bewässerung angewiesen ist. Zu diesem Zweck verwenden sie lokales Saatgut, das an das trockene Klima angepasst ist, und bauen Auffangbehälter zum Sammeln von Regenwasser. Aufgrund des Klimawandels verschieben sich jedoch die Winterperioden, und die Niederschläge nehmen ab. Daher sind selbst solche fragilen Methoden der Wasserversorgung nicht mehr möglich.
Besatzung und Krieg, begrenzter Zugang zu Nahrungsmitteln und Ressourcen sind die Realität in Palästina. Die Herstellung von Ernährungssicherheit wird unter diesen Bedingungen zu einer Priorität, und der Aufbau von Ernährungssouveränität ist ein Schlüssel zum weiteren Widerstand gegen das Besatzungsregime. Ein wichtiges Element dieses Kampfes ist ein kooperativer Ansatz für die landwirtschaftliche Produktion, zu dem auch Fouad Abu Saif aufruft. Durch die Nutzung der begrenzten Ressourcen, die unter der Besatzung zur Verfügung stehen, ermöglicht die Zusammenarbeit die Schaffung von solidarischen Netzwerken zwischen den Menschen und die Organisation einer stärker sozial ausgerichteten Produktion von landwirtschaftlichen Gütern.
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Wenn wir über Krieg, die Umwelt, das Recht auf Nahrung und die Notwendigkeit sozialer Gerechtigkeit sprechen, müssen wir diese Themen als miteinander verbunden betrachten. Wie die Beispiele der Ukraine und Palästinas deutlich zeigen, ist die Frage der Ernährungssouveränität auch eine Frage des Kampfes gegen imperialistische Aggressionen und der Schlüssel zum Widerstand gegen die Besatzung.
Aktivistische Bewegungen im Libanon und in Südafrika haben gezeigt, dass der Zugang zu Land und die Möglichkeit, darauf zu arbeiten, mit dem Widerstand gegen die neoliberale Politik, der Förderung der Gleichberechtigung und dem Kampf für Umweltreformen und faire Arbeitsbedingungen verbunden sind.
Der Kampf für gesunde, kulturell geeignete und ökologisch produzierte Lebensmittel ist integraler Bestandteil des umfassenderen Kampfes für ein gerechteres, umwelt- und sozialverträglicheres globales System der Ressourcen-Produktion und -Verteilung. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Solidarität an der Basis und die Zusammenarbeit auf lokaler Ebene gefördert und die Bestrebungen der Menschen zur Befreiung von kolonialer Abhängigkeit unterstützt werden, insbesondere durch die Gewährleistung ihrer Ernährungssouveränität.
Referenzen
Der Artikel wurde ursprünglich auf commons.com.ua, 15.03.2024, publiziert. Übersetzung aus dem Ukrainischen: Anna-Maria Kotlyarova. Deutsche Übersetzung: E. Gelinsky (Red. emanzipation)
Bildquelle: Foto von Fons Heijnsbroek, abstract-art auf Unsplash
[i][Vor dem 7. Oktober 2023 bedeckten Bauernhöfe und Obstplantagen etwa 170 Quadratkilometer oder 47 % der gesamten Landfläche von Gaza. Ende Februar schätzte eine unabhängige Satellitenanalyse von Forensic Architecture (FA) (eine in London ansässige Forschungsgruppe, die staatliche Gewalt untersucht), dass die israelischen Militäraktivitäten mehr als 65 km² oder 38 % dieser Fläche zerstört hatten. Neben den Anbauflächen bildeten mehr als 7.500 Gewächshäuser einen wichtigen Teil der landwirtschaftlichen Infrastruktur des Gebiets. Der FA-Analyse zufolge wurde fast ein Drittel vollständig zerstört, von bis zu 90 % im Norden des Gazastreifens bis zu etwa 40 % um Khan Younis. Samaneh Moafi, die stellvertretende Forschungsdirektorin der FA, beschreibt die Zerstörung als systematisch. «Was zurückbleibt, ist Verwüstung», sagt Moafi. «Ein Gebiet, das nicht mehr bewohnbar ist.» (Quelle: Guardian), Red.]